"Wir schaffen das nur gemeinsam"

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Im Wortlaut: de Maizière "Wir schaffen das nur gemeinsam"

Bundesinnenminister de Maizière zeigt sich im Zeit-Interview positiv überwältigt von der enormen Hilfsbereitschaft in Deutschland. Gleichzeitig macht er deutlich: "Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass sich unser Land verändert." Fremdenfeindlichen Straftaten müsse man hart begegnen.

  • Interview mit Thomas de Maizière
  • Die Zeit
Thomas de Maiziere

Staat und Gesellschaft werden die Herausforderungen meistern, "da bin ich optimistisch", so de Maizière.

Foto: picture alliance / dpa

Das Interview im Wortlaut:

Die Zeit: Herr Minister, warum sollten 800.000 Flüchtlinge pro Jahr auf Dauer für Deutschland zu viel sein, wie Sie sagen?

Thomas de Maizière: Das politische Asyl kennt natürlich aus guten Gründen keine Obergrenze. Aber im Normalfall gibt es Obergrenzen der Aufnahmefähigkeit eines Landes. Viele Experten sagen, dass für ein Land unserer Größenordnung eine Nettozuwanderung von 400.000 bis 500.000 Menschen schon ziemlich viel ist.

Die Zeit: Woran machen Sie das fest?

De Maizière: Wir wollen die Menschen in politischer Not, die zu uns kommen und bleiben dürfen, ja auch integrieren. Dafür brauchen wir Schulen, Wohnraum, Arbeitsplätze, einen kulturellen Konsens. Schauen Sie sich doch nur mal unsere bisherigen Regeln für den Wohnungsbau an: Wenn es richtig gut läuft, vergehen von der Aufstellung eines Bebauungsplans bis zum Einzug vier bis fünf Jahre. Und da habe ich noch gar nicht über Geld geredet. Selbst wenn wir das Verfahren auf die Hälfte verkürzen, zeigt das doch, dass es Grenzen der Aufnahmefähigkeit gibt.

Die Zeit: Und weil wir beim Wohnungsbau so langsam sind, darf nicht jeder Flüchtling aus Syrien oder Afrika ins Land?

De Maizière: Nein. Das ist mir zu polemisch. Sie sprechen da verschiedene Fragen auf einmal an: Wie können wir für jene sorgen, die in der Not zu uns flüchten? Was machen wir mit jenen, von denen wir sicher sind, dass sie keine Flüchtlinge aus einem Krisengebiet sind? Wie verteilen wir die Flüchtlinge und Asylbewerber besser innerhalb Europas? Und wie können Außen- und Entwicklungshilfepolitik effektiver als bisher Beiträge leisten, um Fluchtursachen zu verhindern?

Die Zeit: Was wird anders werden in diesem Land?

De Maizière: Vieles. Kurzfristig müssen wir dafür sorgen, dass die Flüchtlinge anständig untergebracht werden, und zwar so, dass auch im Winter menschenwürdige Verhältnisse herrschen. Sie sollen hier sicher leben können und nicht Hass, Beleidigungen oder Gewalt ausgesetzt sein. Wir müssen gleichzeitig die Asylverfahren so beschleunigen, dass wir zu schnellen Entscheidungen kommen. Dann müssen wir Fehler vermeiden, die sich mittelfristig verheerend auswirken können. Ein Beispiel: Wir haben derzeit eine Anerkennungsquote von über 40 Prozent, das heißt, wir müssen uns darauf einstellen, dass Hunderttausende bei uns bleiben werden. Und da müssen wir, und da appelliere ich an alle Beteiligten, von Anfang an aufpassen, dass keine Ghettos, keine neuen sozialen Probleme entstehen, die wir in zehn Jahren bitter bereuen. Um das hinzukriegen, müssen wir sehr groß und ganz neu denken. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass sich unser Land verändert.

Die Zeit: Ist das ein ähnlich tiefer Einschnitt für das Land wie die Wiedervereinigung?

