Balance zwischen Freiheit und Sicherheit

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Im Wortlaut: de Maizière Balance zwischen Freiheit und Sicherheit

"Um die Freiheit jedes Einzelnen und unserer Gesellschaft zu schützen, muss ich gemeinsam mit anderen für öffentliche Sicherheit sorgen", sagt Bundesinnenminister de Maizière in einem Interview. Daher seien die Vorschläge zur Erhöhung der Inneren Sicherheit nicht übertrieben sondern verhältnismäßig.

  • Interview mit
Bundespolizei am Flughafen Frankfurt am Mai

Bundesinnenminister de Maizière will die Sicherheit in Deutschland erhöhen.

Foto: Sven Ehlers

Das Interview im Wortlaut:

DIE ZEIT: Herr Minister, als Sie Ihr Amt antraten, wollten Sie kein Minister für innere Sicherheit, sondern für innere Freiheit sein. Zwingt der Terror Sie jetzt, der harte Hund zu werden, der Sie nie sein wollten?

Thomas de Maizière: Ich empfinde meine aktuellen Vorschläge nicht als hart. Sie sind allerdings eine Konsequenz aus der Lage, in der wir uns seit Längerem schon befinden. Mein Auftrag zur öffentlichen Sicherheit dient dem Schutz der Freiheit. Und um die Freiheit jedes Einzelnen und unserer Gesellschaft zu schützen, muss ich gemeinsam mit anderen für öffentliche Sicherheit sorgen.

ZEIT: Ein Terroranschlag galt immer als größter anzunehmender Albtraum jedes Innenministers. Inzwischen ist er mehrfach eingetreten. Wie bereitet man sich auf einen Albtraum vor?

De Maizière: Ich habe versucht, mich innerlich darauf vorzubereiten. Aber die Wahrheit ist: Es geht nicht. Denn wenn es so weit ist, steht man vor einer konkreten Situation, die einfach völlig anders ist als die eigenen Vorstellungen.

ZEIT: Was war anders?

De Maizière: 24 Stunden nach dem Bombenanschlag von Istanbul im Sommer letzten Jahres, bei dem auch zwölf Deutsche unter den Opfern waren, bin ich mit dem türkischen Ministerpräsidenten über den Platz gegangen. Alles war gereinigt. Nichts war mehr zu sehen, gar nichts, weil man nichts sehen sollte. Und dann zeigte mir der Ministerpräsident einen Baum, zwischen dessen Ästen in 15 Metern Höhe der Kopf eines Opfers eingeklemmt gewesen war. Nach dem Amoklauf in München war ich ebenfalls keine 24 Stunden danach am Tatort, in einem Schnellrestaurant, der Boden war noch voller Blut, und dann hat man mir das Video mit den Erschießungen gezeigt, das die Kamera des Restaurants aufgenommen hatte. Das sind Bilder, die vergesse ich nicht. Genauso wenig wie den Besuch des Tatorts am Berliner Breitscheidplatz. Das sind extreme Gefühle. Auf die konnte ich mich nicht vorbereiten. Die waren dann einfach da.

ZEIT: Ihr Vorgänger Hans-Peter Friedrich erzählte, dass er jedes Mal erschrocken sei, wenn sein Smartphone vibrierte - weil ihm sofort der Gedanke kam, es könne ein Anschlag passiert sein.

De Maizière: Den Gedanken, es könnte etwas Schlimmes passiert sein, habe ich auch, wenn nachts das Handy klingelt.

ZEIT: Haben Sie Ihr Telefon nachts neben dem Bett liegen?

De Maizière: Es liegt auf meinem Nachttisch, es ist auch die ganze Nacht an.

ZEIT: Gibt es so etwas wie Routine in der Krise?

De Maizière: Nach einem Anschlag erwarten die Bürger, dass der Innenminister sich äußert. Ich habe mich entschieden, das immer so spät wie möglich zu tun. Es ist nicht wichtig, derjenige mit der ersten Meinung zu sein. Ich will auch erklären oder einordnen können. Ich versuche, bei diesen Statements so wenig wie möglich von meinen Gefühlen zu sprechen. Natürlich spreche ich über die Opfer und manchmal auch darüber, dass ich für sie und ihre Angehörigen bete. Aber die Öffentlichkeit erwartet in so einer Situation doch zu Recht einen sachlichen, verantwortungsvollen Innenminister. Und das kann man dann schon vorbereiten, gerade wenn man es nicht zum ersten Mal macht. Routine ist eigentlich ein furchtbares Wort in diesem Zusammenhang. Es wäre mir weiß Gott lieber, das wäre nicht so. Aber denken Sie an eine Hospizschwester. Sie hat auch eine Routine im Umgang mit dem Sterben. Und hoffentlich verliert sie trotzdem nie die Empathie.

