Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Diskussionsveranstaltung zum 30. Jahrestag der Aufhebung des Schießbefehls an der DDR-Grenze

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Diskussionsveranstaltung zum 30. Jahrestag der Aufhebung des Schießbefehls an der DDR-Grenze

"Zur notwendigen Aufarbeitung der SED-Diktatur gehört aber natürlich - über das Erinnern und Gedenken an die Opfer, über die Auseinandersetzung mit ihren Schicksalen hinaus - auch die umfassende Erforschung der DDR-Geschichte und des SED-Unrechts", erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrem Eingangsstatment zur Diskussionsveranstaltung im Berliner Tränenpalast.

Dienstag, 9. April 2019 in Berlin Tränenpalast

30 Jahre nach der Aufhebung des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze, drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution sind die Spuren des DDR-Grenzregimes nahezu verschwunden: die Mauer, die Zäune, die Wachtürme, die Schussapparate und Minen, das schwere Kriegsgerät und die Maschinengewehre, mit denen etwa 50.000 Mann einen Staat zum Gefängnis für seine Bürgerinnen und Bürger machten und den totalitären Machtanspruch der SED-Diktatur durchzusetzen halfen. Doch die Grausamkeit dieses Grenzregimes lässt sich auch ohne sichtbare Spuren vergegenwärtigen: etwa in den Dienstanweisungen, die Menschen in kalter Technokratensprache im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss freigaben.

Die 1977 für die Grenzregimenter erlassene Dienstverordnung DV 718/0/002 zum "Einsatz der Grenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze“ erteilte in präzisem Verwaltungsdeutsch Instruktionen zur Verfolgung so genannter "Grenzverletzer“ und formuliert unmissverständlich, was dabei erwartet wurde - ich zitiere: "Die Verfolgung hat das Ziel, Grenzverletzer in kürzester Zeit und unter Ausnutzung des Geländes festzunehmen oder zu vernichten.“ Solche Anweisungen zur - Zitat! - "Vernichtung“ von "Grenzverletzern“ finden sich an mehreren Stellen; zusammen mit den Regelungen im DDR-Grenzgesetz und öffentlichen Äußerungen der SED-Führung umschreiben sie jene totalitäre Praxis der Grenzsicherung, die unter dem Stichwort "Schießbefehl“ subsumiert wird und die jeden Traum von Freiheit im Keim ersticken sollte. Wer sich diesen Traum dennoch nicht nehmen ließ, wer sich nicht einschüchtern und abschrecken ließ, bezahlte unter Umständen mit dem Leben - so wie der 15jährige Heiko Runge: Zusammen mit seinem gleichaltrigen Freund Uwe Fleischhauer wagte er am 8. Dezember 1979 im Kreis Wernigerode die Flucht. Gut 100 Meter vor dem Grenzzaun liefen die jugendlichen "Grenzverletzer“ den alarmierten Grenzsoldaten in die Arme. Auf beide wurden, weil sie nicht stehen blieben, insgesamt 51 Schüsse abgefeuert. Uwe Fleischhauer überlebte. Heiko Runge wurde, der Dienstverordnung DV 718/0/002 entsprechend, "vernichtet“. Meine Damen und Herren, jedes einzelne solche Schicksal erzählt von der Unmenschlichkeit der SED-Diktatur und von der Gnadenlosigkeit eines totalitären Regimes; und jede dieser Geschichten findet eine Fortsetzung in weiteren Geschichten von Leid und Unrecht. Denn Familien und Freunde der "Grenzverletzer“ wurden massiv ausgespäht und sahen sich den Schikanen, Repressionen und Zermürbungsstrategien des Staatssicherheitsdienstes ausgesetzt.

Persönlichen Geschichten Gehör zu schenken, individuellen Schicksalen Aufmerksamkeit zu verschaffen und hinter abstrakten Zahlen den einzelnen Menschen sichtbar zu machen - das sind wir den Opfern staatlicher Unterdrückung und Gewalt schuldig, auch und nicht zuletzt jenen, die an der innerdeutschen Grenze für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen. Sowohl für ein würdiges Gedenken als auch für die politische Bildung gerade junger Menschen, für das Lernen aus Diktaturerfahrungen und die Sensibilisierung für den Wert demokratischer Freiheitsrechte, ist die Konfrontation mit den erschütternden Geschichten hinter der leidvollen deutsch-deutschen Teilungsgeschichte unverzichtbar: Denn mehr als ein Überblick im Geschichtsbuch geht die Begegnung mit Zeitzeugen und Zeitzeugnissen unter die Haut, sei es in persönlichen Gesprächen, sei es in Filmen und Büchern, sei es in Dokumentationen und an authentischen Erinnerungsorten.