De Maizière: Es ist jedenfalls eine verdammt große Herausforderung, sie ist größer, als wir alle bisher gedacht haben - gesellschaftlich, politisch, ökonomisch, kulturell. Zwei Beispiele: Aktuell leben rund vier Millionen Muslime in unserem Land, viele von ihnen mit türkischem Migrationshintergrund. Jetzt werden wir Hunderttausende arabisch geprägte Muslime bekommen, und das ist, nach allem, was mir mein französischer Kollege sagt, ein erheblicher Unterschied in Sachen Integration. Zweites Beispiel: Das Qualifikationsniveau der Menschen, die zu uns kommen, ist sehr unterschiedlich. Ich selbst habe mit Tierärzten und Ingenieuren aus Syrien gesprochen, aber die Verantwortlichen vor Ort sagen mir, sie rechnen mit einem Anteil von 15 bis 20 Prozent erwachsenen Analphabeten.

Die Zeit: Aus Syrien?

De Maizière: Aus Syrien und dem Irak, aber auch aus Afghanistan, aus Afrika. Das sind ganz neue Herausforderungen, auch da brauchen wir neues Denken. Beispielsweise bei den Integrationskursen: Erst lernt man Deutsch, dann lernt man eine Berufsqualifikation, dann geht man in Arbeit. Das wird so nicht mehr gehen. Ich glaube, am besten lernt man Deutsch in der Arbeit. Das heißt, wir müssen Menschen in Arbeit bringen, auch wenn sie noch nicht richtig Deutsch können. Das verändert viel.

Die Zeit: Das ist das amerikanische Modell.

De Maizière: All das ist natürlich nicht Sache des Innenministers allein, das schaffen wir nur gemeinsam, als Staat und als Gesellschaft. Und da bin ich optimistisch. Denn neben der Sorge vor der Verrohung eines Teiles unserer Gesellschaft sehe ich die Chance, dass wir lernen: Eine große Aufgabe macht man am besten gemeinsam. Wir werden uns überall auf Veränderungen einstellen müssen: Schule, Polizei, Wohnungsbau, Gerichte, Gesundheitswesen, überall! Ich rede da auch über eine Grundgesetzänderung. Und das alles muss sehr schnell gehen, binnen Wochen! Für einen Teil unserer verkrusteten gesellschaftlichen Abläufe könnte das einen enormen Aufbruch bedeuten.

Die Zeit: Das ist ein ziemlich optimistisches Bild: Die Flüchtlinge sorgen dafür, dass das Land flexibler, bunter, unbürokratischer wird?

De Maizière: Ja, flexibler, bunter sowieso. Und dennoch brauchen wir Regeln und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Vielleicht erfahren wir ja, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht nur wächst, wenn die Fußballnationalmannschaft Weltmeister wird, sondern auch, wenn wir gemeinsam eine Aufgabe lösen. Bislang hat jeder häufig nur auf sein eigenes Interesse geschaut: Ich bin für die Energiewende, aber in meiner Gemeinde darf kein Windmast stehen; ich bin für Fernverkehr, aber bei mir darf kein Bahnhof gebaut werden. Jetzt muss man sagen: Wir haben eine große Aufgabe - eine europäische, eine deutsche, eine regionale -, und die können wir nur gemeinsam in den Griff kriegen. Wenn uns das gelingt, ist das gut für alle. Und wenn wir es nicht schaffen, ist das schlecht für alle.

Die Zeit: Sind Sie vom Ausmaß der Hilfsbereitschaft im Land überrascht?

De Maizière: Wir sind alle positiv überwältigt.

Die Zeit: Woher kommt diese Hilfsbereitschaft?

