Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung des Kulturforums Görlitzer Synagoge

Er war der erste Auswanderer der hiesigen jüdischen Gemeinde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten: Der heute weitgehend unbekannte Dichter Paul Mühsam – ein Cousin des von den Nazis ermordeten Schriftstellers Erich Mühsam – floh mit seiner Ehefrau Irma schon 1933 aus Görlitz nach Palästina. Zuvor hatte er nicht nur den Entzug seiner Anwaltserlaubnis erleben müssen, sondern auch die öffentliche Verbrennung seiner Bücher. Über den schweren Herzens getroffenen Entschluss, auszuwandern, schrieb Paul Mühsam später in seinen Lebenserinnerungen, ich zitiere: „Wirtschaftlich sah ich keine Möglichkeit mehr, und seelisch schien mir das Leben in Deutschland durch die erlittenen und noch zu erwartenden Demütigungen, durch die Ausschaltung aus jeder Gemeinschaft und durch die Unterbindung jeder Betätigung im geistigen Leben des Volkes von Tag zu Tag weniger tragbar. (…) Am Nachmittag des 6. September verließen wir Görlitz, wo ich vor beinahe einem Menschenalter mit großen Hoffnungen meine Praxis eröffnet hatte, wo wir (…) in Frieden und Eintracht mit unseren Mitbürgern uns in das Leben einer Mittelstadt mit allem, was es bietet, eingeordnet hatten.“

Vermutlich kam Paul Mühsam in den fast 30 Jahren, in denen Görlitz seine Heimat war, immer wieder auch hierher, in diese imposante jüdische Synagoge, die nach vielen Jahren aufwändiger Sanierung pünktlich zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wieder in neuem Glanz und in alter Schönheit erstrahlt. Sie erinnert an ein blühendes jüdisches Leben in Görlitz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und obwohl sie den nationalsozialistischen Zerstörungsfuror mit vergleichsweise geringen Schäden überstanden hat, vergegenwärtigt sie auch Gewalt und Grausamkeit gegen Jüdinnen und Juden, die systematische Vernichtung jüdischen Lebens und die ihr zugrundeliegende, menschenverachtende, antisemitische Ideologie. Schützens- und erhaltenswert ist die Görlitzer Synagoge als authentischer Ort der Erinnerung an die Geschichte des Judentums in Deutschland wie auch als Teil unseres kulturellen Erbes, dessen Reichtum nicht zuletzt auch dem Wirken jüdischer Bürgerinnen und Bürger und der Lebendigkeit jüdischer Kultur zu verdanken ist. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir – das Bundeskulturressort – ihre Sanierung mit rund 2,8 Millionen Euro unterstützen und auf diese Weise zu ihrem Erhalt als Erinnerungsort wie auch als national bedeutendes Kulturdenkmal beitragen konnten.

Die Schönheit dieses Jugendstil-Baus und die Dauerausstellung, die hier bald ihre Pforten öffnen wird, zeigen jüdisches Leben als inspirierenden Teil deutscher Geschichte und Gegenwart. Das ist ein wichtiger, ein unverzichtbarer Beitrag zur Antisemitismusprävention. Denn wo Menschen wissen, wie stark europäische Kunst und Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft von Jüdinnen und Juden geprägt ist, geht die Saat antisemitischer Hetze nicht (oder jedenfalls nicht so leicht) auf. Dieses Wissen wächst im Angesicht des baukulturellen Erbes, aber auch in der Auseinandersetzung mit dem Erbe jüdischer Dichter und Denker, Dichterinnen und Denkerinnen, Musiker und bildender Künstlerinnen – angesichts der Schönheit der Werke, die sie geschaffen haben und die sie doch vielfach nicht davor bewahrten, von den Nationalsozialisten geächtet, verfolgt, vertrieben und vernichtet zu werden. Deshalb finde ich es, nebenbei bemerkt, auch großartig, dass man in Sachsen nicht nur hier und heute jüdische Musik zu Ohren bekommt. Sie, lieber Herr Hurshell, bringen mit Ihrem Ensemble, der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden, ja regelmäßig Werke jüdischer, von den Nazis verfemter Komponisten zum Klingen.

Viele deutsche Städte sind Jahrzehnte nach der Befreiung der Konzentrationslager wieder Heimat jüdischen Lebens geworden. Dieses Wiederaufblühen jüdischer Kultur ist das größte Geschenk in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Geschenk ist auch das Vertrauen, das Jüdinnen und Juden in Deutschland setzen: das Vertrauen darauf, hier sowohl willkommen als auch sicher zu sein; das Vertrauen darauf, dass jüdisches Leben sich in Deutschland frei entfalten kann. Dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, ist Verantwortung des Staates, der Gesellschaft und jedes, jeder einzelnen in unserem Land. Umso beschämender ist es, welch erschreckendes Ausmaß Hass und Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder angenommen haben! Umso beschämender ist es, dass Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland angesichts antisemitischer Anschläge und Angriffe heute wieder um ihre Sicherheit, ja sogar um ihr Leben fürchten müssen! 

Antisemitismus ist ein Angriff auf Menschlichkeit, Demokratie und damit auf uns alle. Deshalb hat die Bundesregierung ihre Anstrengungen zur Bekämpfung des Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus massiv verstärkt. Auch im Kulturetat des Bundes sind über die Gedenkstättenförderung hinaus zusätzliche Mittel für Projekte zur Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus vorgesehen. Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf die Heranwachsenden: mit historischer und kultureller Bildung, mit verstärkter Aufklärung, mit persönlichen Begegnungen und Lernerfahrungen, was kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede betrifft. Ich freue mich, dass auch im Kulturzentrum Jüdische Synagoge Görlitz Raum für solche Begegnungen und Lernerfahrungen sein wird: mit Veranstaltungen, die in der deutsch-polnischen Doppelstadt Verstehen und Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen und Konfessionen über Gräben und Grenzen hinweg ermöglichen, und mit einer Ausstellung, die die Vielfalt jüdischen Lebens als bereichernden Teil der kulturellen Vielfalt in Deutschland zeigt. Darüber hinaus hoffe ich, dass die Geschichte dieses Ortes auch das Verantwortungsbewusstsein seiner Besucherinnen und Besucher schärft.

Paul Mühsam hat dafür eindringliche Worte gefunden, ich zitiere ihn noch einmal: „Unser tägliches Tun selbst im kleinsten Kreise ist nicht so unwichtig, wie es bisweilen scheinen mag. Wir greifen unablässig in das Weltgeschehen ein, und jeder Gedanke und selbst die geringste Tat ist eine Welle, die an das Ufer der Ewigkeit schlägt.“ In diesem Sinne hoffe ich, dass der Besuch der Görlitzer Synagoge Menschen auch darin bestärkt, aufzustehen gegen Judenhass, wo immer sie ihn erleben, statt sich zurückzuziehen auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf ihre Stimme, auf ihr Handeln nicht ankommt. Das Gegenteil ist richtig: Im Kampf für Menschlichkeit und bei der Verteidigung demokratischer Werte kommt es auf jeden einzelnen, auf jede einzelne an. Möge das neue Kulturzentrum erfolgreich zu diesem Kampf beitragen und damit auf breite gesellschaftliche Resonanz stoßen!