Sicherheit als gemeinsame Verantwortung

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Im Wortlaut: de Maizière Sicherheit als gemeinsame Verantwortung

Bundesinnenminister de Maizière fordert "verbindliche und möglichst einheitliche Regeln" bei der Überwachung von Gefährdern. Mit Blick auf den Fall Amri gehe es nun darum, den Sachverhalt umfassend aufzuklären und "die richtigen Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen."

  • Interview mit Thomas de Maizière
  • Spiegel

Das Interview im Wortlaut:

SPIEGEL: Herr Minister, der Attentäter von Berlin war mit mindestens neun Identitäten in Deutschland unterwegs und dealte mit Drogen. Er hatte Kontakte zu Islamisten, er prahlte damit, einen Anschlag verüben zu wollen. All das geschah unter den Augen der Sicherheitsbehörden. Können Sie verstehen, dass ein normaler Bürger sagt: Wenn einer wie Anis Amri durchs Netz schlüpft, dann kann jeder durchs Netz schlüpfen?

Thomas de Maizière: Selbstverständlich kann ich diese absolut berechtigten Fragen der Bürger sehr gut verstehen. Aber man muss dazu Folgendes wissen: Die wesentlichen Hinweise auf Anis Amri kamen von einer Vertrauensperson der nordrhein-westfälischen Polizei aus der Islamistenszene. Die Sicherheitsbehörden fanden für diese Informationen, obwohl sie erheblichen Aufwand betrieben, keine Beweise. Das heißt, für die Prognose der keine belastbaren Fakten. Das machte es schwer, ihn wegen Terrorgefahr festzunehmen. Aber es lagen zu einem späteren Zeitpunkt durchaus genügend sonstige Anhaltspunkte dafür vor, ihn in Abschiebehaft zu nehmen.

SPIEGEL: Wer hätte das tun müssen?

De Maizière: Das für den Vollzug des Ausländerrechts zuständige Land.

SPIEGEL: Also Nordrhein-Westfalen. Der dortige SPD-Innenminister Ralf Jäger hat gesagt, die Behörden seien im Fall Amri an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen. Diese Auffassung teilen Sie nicht?

De Maizière: Im Oktober 2016 hat Tunesien einem Verbindungsbeamten des BKA mitgeteilt, dass Amri sein Staatsbürger ist. Spätestens da hätte auf Basis des geltenden Rechts ein Antrag auf Abschiebehaft gute Erfolgsaussichten gehabt. Aber es geht mir nicht um einen Blick in die Vergangenheit und um Schuldzuweisungen. Es geht mir als Erstes darum, den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Dazu haben der Justizminister und ich eine Chronologie des Behördenhandelns unter Beteiligung der betroffenen Länder veröffentlicht. Mehr Transparenz geht wohl kaum. Und dann geht es darum, die richtigen Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen.

SPIEGEL: Zur Demokratie gehört es auch, dass nach Pannen die Frage gestellt wird, wer die politische Verantwortung trägt.

De Maizière: Es gehört zur Aufgabe der Medien, diese Frage zu stellen. Ich sehe auch mit Respekt, dass der Deutsche Bundestag die Aufarbeitung vorantreibt, und selbstverständlich unterstütze ich diese Arbeit umfassend und würde das auch im Fall eines Untersuchungsausschusses tun. Aber meinem Verständnis von Verantwortung als Bundesinnenminister entspricht es nicht, dass wir uns nun gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Wir haben es hier mit einer gemeinsam geteilten Verantwortung zu tun. Und da sollte jeder seine Hausaufgaben erledigen.

SPIEGEL: Nach der Silvesternacht 2015, als in Köln Nordafrikaner massenhaft Frauen begrapschten, dauerte es nur eine Woche, bis der Polizeipräsident seinen Job los war. Die Begründung: Das Vertrauen der Öffentlichkeit müsse wiederhergestellt werden. Haben Sie seit dem Anschlag in Berlin schon mal über Rücktritt nachgedacht, um das Vertrauen wiederherzustellen?

