Vor Ort in Perspektiven investieren

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Im Wortlaut: Müller Vor Ort in Perspektiven investieren

Beim Flüchtlingszuzug nach Deutschland sei eine Reduzierung nötig, bekräftigt Entwicklungsminister Müller im Interview. "Die größten Fluchtbewegungen stehen uns noch bevor". Eine faire Verteilung finde nicht statt. Europa brauche einen Flüchtlingskommissar mit entsprechender Administration, der Beschlüsse umsetze.

  • Interview mit Gerd Müller
  • Bild am Sonntag
Gerd Müller, Bundesentwicklungsminister

Müller:" Es geht zunächst darum, die Abwanderung der Flüchtlinge aus der Region nach Europa zu stoppen."

Foto: Michael Gottschalk/photothek.net

BILD AM SONNTAG: Herr Minister, welchen Beitrag leisten Sie zur Lösung der Flüchtlingskrise?

Gerd Müller: Auf längere Sicht den entscheidenden. Die Menschen fliehen vor Hunger, Elend, Gewalt, und weil sie keine Zukunft für sich und ihre Familien sehen. Wir leben aber in einer globalisierten Welt. Wir können keine Zäune um Deutschland und Europa bauen. Wenn die Menschen leiden, werden sie kommen.

Werden noch mehr Menschen flüchten?

Müller: Die größten Fluchtbewegungen stehen uns noch bevor: Afrikas Bevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten verdoppeln. Ein Land wie Ägypten wird auf 100 Millionen Menschen anwachsen, Nigeria auf 400 Millionen. In unserem digitalen Zeitalter mit Internet und Handys wissen alle über unseren Wohlstand und unsere Lebensweise Bescheid. Wir müssen deshalb vor Ort in Bildung, Ausbildung und Perspektiven investieren. In der Sahara sollen bis zu einer Million Menschen auf der Flucht gestorben sein. Das zeigt die ganze Dramatik. Wir brauchen eine vollkommen neue Dimension der internationalen Zusammenarbeit.

Sie haben einen "Marshall-Plan" für Syrien und Irak gefordert. Über welche Summen reden wir da?

Müller: Wir brauchen einen europäischen Wiederaufbaufonds von 10 Milliarden Euro. Diese Summe muss Europa schaffen können. Einzahlen müssen vor allem Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen.

Wiederaufbau? In Syrien herrscht Krieg.

Müller: Ich habe große Hoffnungen, dass es im ersten Halbjahr im Rahmen der Wiener Verhandlungen zu einem Waffenstillstand kommt. Es gibt aber auch heute schon befriedete Gebiete, zum Beispiel im Nordirak. Wir müssen Dörfer und Städte wieder aufbauen, damit die Flüchtlinge jetzt wieder dorthin zurückkehren können.

Sollen auch Flüchtlinge aus Deutschland zurückkehren?

Müller: Es geht zunächst darum, die Abwanderung der Flüchtlinge aus der Region nach Europa zu stoppen. Erst zehn Prozent der in Syrien und Irak ausgelösten Fluchtwelle ist bei uns angekommen. 8 bis 10 Millionen sind noch unterwegs. Die, die jetzt zu uns kommen, saßen bereits seit mehreren Jahren in Zeltstädten, Kellern oder Ziegenställen ohne Wasser und Strom. Es ist beschämend, dass die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, das Überleben vor Ort zu sichern.

Kommt die Türkei ihrem Versprechen nach, den Flüchtlingszuzug zu bremsen?

Müller: Die Türkei leistet Großartiges bei der Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Aber die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit sind erreicht. Deshalb braucht die Türkei unsere Unterstützung. Jetzt müssen die EU-Staaten ihr Versprechen einlösen. Die im November versprochenen drei Milliarden Euro Hilfe stehen immer noch nicht zur Verfügung.

Versagt die EU in der Flüchtlingskrise?

Müller: Mir fehlt bei der Kommission und dem Präsidenten der Durchsetzungswille. Der Schutz der Außengrenzen funktioniert nicht, Schengen ist kollabiert. Eine faire Flüchtlingsverteilung findet nicht statt. Europa braucht endlich einen Flüchtlingskommissar mit entsprechender Administration, der die Beschlüsse umsetzt. Papier hilft den Menschen nicht, wir brauchen Taten.“

Nach Sex-Mob-Attacken Ändert Merkel jetzt ihren Kurs?

Angela Merkel will konsequent gegen straftätige Flüchtlinge vorgehen. Mit ihrem harten Kurs will sie zeigen, wie wichtig ihr das Thema Sicherheit ist.

Wo liegt die Obergrenze?

Müller: Wir brauchen eine Reduzierung. Eine Million, wie im vergangenen Jahr, können wir nicht erfolgreich integrieren. Gleichzeitig müssen wir alle in Europa unsere Verantwortung in der Welt in einer anderen Dimension wahrnehmen, als wir das bisher tun. Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Das wird nicht mehr lange gut gehen. Diese Spannungen entladen sich. Dann ist egal, was wir hier festlegen. Die Menschen werden uns nicht fragen, ob sie kommen können.

Warum klingen Sie in der Flüchtlingsfrage moderater als viele ihrer Parteifreunde?

Müller: Ich sehe die Not dieser Menschen und habe ganz konkrete Bilder vor Augen. Ich komme gerade aus Benin, wo Menschen in fürchterlichen Verhältnissen leben. Mir sind dort Schüler um den Hals gefallen, weil sie von Deutschland die Chance erhalten, eine Ausbildung zu machen. Keiner verlässt freiwillig seine Heimat, das müssen wir immer im Herzen tragen.

Das Interview erschien in der Bild am Sonntag .