Eine Lücke in unserem Gedächtnis

Kolonialismus Eine Lücke in unserem Gedächtnis

"Deutschland und Europa müssen sich ihrer Kolonialgeschichte stellen", dies fordern Kulturstaatsministerin Monika Grütters und die Staatsministerin für auswärtige Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Bundesregierung erwarte von Museen und Sammlungen "die Bereitschaft, sich offen der Frage einer Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten zu stellen."

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- Gastbeitrag von Monika Grütters und Michelle Müntefering in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Dezember 2018 -

Über viele Jahrzehnte war die Kolonialgeschichte in Europa, auch in Deutschland, ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur. Viel zu lange wurde das während dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Nun rückt das Thema ins Licht der Öffentlichkeit - das begrüßen wir sehr. In Deutschland wird im Zusammenhang mit dem Humboldt Forum seit einiger Zeit lebhaft und kontrovers über den kulturpolitischen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit diskutiert. Zur Zuspitzung dieser dringend notwendigen Debatte hat auch die Rede beigetragen, die der französische Präsident Emanuel Macron 2017 in Burkina Faso gehalten hat und die in die kürzlich in Paris veröffentlichten Empfehlungen von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr mündete.

Diese Debatte wird auch in Deutschland in Politik, Gesellschaft und den Kultureinrichtungen geführt und zwingt dazu, unbequeme Fragen zu stellen und zu beantworten. Wie können es Museen und Sammlungen rechtfertigen, Objekte aus kolonialen Kontexten in ihren Sammlungen zu haben, deren Verbringung nach Deutschland unserem heutigen Wertesystem widerspricht? Was sagt es über uns aus, wenn zuweilen pauschal unterstellt wird, Kulturgüter würden in ihren Herkunftsländern nicht den Schutz erfahren, der ihnen gebührt? Wir meinen: Es gilt aus der Falle einer allein eurozentrischen Perspektive herauszukommen. Über markante Schritte nachzudenken lohnt sich vor allem deshalb, weil es um nichts weniger geht als um die Identität und Würde der Menschen, die sich auch in ihren Kulturgütern abbildet und sich in ihnen Ausdruck verschafft. Das gilt überall auf der Welt, und auch wir in Deutschland haben einen Teil unserer Kulturgüter deshalb unter gesetzlichen Schutz gestellt. Kulturgüter in ihrem Herkunftsland erzählen Geschichte und Geschichten und leisten zum Selbstverständnis eines Landes und seiner Gesellschaft einen entscheidenden Beitrag. Das gilt für die Vergangenheit und erst recht für die Zukunft.

Die Bundesregierung hat sich mit dem Koalitionsvertrag sehr klar zur Aufarbeitung des Kolonialismus bekannt. Wir stellen uns diesem unrühmlichen Teil unserer Geschichte. Dazu brauchen wir auch in Deutschland weitere kulturpolitische Schritte, um die Wahrnehmung für bisher vernachlässigte Aspekte der deutschen Vergangenheit zu schärfen und unsere Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Diese notwendigen Schritte wollen wir als Staatsministerinnen gemeinsam mit allen Beteiligten gehen. Das wird uns nur gelingen, wenn wir die Vergangenheit kennen und den Willen haben, auch im Sinne des Multilateralismus in einen echten Dialog mit den Herkunftsgesellschaften zu treten und so für eine partnerschaftliche Zukunft zu wirken.

Erstens: Von Museen und Sammlungen erwarten wir die Bereitschaft, sich offen der Frage einer Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten zu stellen. Differenzierung und Klärung der Provenienzen müssen sein, es darf aber nicht der Eindruck einer Verzögerungstaktik entstehen – insbesondere dann, wenn eine Rückgabe gerechtfertigt erscheint. Völlig unstrittig ist, dass geraubte menschliche Gebeine nicht in europäische Depots gehören, sondern in die Hände ihrer Nachfahren. Das wurde bei der Übergabe durch die Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt an Vertreter der namibischen Regierung sowie der Volksgruppen der Nama und Herero Ende August 2018 in Berlin einmal mehr deutlich. Aber auch Rückgaben wie jene der Stiftung Preußischer Kulturbesitz an indigene Gruppen in Alaska oder die für 2019 geplante Rückgabe der Witbooi-Bibel aus dem Linden Museum Stuttgart an Namibia zeigen, dass Lösungen bis hin zu Rückgaben möglich sind. Wir sehen: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Dazu bedarf es des Dialogs der Museen und Kultureinrichtungen mit den Betroffenen.  

Zweitens: Notwendig ist maximale Transparenz. Für Museen und Sammlungen führt kein Weg mehr daran vorbei, bei der Ausstellung von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten deren Herkunftsgeschichte darzustellen. Alle Besucherinnen und Besucher haben das Recht zu erfahren, wie Kult-, Kultur- und Alltagsgegenstände aus kolonialen Kontexten in die Bestände der jeweiligen Häuser gelangt sind. Zu der dringend notwendigen Offenheit gehört es ebenso, dass unsere Kultureinrichtungen kenntlich machen, welche Objekte sie überhaupt in ihrem Besitz haben. Das heißt: Wir müssen unsere Aktivitäten zur Digitalisierung von Beständen und Inventaren deutlich verstärken. Sinnvoll ist eine bundesweite Forschungsdatenbank, in der alle verfügbaren Recherchen frei zugänglich sind. Die Debatte über die historische Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit muss schließlich über die Museen hinausgehen; sie muss weiterreichen als die Diskussionen in den deutschen Feuilletons. Sie gehört in die Hörsäle, in die Schulbücher und ins Fernsehprogramm. Es geht um nicht weniger als darum, eine erinnerungs- und kulturpolitische Gedächtnislücke zu schließen. Auch deshalb ist es wichtig, die Zivilgesellschaft in diesen Diskurs einzubeziehen. Daher regen wir ausdrücklich auch eine Debatte im Deutschen Bundestag über einen Erinnerungsort an koloniales Unrecht in Deutschland an. Denn es geht um eine gesamtstaatliche Verantwortung, der wir uns in der Kulturpolitik mit Aufrichtigkeit, mit Nachdruck und mit größtmöglicher Sensibilität stellen müssen und wollen. Dazu wollen wir mit der Kulturministerkonferenz der Länder im Rahmen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe bis zum kommenden Frühjahr eine gemeinsame politische Position zum Umgang mit Kulturgut aus kolonialen Kontexten erarbeiten.