Zur notwendigen Aufarbeitung der SED-Diktatur gehört aber natürlich - über das Erinnern und Gedenken an die Opfer, über die Auseinandersetzung mit ihren Schicksalen hinaus - auch die umfassende Erforschung der DDR-Geschichte und des SED-Unrechts. Um das Geschehene einordnen zu können, um es politisch, historisch, rechtlich und moralisch bewerten und vergleichen zu können, um seine Ursachen und Folgen benennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen zu können, braucht es eine Erweiterung der Sicht über den Blickwinkel persönlicher Betroffenheit hinaus. Es braucht den nüchternen Blick und die distanzierte Perspektive einer freien, politisch und ökonomisch unabhängigen Wissenschaft, es braucht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich an fachlichen Standards orientieren und die Ergebnisse ihrer Arbeit in der Fachwelt wie auch in der Öffentlichkeit zur Überprüfung und Diskussion stellen. Nationales Gedächtnis und Erinnerungskultur einer Demokratie müssen auf historischen Fakten beruhen. Im Bemühen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, darf kein Raum sein für Geschichtsklitterung und Legendenbildung, für unzulässige Vereinfachungen oder politische Deutungsmonopole. Deshalb fördert und betreut die BKM auf der Grundlage der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes umfassend die wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der SED-Diktatur - beispielsweise durch den BStU, also die Stasiunterlagenbehörde, die Stiftung Aufarbeitung, die Stiftung Berliner Mauer und in weiteren Gedenkstätten und Museen.

Weil auch Wissenschaft - obwohl der Wahrheit verpflichtet - natürlich nicht unfehlbar ist, müssen ihre Quellen und Ergebnisse nachprüfbar und ihre Methoden transparent sein und sich sowohl der Beurteilung durch die Fachwelt als auch der öffentlichen Diskussion stellen. Die von Klaus Schroeder und Jochen Staadt herausgegebene Studie "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an den innerdeutschen Grenze 1949-1989“ hat - finanziell unterstützt von der BKM - mit ihrer systematischen und detailliert auf die Einzelschicksale eingehenden Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der SED-Diktatur geleistet. Sie ist aber in der Fachwelt und in der öffentlichen Diskussion massiv in die Kritik geraten, weil die von den Herausgebern gebildeten Kategorien für unterschiedliche Opfergruppen im Vergleich zu denen in der Studie von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke über die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989 deutlich erweitert wurden. Die im Vorwort zu der Studie vorgenommene Erläuterung dieser Abweichung (- auf die mein Haus gedrängt hatte -) konnte offenbar nicht überzeugen. Darüber hinaus lässt sich über die von Schroeder und Staadt gewählte Kategorisierung insbesondere in der Darstellung einzelner Fälle trefflich streiten: So ist beispielsweise der Selbstmord eines jungen Grenzsoldaten ohne Zweifel traurig und tragisch; ob er aber neben den von Grenzsoldaten ermordeten Fluchtwilligen Erwähnung finden und zu den Opfern des DDR-Grenzregimes zählen darf und sollte, ist zumindest fragwürdig - insbesondere dann, wenn der Suizid nicht, wie im Vorwort suggeriert, eindeutig im Zusammenhang mit den Zumutungen des Dienstes an der Grenze stand. Genauso fragwürdig ist die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen- und spätere DDR-Grenze zu überqueren. Betonen will ich aber auch: Selbst wenn man alle strittigen Opfer abzieht, kommen zu den 138 Toten an der Berliner Mauer mindestens 140 Menschen, die im Vergleichszeitraum zwischen 1961 und 1989 an der innerdeutschen Grenze ihre Leben verloren. Und über ihr Schicksal - das Schicksal etwa von Heiko Runge und Uwe Fleischhauer - wissen wir durch die Studie von Schroeder und Staadt erheblich mehr als zuvor.