ZEIT: Seit dem Anschlag von Berlin überbieten sich die Parteien mit Vorschlägen zur Verbesserung der inneren Sicherheit. Irritiert Sie das so wie uns?

De Maizière: Nein. Wir haben in dieser Regierung mehr für die Sicherheit im Land verändert, als es in der vorherigen Koalition mit der FDP möglich war oder in einer Koalition mit den Grünen möglich gewesen wäre. Und ich habe schon im Sommer nach den Anschlägen von Ansbach, Würzburg und München verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt nach und nach umgesetzt werden. Richtig ist, dass ich nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz kurz vor Weihnachten nicht sofort über konkrete Maßnahmen sprechen wollte, schon aus Respekt vor den damals noch nicht einmal beerdigten Toten. Ich habe dann über Weihnachten viel über die Konsequenzen gerade auch aus den Erfahrungen im gesamten vergangenen Jahr und davor nachgedacht und sie in einem Aufsatz ausformuliert.

ZEIT: Was ist der Kerngedanke Ihrer Vorschläge?

De Maizière: Wir sind in unserem Verhalten noch viel zu stark von Normalität und Wohlstand geprägt. Ich spreche dabei gar nicht nur von Terror. Wir haben bislang einfach sehr viel Glück gehabt, was große Krisen und Katastrophen betrifft. Aber gerade weil es uns gut geht, müssen wir uns mit der Vorsorge beschäftigen. Wir müssen uns jetzt vorbereiten auf unvorhergesehene große Krisen. Gerade weil wir mit Cyberangriffen, Fluten, Terroranschlägen oder dem massenhaften Zustrom von Flüchtlingen jetzt Erfahrung haben, muss man etwas grundsätzlicher überlegen. Und tiefer bohren.

ZEIT: Vorbereitet sein heißt zu zentralisieren?

De Maizière: Nein. Das ist zu eng gedacht. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern. Bei einem regionalen Katastrophenfall, einem Hochwasser oder Tornado, hat jeder Landrat weitreichende Rechte. Er kann eine Straße sperren, Häuser evakuieren, Menschen in anderen Häusern unterbringen. Er kann jedem Spediteur sagen: Deine drei Lastwagen beschlagnahme ich jetzt, die fahren ab sofort Sand von A nach B. Und kein Mensch käme auf die Idee, diesen Landrat einen Diktator zu nennen. Aber bei nationalen Katastrophen haben wir keinerlei Regeln dieser Art! Kein Bundesinnenminister kann in so einem Fall Weisungen an Privatleute und Unternehmen geben, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Das, was ich jetzt für die Sicherheitsarchitektur am Beispiel von Cyberangriffen vorgeschlagen habe, ist nur eine Analogie zum Beispiel des Landrats. Sie können mich einen harten Hund nennen. Meine Wortwahl für solche Vorschläge ist das aber nicht.

ZEIT: Die Länderminister, auch die der CDU, waren empört.

De Maizière: Ich bin ja selbst lange Landespolitiker gewesen. Aber auch in dieser Funktion habe ich mich an bestimmten Stellen für mehr Zentralisierung eingesetzt. Natürlich brauchen wir Kompetenzen vor Ort. Aber unsere Sicherheitsarchitektur stammt aus den fünfziger und sechziger Jahren, als wir es meist mit regionaler Kriminalität zu tun hatten. Diese Zeiten sind vorbei.

ZEIT: Ein Grund für diese Architektur waren ja die Bedenken der Alliierten gegenüber dem Zentralstaat und den Erfahrungen mit Gestapo und politischer Polizei. Manche teilen diese Bedenken auch heute noch. Was sagen Sie denen?

De Maizière: Außer der Linkspartei teilt diese Bedenken doch kein Mensch mehr. Wir haben es mit einer internationalen Bedrohung zu tun, und darauf reicht keine lokale Reaktion. So sieht es auch die Bevölkerung. Unser demokratischer Staat ist längst über solche Zweifel erhaben.