De Maizière: Wann ich über politische Verantwortung nachdenke, das überlassen Sie mal mir. Es gibt in den Medien immer ein Bedürfnis, einen Schuldigen zu präsentieren. Aber das ist mir zu bequem, und es dient "Die Fußfessel für Gefährder ist kein Allheilmittel, klar. Aber sie kann eine Hilfe sein." auch nicht der Sicherheit Deutschlands. Die Bevölkerung erwartet, dass wir alles Menschenmögliche tun, um zu verhindern, dass sich solch ein Anschlag wiederholt. Und da stehen wir alle gemeinsam in der Verantwortung. Und das schafft Vertrauen.

SPIEGEL: Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ in Berlin sitzen alle wichtigen Sicherheitsbehörden an einem Tisch. Der Fall Amri war dort rund ein Dutzend Mal Thema. Warum hat niemand entschieden, ihn aus dem Verkehr zu ziehen?

De Maizière: Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum ist eine sehr wichtige Einrichtung. Dort wurde etwas geschaffen, was es vorher nicht gab: Die Informationen von 40 Behörden werden ausgetauscht, auch zwischen Polizei und Nachrichtendiensten. Aber bei der Gründung 2004 ist peinlich darauf geachtet worden, dass es bei den bisherigen Zuständigkeiten bleibt. Die Vorstellung, dass da einer zur Gefahrenabwehr durchgreifen und eine Entscheidung mit Wirkung für alle treffen kann, entspricht nicht der gegenwärtigen föderalen Sicherheitsarchitektur unseres Landes und daher auch nicht der Konstruktion des GTAZ. Die Verantwortung für die mehr als 500 Gefährder in Deutschland liegt nach unserem Recht bei den Ländern, nicht beim Bundeskriminalamt. Ich bin der Auffassung, dass wir hier in Zukunft insgesamt mehr Verbindlichkeit brauchen.

SPIEGEL: Es gibt im GTAZ ein Strukturproblem: Verfassungsschutz und Polizei haben unterschiedliche Herangehensweisen im Umgang mit Gefährdern. Die einen wollen diese beobachten, die anderen wollen sie schnell aus dem Verkehr ziehen.

De Maizière: Das ist kein Problem, sondern absolut sinnvoll. Natürlich haben Verfassungsschutzbehörden die Tendenz, eher länger zu beobachten, während die Polizei möglichst früh zugreifen will. Beides aus guten Gründen. Je länger ich beobachten kann, umso mehr kann ich Netzwerke aufklären. Je früher ich zugreife, umso eher verhindere ich eine Tat. Aber ein zu früher Zugriff kann es auch erschweren, Straftaten zu beweisen. Es ist ein ungeheurer Vorteil, dass diese beiden Blickpunkte im GTAZ aufeinandertreffen und man dann zu einer gemeinsamen Gefahreneinschätzung kommt. Die allerdings ist – und das ist das Problem – nicht verbindlich. Das zuständige Bundesland kann daraus machen, was es für richtig hält.

SPIEGEL: Deswegen wollen Sie die Länder nun entmachten?

De Maizière: Nein. Es geht bei meinen Vorschlägen überhaupt nicht darum, irgendjemanden zu entmachten. Aber wir brauchen verbindliche und möglichst einheitliche Regeln darüber, wie intensiv jemand überwacht wird, den die Behörden als Gefährder erkannt haben. Es kann nicht sein, dass das eine Bundesland einen bestimmten Gefährder rund um die Uhr observiert und ein anderes bei derselben oder einer vergleichbar gefährlichen Person nur das Telefon überwacht. Es darf hier keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben.

SPIEGEL: Lag der Fall Amri vor dem Anschlag mal bei Ihnen auf dem Schreibtisch?

De Maizière: Nein. Das ist auch richtig so. Der Innenminister ist nicht der beste Polizist des Landes.

SPIEGEL: Es gibt aber doch den Paragrafen 58a im Aufenthaltsgesetz: Der gibt dem Innenminister in besonderen Fällen die Möglichkeit, direkt eine Abschiebung anzuordnen. Dazu müssten Sie von diesen Fällen aber auch erfahren.

De Maizière: Dieser Paragraf ist bisher so gut wie nie angewendet worden. Deswegen senken der Justizminister und ich mit unserem Vorschlag nun die Hürden für die Abschiebehaft, auch wenn keine terroristische Gefahr vorliegt.