Drittens: Unverzichtbar ist die internationale Zusammenarbeit in einem Geist der Partnerschaft und der Würde. Im Rahmen der Internationalen Kultur- und Bildungspolitik verfolgen wir das Ziel, die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika zu stärken sowie den Kulturaustausch und den Dialog mit den afrikanischen Partnerinnen und Partnern zu fördern. Als Staatsministerinnen werden wir  Initiativen unserer französischen Partner über einen internationalen Dialog wie beispielsweise die vom französische Präsident Emanuel Macron angekündigte europäisch-afrikanische Konferenz in Paris aufgreifen und uns aktiv daran beteiligen. Denn Afrika in seiner Vielfalt, seiner Kreativität und Jugend, mit all seinen Potentialen, ist der Kontinent der Zukunft. Unsere Kulturpolitik, national und international, soll ein Wegweiser in diese Zukunft sein.

Dabei gilt: Bei allen Gesprächen mit unseren Partnern werden wir nicht mit voreiligen europäischen oder gar deutschen Konzepten arbeiten. Stattdessen haben wir einen Prozess in Gang gesetzt, der einen Dialog mit unseren afrikanischen Partnerinnen und Partnern auf Augenhöhe und darüber konkrete Kooperationen ermöglichen soll. Das Goethe Institut ist ein wichtiger Akteur im Kulturaustausch und bei der Vermittlung und bei der Schaffung von Zugängen zu den Kulturgütern. Unter seiner Koordination laufen derzeit die vom Auswärtigen Amt initiierten „Museumgespräche“ mit zahlreichen Workshops und Seminaren in Kigali, Kinshasa, Ouagadougou, Accra, Johannesburg und Windhuk. Die Ergebnisse sollen in einer Konferenz 2019 in Kinshasa zusammengetragen und mit Diskursen aus anderen Teilen der Welt vernetzt werden, um dann auch zurück nach Deutschland getragen zu werden. Denn es bedarf der Stärkung der Kooperationen zwischen Experten, Kuratoren und Wissenschaftlern. Dazu gehört mehr Austausch auf Arbeitsebene, dazu gehören insbesondere auch Stipendien für deutsche Museumsexperten und Kuratoren in Afrika, Asien und Ozeanien. Die recht jungen Ideen über die Zirkulation von Objekten wollen wir aufgreifen, und zwar im Dialog mit verschiedenen Interessenvertretern. Wir begrüßen und unterstützen auch die Aktivitäten der Benin Dialogue Group, der neben anderen europäischen auch mehrere deutsche Museen angehören. Sie entwickelt in Zusammenarbeit mit Nigeria Pläne, Objekte aus diesem Kontext angemessen auszustellen und zueinander in Beziehung zu setzen - in Afrika wie in Europa.

Viertens: Die Bundesregierung will Wissen und Bewusstsein für die koloniale Vergangenheit Deutschlands und Europas stärken. Eine entscheidende Grundlage dafür ist und bleibt die Provenienzforschung bei Kulturgütern. Dazu wird die Kulturstaatsministerin beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste 2019 ein Programm zur Erforschung von Sammlungsbeständen aus kolonialen Kontexten auflegen. So bekommen Museen in ganz Deutschland Unterstützung bei der Erforschung der Herkunftswege von Objekten, in die sie die Herkunftsstaaten und -gesellschaften einbeziehen. Oftmals ergeben sich im Forschungsprozess bereits Lösungen, die einen Austausch, gemeinsame Projekte oder eine Rückgabe zum Inhalt haben. Um einen ersten Rahmen dafür abzustecken, haben wir den Deutschen Museumsbund bei der Entwicklung von Leitfäden zum Umgang mit menschlichen Überresten (2013) und zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten (seit 2016) unterstützt. Das ist nur der Anfang. Eine durch internationale Expertinnen und Experten ergänzte Fassung soll im kommenden Jahr folgen. Sie wird Impulse auch über Deutschland hinaus setzen. Denn nicht nur der Staat, auch die Kultureinrichtungen tragen Verantwortung im Umgang mit den schwierigen Fragen der Aufarbeitung des Kolonialismus. Gerade bei ihnen ist aber auch der Bedarf an Beratung und Orientierung groß. Deshalb sollten wir über eine Kommission nachdenken, die in schwierigen Fällen Museen und Anspruchsteller berät und konstruktive Lösungen vermittelt.

Tatsächlich sind es enorme historische, moralische und politische Herausforderungen, mit denen uns die Erinnerung an die deutsche und europäische Kolonialgeschichte konfrontiert. Der europäische Kolonialismus hat den betroffenen Gesellschaften einen Teil ihrer Identität geraubt, der unersetzlich ist. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist Teil der Verantwortung Deutschlands und Europas für seine Kolonialgeschichte - und Voraussetzung für Versöhnung, Verständigung und eine gemeinsame, bessere Zukunft.