"Leben zu retten, ist das wichtigste Ziel"

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Im Wortlaut: Merkel "Leben zu retten, ist das wichtigste Ziel"

"Über die Frage, wer wie viele Flüchtlinge aufnimmt, müssen wir weiter unablässig reden", so Kanzlerin Merkel in einem Interview. Europa durchlebe schwierige Prozesse und müsse schrittweise lernen, sich in der Globalisierung zu behaupten. Ein Fortschritt: Die EU-Türkei-Vereinbarung dämme das Schlepperwesen ein.

  • Interview mit Angela Merkel
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Bundeskanzlerin Merkel während einer Pressekonferenz in der Bundespressekonferenz.

Merkel: "Wir haben alle verstanden, dass wir die Außengrenzen der EU besser schützen müssen."

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Das Interview im Wortlaut:

BILD: Frau Bundeskanzlerin, am 4. September 2015 haben Sie die folgenschwere Entscheidung getroffen, mehrere Tausend Flüchtlinge ins Land zu lassen, nachdem Ungarn dem Ansturm nicht mehr gewachsen war. Mit dem Wissen von heute - würden Sie wieder so handeln?

Angela Merkel: Ja, das würde ich. Zu dem Zeitpunkt waren die Ankunftszahlen ja bereits über Monate rasant angestiegen. Schon vor dem 4. September war klar, dass wir es mit einer großen Herausforderung zu tun hatten. An jenem Wochenende ging es dann auch nicht darum, die Grenze für alle zu öffnen, sondern sie für diejenigen nicht zu schließen, die sich in großer humanitärer Not aus Ungarn zu Fuß auf den Weg zu uns gemacht hatten.

BILD: Tatsächlich wurde Ihre Entscheidung von zigtausend Menschen als Einladung verstanden und Ermunterung, sich überhaupt erst auf den Weg zu machen ...

Merkel: Nein, denn schon Mitte August hatte der Bundesinnenminister die Prognose abgegeben, dass wir im Jahr 2015 mit 800.000 Flüchtlingen rechnen müssten. Diese Prognose ist dann allerdings in der Tat zum Beispiel in Afghanistan von Schleppern als Bereitschaft Deutschlands, 800.000 Afghanen aufzunehmen, missbraucht und von manchen in der Folge missverstanden worden. Da wurde sichtbar, dass eine eigentlich an Länder und Kommunen hier bei uns gerichtete notwendige Prognose anderswo verdreht werden kann und wie vorsichtig man in einer Welt der globalen Kommunikation mit solchen Informationen umgehen muss.

BILD: Gibt es eine Entscheidung aus dieser Zeit, die Sie bereuen?

Merkel: Nein. Ich habe schon im August 2015 öffentlich darauf gedrängt, dass wir einen EU-Afrika-Gipfel brauchen, dass wir mit der Türkei reden müssen, dass wir uns mit der Bekämpfung der Fluchtursachen beschäftigen müssen. Es ist ja leider wahr, dass es vorher bei der Versorgung der Menschen in den Flüchtlingslagern im Libanon, in Jordanien und in der Türkei Versäumnisse gegeben hatte und Lebensmittelrationen aus Geldmangel gekürzt worden waren. Das darf sich nie wiederholen. Auch hatten wir die Türkei mit ihren gut drei Millionen Flüchtlingen zu lange alleine gelassen. Deshalb war und ist die EU-Türkei-Vereinbarung so wichtig, weil wir nur so den Schleppern das Handwerk legen und den Menschen besser helfen können.

BILD: Wäre es besser gewesen, die freundlichen Selfie-Fotos von Ihnen mit Flüchtlingen hätte es nicht gegeben?

Merkel: Kein Mensch trifft wegen eines Selfies die schwere Entscheidung, seine Heimat zu verlassen, sich mit seiner Familie in die Hand von Schleppern zu begeben, dafür viel Geld auszugeben und sein Leben aufs Spiel zu setzen.

BILD: Flüchtlinge konnten sich damals mit der Aussetzung des Dublin-Abkommens de facto aussuchen, in welchem Land sie leben möchten. Die meisten entschieden sich für Deutschland, mit seinem Wohlstand und den großzügigen Unterstützungsleistungen...