Bleibt die Frage, ob es gute, wissenschaftlich fundierte Gründe für die von Schroeder und Staadt gewählten Opferkategorien gibt: Dies abschließend zu beurteilen, ist weder Aufgabe noch Kompetenz der Politik. Forschung und Wissenschaft sind frei - und deshalb muss auch die fachliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen freier Forschung der Wissenschaft überlassen bleiben. Mir ist aber sehr daran gelegen, dass diese Debatte geführt wird, und dass sie öffentlich, transparent und für alle Interessierten nachvollziehbar geführt wird. Deshalb habe ich den 30. Jahrestag der Aufhebung des Schießbefehls zum Anlass genommen, gemeinsam mit Herrn Prof. Hütter zu einer Diskussion über das DDR-Grenzregime und über die von meinem Haus dazu geförderte Studie einzuladen. Dieser Diskussion und damit auch der Kritik Raum zu geben, finde ich nicht nur erinnerungspolitisch - im Sinne einer seriösen, wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung der DDR-Diktatur - enorm wichtig. Es geht mir auch um das Vertrauen in die Wissenschaft. Wenn der falsche Eindruck entstünde, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auf einer wackeligen Basis stehen oder gar auf bestimmten Interessen beruhen, wäre dies Wasser auf den Mühlen populistischer Demokratieverächter, die Misstrauen gegen Politik, Medien und Wissenschaft - die so genannten "Eliten“ - schüren und Fakten als "fake news“ diskreditieren, um ihre Propaganda verbreiten zu können. Transparenz und der offene Umgang mit Kritik schaffen Vertrauen, und auch deshalb bin ich froh, dass sich drei ausgewiesene Fachwissenschaftler bereit erklärt haben, heute Abend - moderiert von Sabine Adler vom Deutschlandradio - aus ihrer jeweiligen fachlichen Sicht Stellung zu nehmen und Argumente auszutauschen:

  • die Soziologin Dr. Maria Nooke, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur und Mitautorin des 2009 erschienenen Bandes über die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989;
  • der Historiker Prof. Dominik Geppert, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam
  • und der Jurist Prof. Georg Nolte, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt Universität Berlin.

Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, Ihre fachliche Expertise öffentlich in die Diskussion einzubringen, verehrte Podiumsgäste! Mich interessiert sehr, wie Sie die Kategorisierung der Opfer und die Trennung zwischen Opfern und Tätern in der Studie von Schroeder und Staadt bewerten. Ich erhoffe mir Zusammenhang auch Antworten auf folgende Fragen:

  • War die Abriegelung der innerdeutschen Grenze 1961 eine so tiefgehende Zäsur, dass eine kategoriale Trennung zwischen den Opfern vor und nach diesem Zeitpunkt in der Arbeit von Schroeder und Staadt geboten gewesen wäre?
  • Wie bewerten Sie die Aufnahme von Selbstmorden unter den Grenzsoldaten in die Gesamtzahl der Todesopfer des DDR-Grenzregimes?
  • Wie ist zu bewerten, dass das Grenzregime der DDR durch junge Wehrpflichtige gestützt wurde, die erst der Schießbefehl zu möglichen Tätern machte?
  • Was drohte demjenigen, der sich dem Schießbefehl verweigerte?
  • Wurde - etwa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg - auch an anderen Staatsgrenzen in Europa geschossen?

Antworten auf diese Fragen erhellen hoffentlich nicht nur die Stärken und Schwächen der Studie und ihre Bedeutung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Darüber hinaus hoffe ich, dass in der Auseinandersetzung mit dem DDR-Grenzregime auch deutlich wird, welch große und zugleich fragile politische Errungenschaft ein Europa der offenen Grenzen ist. Mit dem 30jährigen Jubiläum des Mauerfalls feiern wir im kommenden Herbst einen der glücklichsten Momente deutscher und auch europäischer Geschichte, einen wahren Triumph in der deutschen und europäischen Freiheitstradition: den Triumph der Demokratie über die Diktatur, den Triumph der Freiheit über Unfreiheit und Unterdrückung, den Triumph des Rechtsstaats über staatliche Willkür, den Triumph jener Werte, für die Menschen an der innerdeutschen Grenze ihr Leben riskierten und vielfach verloren und für die Hundertausende im Herbst 1989 in Berlin, Leipzig und anderen Städten der DDR mutig ihre Stimme erhoben. Ich bin überzeugt: Die Auseinandersetzung mit den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts kann helfen, den politischen Gegnern der europäischen Idee entschieden entgegen zu treten, und sie kann auch motivieren, für Freiheit und Demokratie einzustehen. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Wissenschaft und die Arbeit unserer Gedenkeinrichtungen. In diesem Sinne freue ich mich auf eine inspirierende Diskussion!