SPIEGEL: Wieso hat man es denn im Fall von Amri nicht einfach mal probiert, den Paragrafen 58a anzuwenden?

De Maizière: Weil die nachweisbaren Tatsachen dafür nicht ausgereicht haben. Wenn Sie jemanden ein halbes Jahr überwachen, aber nicht nachweisen können, dass er sich wirklich Waffen besorgt und einen Anschlag vorbereitet, dann ist das kein Fall für den Paragrafen 58a. Aber nochmals: Es hätte wohl andere Möglichkeiten gegeben.

SPIEGEL: Überwachung ist in diesem Fall ein großes Wort. Tatsächlich haben ihn die Behörden nur lückenhaft observiert.

De Maizière: Deswegen müssen wir die Überwachungsmaßnahmen anders regeln als bislang. Und zwar für alle verbindlich im Bund und in den Ländern.

SPIEGEL: Wo wollen Sie das ganze Personal hernehmen?

De Maizière: Zunächst mal haben wir in dieser Legislaturperiode die Sicherheitsbehörden im Bund in einem Maße personell verstärkt wie nie zuvor. Mein Kabinettskollege Heiko Maas und ich haben außerdem vorgeschlagen, dass Gefährdern leichter eine Fußfessel angelegt werden kann. Die Fußfessel ist kein Allheilmittel, klar. Aber wenn einer dadurch, dass er ständig den Wohnort wechselt, von der Bildfläche zu verschwinden droht, dann ist die Fußfessel eine Hilfe. Dann lassen sich auch schneller Fahndungsmaßnahmen gegen solche gefährlichen Menschen einleiten.

SPIEGEL: Im Terrorabwehrzentrum sind die Beamten zu dem Ergebnis gekommen, dass Amri wahrscheinlich keinen Anschlag plane. War das der entscheidende Fehler?

De Maizière: Pathologen sind immer die besten Ärzte, weil sie hinterher genau wissen, was geschehen ist. Versetzen Sie sich doch mal in die Lage derer, die Gefahren prognostizieren sollen. Hier hatten sie einerseits belastende Aussagen von einem Hinweisgeber und andererseits Ergebnisse der Überwachung, die keinen Beleg für diese Aussagen erbracht haben.

SPIEGEL: Aber Amri hatte ja offenkundig Kontakte zu einschlägigen Salafisten.

De Maizière: Was meinen Sie, wie viele Leute Kontakt zu Salafisten haben? Wir haben rund 9.000 Salafisten in Deutschland.

SPIEGEL: Sind die alle gefährlich?

De Maizière: Fast alle radikalen Islamisten in Deutschland kommen aus dem Kreis der Salafisten. Aber niemand kann ernsthaft behaupten, dass 9.000 Salafisten planen, einen Anschlag zu begehen. Es ist schon ein bisschen komplizierter.

SPIEGEL: Im Fall Amri sind Fehler gemacht worden, das ist unstrittig.

De Maizière: Die Sicherheitsbehörden haben einige Anschläge im vergangenen Jahr verhindert. Das waren dieselben Beamten, die jetzt im Fall Amri zu einem anderen Ergebnis gekommen sind. Sie müssen in jedem Einzelfall rechtsstaatlich sauber und behutsam vorgehen: Verhaften Sie jemanden, der gar nichts Böses im Schilde führt, radikalisiert er sich dann womöglich wegen der Verhaftung? Oder Sie setzen jemanden fest, der dann alle Kontakte zu seinem Netzwerk abbricht, sodass Sie ihn nicht mehr beobachten können. Vorsicht bitte bei leichtfertigen Bewertungen im Nachhinein.

SPIEGEL: Sie waren immer der Ansicht, Angela Merkels Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 habe die Terrorgefahr nicht erhöht. Bleiben Sie dabei?