Merkel: Erstens ist Deutschland so oder so ein Land mit hoher Anziehungskraft, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern humanitär, und die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen, denn Abschottung ist keine vernünftige Option. Zweitens haben Schweden und Österreich im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zwischenzeitlich mehr Flüchtlinge als wir aufgenommen. Drittens stand das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge damals unter Druck, extrem viele Anträge möglichst schnell zu bearbeiten. Das BAMF hat das Dublin-Abkommen nicht einfach ausgesetzt, sondern Deutschland hat von seinem ausdrücklich vorgesehenen Recht Gebrauch gemacht, auf Rückführung der Flüchtlinge nach Ungarn zu verzichten.

BILD: Wussten Sie vorher von der Entscheidung des BAMF?

Merkel: Nein.

BILD: Was sagen Sie Ihren Kritikern, die Ihnen vorwerfen, mit Ihrer Entscheidung vom 4. September Rechtsbruch begangen zu haben?

Merkel: Dass das falsch ist. Rechtlich haben wir uns innerhalb der gegebenen Ermessensspielräume bewegt, und politisch war und ist die Freizügigkeit im Schengen-Raum wichtig.

BILD: Unsere europäischen Nachbarn haben Ihr Handeln in der Flüchtlingsfrage vor einem Jahr als Alleingang empfunden. Ist das der Grund, warum uns Europa bei der Verteilung von Flüchtlingen im Stich lässt?

Merkel: Nein, denn Europa insgesamt hatte sich schon sehr lange sehr schwer damit getan, die Dramatik der Flüchtlingskrisen zur Kenntnis zu nehmen. Zu keinem Zeitpunkt hatte es die hinreichende Bereitschaft in Europa gegeben, sich wirklich auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge zu einigen. Inzwischen jedoch sind wir mit der EU-Türkei-Vereinbarung und der verstärkten Unterstützung für die EU-Grenzschutzagentur Frontex zum Glück einen Schritt weitergekommen. Wir haben alle verstanden, dass wir die Außengrenzen der EU besser schützen und die Fluchtursachen bekämpfen müssen.

BILD: Hätten Sie sich jemals vorstellen können, dass die EU bei einer so großen Herausforderung so kolossal versagt? Hat die Flüchtlingswelle das Projekt Europa gleich mit unter sich begraben?

Merkel: Europa muss Schritt für Schritt lernen, sich in der Globalisierung zu behaupten. Gerade uns Deutschen hat die Globalisierung große Chancen und erheblichen Wohlstand gebracht. Aber sie hat eben auch Kehrseiten, die uns vor schwierige Lernprozesse stellen. Denken Sie an die Finanzkrise: Erst als die ersten Angriffe auf den Euro kamen, haben wir gemerkt, dass wir darauf nicht vorbereitet waren. Es brauchte eine Vielzahl von Maßnahmen, um die gemeinsame Währung zu schützen. Auch in der Flüchtlingskrise trifft uns die Globalisierung mit Wucht: Europa hat einen Raum der Freizügigkeit geschaffen, aber können wir ihn auch schützen? Jeder ist darauf vorbereitet, seine nationalen Grenzen zu schützen, aber wie machen wir das mit den Außengrenzen, gerade mit denen auf hoher See? Also: Europa hat nicht generell versagt, aber Europa durchlebt ohne jeden Zweifel schwierige Lernprozesse.

BILD: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Warum werden Flüchtlingsverweigerern wie Ungarn oder Polen nicht einfach die EU-Mittel gekürzt?

Merkel: Ich bin kein Mensch, der immer sofort an Bestrafung denkt. Wir haben eine gemeinsame europäische Migrationsagenda aufgestellt. Dazu muss jeder seinen Beitrag leisten. Deshalb ist es wichtig, dass etwa Polen beim Außengrenzschutz, bei der Nato-Mission in der Ägäis, bei der Entwicklungshilfe mitmacht. über die Frage, wer wie viele Flüchtlinge aufnimmt, müssen wir weiter unablässig reden.

BILD: Ihr Mantra ist immer gewesen: Außengrenzen schützen, faire Verteilung der Flüchtlinge, Bekämpfung der Fluchtursachen. Tatsächlich tobt der Krieg in Syrien schlimmer denn je, kann von einer fairen Verteilung keine Rede sein und lassen wir die EU-Außengrenze von der Türkei schützen. Das ist doch Scheitern auf ganzer Linie?