ZEIT: Ein weiterer Einwand gegen den starken Staat ist, dass man nicht darauf bauen kann, dass er immer von demokratischen Parteien geführt wird. In Europa kann man das ja vielerorts schon besichtigen. Wer weiß, was eine polnische oder ungarische Regierung mit den Daten macht, die wir mit ihnen austauschen?

De Maizière: Es sollte grundsätzlich keine pauschale, für alle Bereiche allgemeingültige Form der Zusammenarbeit geben. Das muss man sich für jeden Bereich gut anschauen. Aber natürlich bleibt der europäische und der internationale Informationsaustausch ein wesentlicher Baustein gerade im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Was beispielsweise die polizeiliche Zusammenarbeit mit fast allen unseren Nachbarn angeht, kann ich mich absolut nicht beschweren, das läuft hervorragend.

ZEIT: Warum haben Sie Ihre Vorschläge vorab nicht wenigstens im Kreis der Innenminister der Länder besprochen?

De Maizière: Den Vorwurf muss ich akzeptieren. Ich habe ihn in Kauf genommen. Ich wollte einfach nicht, dass da vorab etwas durchsickert und die überfällige Debatte von vornherein abwürgt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Debatte führen müssen.

ZEIT: Und Sie wollten zur Abwechslung auch einmal die CSU in Zugzwang bringen.

De Maizière: Ich mache die Vorschläge, die ich für richtig halte, und ich mache sie zu dem Zeitpunkt, den ich für richtig halte.

ZEIT: Was ist nun eigentlich wirklich schiefgelaufen im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri?

De Maizière: Wir sind noch in der Aufarbeitung, deswegen will ich mich da zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht festlegen.

ZEIT: Aber erste Vermutungen werden Sie haben?

De Maizière: Sicher ist: Im Sommer 2015, als Anis Amri nach Deutschland kam, hatten wir noch keinen Ankunftsnachweis und kein Kerndatensystem. Deshalb konnte er eine Zeit lang erfolgreich mehrere Identitäten angeben. Das würde heute auffallen. Der zweite Fehler sind die unterschiedlichen Datenbestände innerhalb Europas. Manche Datenbanken registrieren Fingerabdrücke, aber keine Namen und umgekehrt.

ZEIT: Aber im Fall Amri lagen den deutschen Behörden alle Daten vor, die man brauchte, von der Kleinkriminalität über die Terrorbereitschaft. Warum wurde er nicht festgesetzt?

De Maizière: Angesichts der noch nicht abgeschlossenen Aufarbeitung will ich nur so viel sagen: Es gibt Hinweise dafür, dass mein Vorschlag, Maßnahmen verbindlicher zu steuern, richtig ist. Das darf nicht im Ermessen des jeweiligen Landes liegen. Und bei der Abschiebehaft habe ich mich jetzt mit dem Kollegen Maas schnell auf Verschärfungen geeinigt. Auch das ist eine Konsequenz aus diesem Fall.

ZEIT: Wer legt das dann fest - Sie?

De Maizière: Es kann auch ein Gremium sein - auf die Verbindlichkeit kommt es an. Das gilt auch für den Umgang mit Gefährdern. Es kann nicht sein, dass die Frage, ab wann und wie intensiv ein Gefährder beobachtet wird, von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt wird. SPD- Fraktionschef Thomas Oppermann hat mir vorgeworfen, die Abschiebung von Anis Amri hätte in meiner Verantwortung gelegen. Aber die Sicherheitsbehörden im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum haben die Rechtslage geprüft und waren zu der gemeinsamen Einschätzung gekommen, dass die rechtlichen Voraussetzungen für eine Abschiebehaft fehlten. Diese Voraussetzungen müssen wir deshalb jetzt schaffen. Und die Einigung mit der SPD ist da.

ZEIT: SPD-Chef Sigmar Gabriel wirft Ihnen vor, die Sicherheitsbehörden mit Strukturfragen lahmzulegen. Sie hätten dann keine Zeit mehr, Terroristen zu jagen.

De Maizière: Das Argument nehme ich nicht auf die leichte Schulter. Aber die Terrorlage wird sich in den kommenden Jahren nicht ändern. Für alles, was die Verbrechensbekämpfung verbessert, gibt es keinen falschen Zeitpunkt.