De Maizière: Gerade in der Not kann man sich auf unsere Landsleute verlassen, und es ist eine Notsituation. Großartig, wie viele der sogenannten aktiven jungen Alten, die wir in den vergangenen Jahren in den Vorruhestand geschickt haben, sich jetzt engagieren, mit Lebenserfahrung, mit physischer Kraft, mit Improvisationsgeist. Ich möchte gern auch eine Lanze brechen für die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, und bitte streichen Sie das nicht weg: Die machen großartige Arbeit, in den Kommunen, den Ländern und im Bund. Und dann die großen Sozialverbände, Rotes Kreuz, Diakonie, Caritas, ASB, großartig! Wenn wir die nicht hätten!

Die Zeit: Eine der ersten Reaktionen - nicht nur von Ihnen, aber auch von Ihnen - auf die ansteigenden Flüchtlings- und Zuwandererzahlen war die Forderung, wir müssten Auffanglager in Libyen bauen, wir müssten die Marine einsetzen im Mittelmeer, wir müssten vor allem die Schleuser bekämpfen. Das waren doch alles Ausweichbewegungen angesichts der Realität, dass die Menschen schon hier bei uns sind und bleiben werden.

De Maizière: Nein, das war und bleibt richtig. Ich glaube, es ist erlaubt, seriös darüber zu diskutieren, wie die Zahl auch wieder reduziert werden kann. Diese Frage habe ich gestellt und stelle sie weiterhin.

Die Zeit: Wie lautet Ihre Antwort?

De Maizière: Zunächst muss man strikt unterscheiden zwischen Schutzbedürftigen und nicht Schutzbedürftigen, sonst lösen wir einen Sogeffekt aus, den wir nicht bewältigen können - und wir verlieren die Zustimmung der Bevölkerung. Deswegen dränge ich darauf, dass wir Asylbewerbern aus den Westbalkanländern klar sagen, dass sie keine Chance haben, in Deutschland als politisch Verfolgte anerkannt zu werden.

Die Zeit: Müssen wir über mehr Abschiebung reden?

De Maizière: Ja. Aber die Zahl der Abschiebungen ist in den vergangenen Wochen bereits erheblich gestiegen, in allen Bundesländern, fast unabhängig davon, wer wo regiert.

Die Zeit: Gibt es Dunkeldeutschland?

De Maizière: Ja, das zeigen auch die Statistiken. Wir haben im ersten Halbjahr so viele Straftaten gegen Asylbewerber und Asylbewerberheime gehabt wie im ganzen letzten Jahr, und in den vergangenen Wochen hat es noch mal zugenommen. Das sind Straftaten, denen muss man hart begegnen.

Die Zeit: Wenn jede Nacht irgendwo eine Flüchtlingsunterkunft brennt: Müssten Sie da nicht längst von rechtem Terrorismus sprechen?

De Maizière: Wir sind - gerade nach dem NSU - sehr wachsam, ob es organisierte kriminelle Strukturen zur Verabredung von schwersten Straftaten aus politischen Motiven gibt. Und wenn wir die entdecken würden, würde ich mich auch nicht scheuen, das Terrorismus zu nennen. Bisher haben wir noch keine verdichteten Hinweise.

Die Zeit: Teilen Sie die Einschätzung, dass wir in Teilen des Landes einen »Polizeinotstand« haben?

De Maizière: Mit dem Begriff »Notstand« muss man vorsichtig sein. Richtig ist, dass wir eine höchst angespannte Situation haben. Ich glaube aber, insgesamt bekommen das die Polizei von Bund und Ländern schon hin.

Die Zeit: Wie kann es sein, dass in Deutschland Polizeistellen abgebaut werden?

De Maizière: Klar ist: Wir brauchen mehr Polizei. Aber wir brauchen auch mehr Lehrer, mehr Sozialarbeiter, mehr Richter, und auch da werden wir darüber nachdenken müssen, wie wir das hinbekommen. Unkonventionelle Wege beschreiten. Wir brauchen sehr schnell viele Lehrer. Wie bekommen wir die? Entweder wir holen Pensionäre aus dem Ruhestand. Oder wir machen zum Beispiel Schnellkurse für Grundschullehrer. Anderes Beispiel: Wir hören, dass es nicht genug Ärzte gibt, um die medizinische Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu gewährleisten. Auch da gilt es, Ideen zu entwickeln. Das geht in alle Verästelungen unserer Gesellschaft.

