Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Abschlussveranstaltung des Projekts #anstanddigital

Eine beschauliche Stadt, deren Bürgerinnen und Bürger sich nach und nach in tollwütige Dickhäuter verwandeln: Davon erzählt Eugène Ionesco in seinem berühmten Theaterstück „Die Nashörner“. Erst sind es nur einzelne, die ihre menschliche Gestalt verlieren und alles zertrampeln, was sich ihnen in den Weg stellt. Doch ihr Gebaren erweist sich als ansteckend. Am Ende hat eine Nashornherde die Stadt in Besitz genommen und walzt wutschnaubend die Fundamente zivilisierten Zusammenlebens nieder. So illustriert Ionescos 1959 uraufgeführtes Stück auf groteske Weise, wie einer Gesellschaft die Fähigkeit zur Verständigung abhandenkommt.

Ganz und gar nicht wirklichkeitsfern, sondern – im Gegenteil – erschreckend real wirkt dieses Szenario bisweilen, wenn man auf den Marktplätzen und Flaniermeilen des Internets herumstreift: in sozialen Netzwerken, Blogs und Internetforen. Unangemessene Umgangsformen, die in Verunglimpfungen und Beleidigungen gipfeln, sind hier vielfach an der Tagesordnung. Wie lässt sich das ändern? Was kann jeder, was kann jede einzelne dazu beitragen, dass Meinungsverschiedenheiten auch in virtuellen Räumen zivilisiert ausgetragen werden? Wie schützt man sich vor Ansteckung, wenn Dissens und Empörung in der Hitze des Wortgefechts zu verbalen Entgleisungen und Respektlosigkeit führen? 

Zur Diskussion über solche Fragen und über Umgangsformen im Netz haben die Katholische Akademie in Berlin und der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland im Rahmen des Projekts #anstanddigital eingeladen – zu einem Zeitpunkt übrigens, als noch niemand ahnte, wieviel mehr Zeit im Internet uns die Jahre 2020 und 2021 pandemiebedingt bescheren würden. Das große Interesse und die Beteiligung weit über kirchliche Kreise hinaus zeigen: In puncto „Netiquette“ gibt es enormen Gesprächsbedarf. Diskutiert haben neben Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen auch interessierte Bürgerinnen und Bürgern. Dem Ergebnis – den „11 Geboten“, die heute vorgestellt werden – kann man nur breite Anerkennung wünschen, nicht zuletzt angesichts der zahlreichen Fälle realer Gewalt von Menschen, die sich in virtuellen Räumen radikalisiert haben. Vielen Dank Ihnen, lieber Herr Hake, lieber Herr Dr. Claussen, und allen Beteiligten für Ihr Engagement und Ihren Idealismus! 

Ihre „11 Gebote“ sind Leitplanken für ein menschliches Miteinander und eine demokratische Streitkultur im digitalen Raum. Sie helfen zu verhindern, dass Gereiztheit auf Gleichgültigkeit, dass Respektlosigkeit auf Resignation stößt und die Grenzen des Sagbaren sich dabei immer weiter verschieben. Sie unterstützen Menschen dabei, miteinander im Gespräch zu bleiben und die enormen Chancen zu nutzen, die das Internet für Austausch und Verständigung, für Demokratie und Teilhabe bietet. Deshalb haben wir #anstanddigital als Teil der Digitalisierungsoffensive der BKM mit Mitteln aus dem Bundeskulturetat gefördert. 

Bei Ionesco auf der Bühne, meine Damen und Herren, kann sich am Ende nur ein einziger Stadtbewohner der Verwandlung in ein Nashorn widersetzen. „Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“ Mit diesen Worten des Protagonisten endet das Theaterstück „Die Nashörner“. 

In der Realität des digitalen Zeitalters sind es zum Glück ganz offensichtlich viele, die sich (im Rahmen von #anstanddigital und tagtäglich unterwegs im Netz) um einen sachlichen und konstruktiven Austausch bemühen. Mag das Eintreten für Werte wie Respekt, Fairness und Toleranz in den Weiten des Internets vielleicht auch hier und da wie ein Kampf gegen Windmühlen – und gegen Nashörner! – scheinen: Es ist und bleibt aller Mühe wert. Denn ein lebendiger Diskurs – eine Streitkultur, die diesen Namen verdient – ist das Fundament einer starken Demokratie. 

Wir werden sie verteidigen! Wir kapitulieren nicht!
Das ist die wichtige Botschaft, die von #anstanddigital ausgeht.
In diesem Sinne: Viel Erfolg für die „11 Gebote“!