De Maizière: Ja. Wir hatten vorher eine Terrorgefahr, wir haben jetzt eine Terrorgefahr und werden sie in Zukunft haben. Wir haben zwar auch unter den Flüchtlingen terroristische Gefährder, die eingeschleust worden sind, aber Anis Amri gehörte nicht dazu. Er ist vor dem Herbst 2015 eingereist. Zu glauben, dass die terroristische Gefahr beseitigt wäre, wenn wir keine Flüchtlinge hätten, ist naiv. Nur ein Beispiel: Von den mehr als 150 Gefährdern und sogenannten relevanten Personen, die ausreisepflichtig sind, sind 6 ab dem Jahr 2015 eingereist, über 150 in den Jahren zuvor.

SPIEGEL: Aber Amri hätte sich nicht unter etlichen Identitäten registrieren können, wenn die Behörden im Herbst 2015 nicht so überfordert gewesen wären.

De Maizière: Da muss ich widersprechen. Selbst tipptopp funktionierende Behörden der Länder und des Bundes wären im Juli 2015 nicht imstande gewesen, verschiedene Identitäten rauszukriegen. Warum? Weil es rechtlich und technisch unmöglich war, einen Datenabgleich zu machen. Und wenn ich oder meine Vorgänger einen solchen Vorschlag zu dieser Zeit gemacht hätten, wären wir wegen Verstoßes gegen den Datenschutz vom Hof gejagt worden. Erst die Krise hat ermöglicht, ein zentrales Datensystem zur Registrierung von Flüchtlingen aufzubauen, durch das heute auch mehrere Identitäten zweifelsfrei ein und demselben Menschen über die Fingerabdrücke zugeordnet werden können.

SPIEGEL: Im Herbst 2015 haben maßgebliche Herren aus den Sicherheitsbehörden gewarnt: Jeden Tag kommen Tausende Menschen ins Land, wir können die nicht alle kontrollieren, und das stellt für Deutschland ein Sicherheitsrisiko dar. Amri hat dafür den Beweis geliefert.

De Maizière: Dass unter Flüchtlingen auch Straftäter sind, ist klar. Flüchtlinge sind weder alle Heilige noch alle Sünder. Übrigens waren sich die Sicherheitsbehörden zuvor lange einig, dass der sogenannte "Islamische Staat" es gar nicht nötig hat, Terroristen auf gefährlichem Wege nach Europa zu schleusen.

SPIEGEL: In einem Forderungskatalog für einen "starken Staat in schwierigen Zeiten" verlangen Sie eine Zentralisierung der Sicherheitsbehörden. Wie wollen Sie die Länder überzeugen, auf ihre eigenen Verfassungsschutzämter zu verzichten?

De Maizière: Ich glaube, dass wir aus Fehlern lernen sollten. Und der Fall Amri hat gezeigt, dass wir den Aufbau unserer Sicherheitsbehörden ändern müssen. Auch der jetzt vorliegende Untersuchungsbericht im Fall Jaber Albakr enthält genug Material, um diese These zu stützen.

SPIEGEL: Es war immer auch Aufgabe des Innenministers, den rechten demokratischen Rand an die Union zu binden. Machen Sie es sich zum Vorwurf, dass die AfD so stark geworden ist?

De Maizière: Der Beginn der AfD war die Debatte um den Euro, nicht um Sicherheit. Wir haben es mit einem Erstarken des Populismus in ganz Europa zu tun. Und dabei spielt die Sehnsucht nach nationalen und einfachen Lösungen auch angesichts von Flüchtlings- und Terrorkrise eine Rolle, keine Frage. Die AfD weist nur auf Probleme hin. Wir arbeiten an Lösungen. Wir machen das, was wir für richtig halten, und wir versuchen, dafür Mehrheiten zu gewinnen. Das ist der beste Weg, um die AfD kleinzuhalten.

SPIEGEL: Der AfD-Politiker Björn Höcke hat gerade eine eindeutig rechtsradikale Rede gehalten. Sollte nicht der Verfassungsschutz ein Auge auf die AfD werfen?

De Maizière: Die AfD als Ganzes ist kein Beobachtungsobjekt des Bundesamts. Das schließt nicht aus, wenn sich einzelne Personen verfassungsfeindlich verhalten, dass sie dann auch Gegenstand von Beobachtungen sein können. Im Übrigen wohnt Herr Höcke in Thüringen. Dort gibt es ein Landesamt für Verfassungsschutz.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Jörg Schindler, René Pfister und Wolf Wiedmann-Schmidt für den

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