Die Zeit: Lebt in Heidenau auch »Pack«, wie Sigmar Gabriel sagt?

De Maizière: Sie wissen, dass ich mit Herrn Gabriel sehr gut zusammenarbeite. Er ist ein Mann klarer und harter Aussprache - das ist eine große Stärke. Das Wort »Pack« würde ich aber nicht verwenden. Für mich sind diese Personen Extremisten.

Die Zeit: Warum, glauben Sie, wurde die Kanzlerin in Heidenau ausgebuht?

De Maizière: Es ist noch nicht lange her, dass in Ihrer Zeitung und anderswo die politischen Zustände in Deutschland als unpolitisch, einschläfernd, selbstgefällig beschrieben wurden. Ich kritisiere das nicht, dafür gab es Gründe. Und viele haben gesagt, wir brauchen eine Repolitisierung der Debatte. Ich habe darauf immer gesagt, das stimmt, aber man kann eine politische Debatte nicht herbeibefehlen, man braucht ein Thema. Die Nachrüstungsdebatte war eines, die Ostpolitik, auch die Wiedervereinigung. So, und jetzt ist es das Thema Flüchtlinge mit all seinen Facetten - regional, national, europäisch, Verwaltung, Menschlichkeit, Gesetze, Geld - ein großes politisches Thema. Und das wird streitig diskutiert. Wenn da politisch debattiert wird, dann ist das ein Teil der Repolitisierung unseres Landes, und die finde ich im Prinzip nicht schlecht, soweit die Grenzen des Anstandes eingehalten werden.

Die Zeit: Wir vermuten, dass da auch Leute buhten, die sich von der Politik und der Kanzlerin alleingelassen fühlen.

De Maizière: Die Flüchtlinge sind ein Synonym für erhebliche Veränderung. Deutschland war bis 1990 geteilt, danach haben wir uns sehr um uns selbst gekümmert. Wir haben diskutiert, wie wir Deutsche miteinander auskommen, wie wir das hinkriegen mit all den Veränderungen nach der deutschen Einheit. Und da haben viele gedacht: Das war jetzt die große Veränderung meines Lebens. Aber das stimmt nicht, die Veränderungen werden noch größer. Die Arbeitswelt wird sich verändern durch Digitalisierung, die Globalisierung ist eine gewaltige Herausforderung, viele Konflikte rücken näher an uns heran, und das wahrscheinlich auf lange Zeit. Für all diese Veränderungen stehen jetzt Syrer und Eritreer, und das löst Ängste aus, die keine Politik mit einem Zehn-Punkte-Plan beseitigen kann.

Die Zeit: Was haben Sie denn wirklich in der Hand, um die anderen Staaten Europas dazu zu bringen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

De Maizière: Die Verhandlungssituation ist kompliziert. In der Griechenlandrettung war klar, wenn Deutschland nicht mitmacht, entsteht ein großes Problem. In der Flüchtlingskrise ist es umgekehrt: Wenn sich nichts ändert, ist das für Deutschland schlecht und für die anderen gut. Und deswegen ist das Verhandeln schwieriger. Aber es ist nicht aussichtslos. Wir werden schon deutlich machen, dass Solidarität etwas ist, das die EU insgesamt auszeichnet.

Die Zeit: Wir haben Eurofighter ins Baltikum geschickt, um dort den Luftraum zu schützen, und erwarten nun im Gegenzug, dass die Balten mehr Flüchtlinge aufnehmen?

De Maizière: So einfach ist es natürlich nicht. Aber bei Verhandlungen ist ein wichtiger Grundsatz: "Man sieht sich immer mehrfach im Leben."

Die Fragen stellten Marc Brost und Heinrich Wefing für die Zeit.