ZEIT: Sie rechnen also mit weiteren Anschlägen?

De Maizière: Die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland, in Europa war und ist nach wie vor hoch. Daran hat sich nichts geändert. Unsere Sicherheitsbehörden tun alles in ihrer Macht Stehende, um weitere Anschläge zu verhindern.

ZEIT: Gabriel wirft Ihnen auch vor, die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Islam zu scheuen.

De Maizière: Den Vorwurf weise ich zurück. Ich habe immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass wir die Kraft der Religion unterschätzen. Die Flüchtlingskrise und die Auseinandersetzung mit dem Islamismus müssen für uns Anlass sein, darüber zu reden, wer wir sind. Wer wir sein wollen. Was uns leitet. Den Begriff »Kulturkampf« würde ich allerdings nicht verwenden.

ZEIT: Warum nicht?

De Maizière: Mein Stil ist durch nüchterne Auseinandersetzung mit Fakten geprägt, nicht durch eine Emotionalisierung von Debatten. Streiten für eine Leitkultur gern.

ZEIT: Sie hatten ja ein Gesprächsforum mit den Muslimen - die Islamkonferenz. Aber da wird heute nur noch über Wohlfahrtspflege und Beerdigungen gesprochen.

De Maizière: Wir haben in der Islamkonferenz andere wichtige Themen in den Vordergrund gerückt, das stimmt. Aber daneben habe ich ein Gesprächsformat mit den Islamverbänden eingeführt, bei dem es um Sicherheit und auch um kulturelle Fragen geht. Die Islamverbände hatten nur darum gebeten, das nicht öffentlich zu machen - was sie inzwischen selbst nachgeholt haben. Aber die Debatte, die Herr Gabriel meint, kann sich ja nicht auf ein Gespräch mit den Verbänden beschränken. Sondern sie geht uns alle an. Wo sind wir bereit, uns durch Integration zu verändern - und wo hört diese Bereitschaft auf? Was ist der Westen, jenseits der Geografie? Was prägt uns als Deutsche, mit unserer Lage und Geschichte des Holocaust, der deutschen Teilung und Vereinigung. Mit unserer Kultur, um die man uns noch immer beneidet? Dazu gehört auch ein Verhältnis zu Feiertagen, zur Kirche. Sie sehen, da drüben, das Kreuz in meinem Dienstzimmer. Ich habe nicht die Absicht, es abzuhängen.

ZEIT: Gabriel fordert auch, salafistische Hassprediger auszuweisen, salafistische Moscheen zu schließen. Unterstützen Sie das?

De Maizière: Uneingeschränkt. Aber ohne jetzt wieder auf mein Papier zurückzukommen: So etwas ist bislang Sache der Länder. Und da kann ich nur sagen: Viel Erfolg!

ZEIT: Können wir als Gesellschaft in Sachen Kampf gegen den Terror etwas von Israel lernen?

De Maizière: Ja und nein. Die ständige Militarisierung des öffentlichen Lebens in Israel, dass zum Beispiel jeder Soldat ständig ein Gewehr dabei hat - das will ich vermeiden. Aber die Mentalität, dass man als Demokratie leben und trotzdem wehrhaft sein kann - weil man eben Sorge vor Anschlägen haben muss -, da kann man, glaube ich, einiges von Israel lernen.

ZEIT: Der israelische Inlandsgeheimdienst steht sehr viel früher bei sich radikalisierenden Leuten auf der Matte, bei deren Eltern, deren Freunden, und gibt das Signal: Wir sehen dich!

De Maizière: Das tun wir auch. Man nennt das "Gefährderansprache". Wir reden nur nicht öffentlich darüber. Außerdem muss man auch immer berücksichtigen: Manchmal kann das aber auch zu einer zusätzlichen Radikalisierung oder zum Untertauchen führen.

ZEIT: Herr Minister, wenn Sie die Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden jetzt zentralisieren wollen, heißt das auch, dass bei Fehlern künftig nur noch einer den Kopf hinhalten muss - und zwar Sie.

De Maizière: Das muss ich sowieso, auch ohne dass der Bund die Kompetenzen hat. Wenn ich also ohnehin immer die Verantwortung tragen soll, dann sollten wir das bitte auch ganz »offiziell« machen.

Das Gespräch führten Marc Brost und Mariam Lau von der Zeit