Merkel: Das sehe ich nicht so, denn mit der EU-Türkei-Vereinbarung ist es gelungen, das Schlepperwesen einzudämmen und Menschenleben zu retten, was das wichtigste Ziel ist. Außerdem sind wir bei der Bekämpfung der Fluchtursachen insoweit vorangekommen, als wir Türkei, Libanon und Jordanien bei der Versorgung von Flüchtlingen unterstützen.
Die Lebensmittelrationen sind gesichert, immer mehr Kinder erhalten jetzt eine Schulausbildung. Aber wir wissen auch, dass die Zahl der Migranten weltweit den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht hat und die Bekämpfung von Fluchtursachen also nicht allein Aufgabe von Europa ist, sondern eine humanitäre Verantwortung der ganzen Welt. Es liegt außerdem in der Natur der Sache, dass wir unsere Außengrenzen auf dem Mittelmeer nur gemeinsam mit den gegenüberliegenden Ländern schützen können, ob das Libyen ist, die Türkei oder Ägypten. Wer davor die Augen verschließt, der lügt sich in die Tasche. Und, ja, der schreckliche Bürgerkrieg in Syrien ist nicht beendet. Obwohl es gelungen ist, den IS aus wichtigen Städten in Syrien und im Irak zu vertreiben, tobt der Kampf gegen diese mörderischen Terroristen und das Assad-Regime weiter. Das ist eine einzige Katastrophe.

BILD: Fühlen Sie sich bei dem Flüchtlingsdeal wohl, von einem Mann wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abhängig zu sein?

Merkel: Zunächst einmal halte ich das Wort ,Deal' in diesem Zusammenhang für völlig unangemessen. Wir sprechen über eine umfassende Vereinbarung der EU mit der Türkei, die im gegenseitigen Interesse ist, da gibt es keine einseitige Abhängigkeit. Wir stehen in der Verantwortung, der Türkei zu helfen, Flüchtlinge nahe ihrer Heimat zu beherbergen. Die Türkei ihrerseits kann kein Interesse daran haben, dass jeden Tag Menschen in der Ägäis ertrinken und sich Schlepper und andere Kriminelle in den türkischen Küstenstädten breitmachen. Es ist im Interesse beider Seiten, der EU wie der Türkei, Legalität herzustellen.

BILD: Was ist, wenn Erdogan den Deal an der Visumsfrage scheitern lässt? Er hat ein Ultimatum gestellt, nämlich Oktober.

Merkel: Die Europäische Union ist gewillt, ihren Teil der Flüchtlingsvereinbarung einzuhalten. Ich gehe davon aus, dass das auch für die Türkei gilt. Vereinbart wurde eine Beschleunigung der ohnehin verabredeten Visa-Liberalisierung - unter der Bedingung, dass die Türkei alle Kriterien hierfür erfüllt. Das ist bei sehr vielen Kriterien gelungen, aber eben noch nicht bei allen.

BILD: War es der Türkei-Deal oder war es in Wahrheit vor allem die Entscheidung der Länder der Balkanroute, ihre Grenzen zu schließen, die den Flüchtlingszustrom nach Deutschland so massiv gestoppt haben?

Merkel: Wie schon oft gesagt, hat die Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze natürlich zunächst dazu geführt, dass in Deutschland weniger Flüchtlinge ankamen, aber mit der Folge, dass in Griechenland in den Wochen der Schließung der Balkanroute bis zum Wirksamwerden des Türkeiabkommens etwa 45.000 Migranten gestrandet sind. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl Deutschlands wären das in einem Monat 360.000 Flüchtlinge gewesen. Sie können sich ausrechnen, was das für Griechenland - ein Land ohnehin am Rande seiner Möglichkeiten - bedeutet. Griechenland mit dem Problem allein zu lassen, wäre nicht gegangen. Deshalb ist die EU-Türkei-Vereinbarung der Schlüssel zur Überwindung des Schlepperwesens in der Ägäis und zur Stabilisierung der Lage in Griechenland. Vieles ist erreicht, aber die Krise ist längst nicht überwunden, so sind bisher erst 3.000 Flüchtlinge von Griechenland weiter auf die europäischen Mitgliedsstaaten verteilt worden. In Italien kommen nach wie vor viele Flüchtlinge an, die allerdings inzwischen alle ordnungsgemäß registriert werden.

BILD: Mit den Anschlägen von Ansbach und Würzburg sind die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden, dass unter den Flüchtlingen auch islamistische Terroristen ins Land gekommen sind. Verstehen Sie, wenn viele Bürger sagen: „Wir schaffen das" - das reicht uns nicht mehr?

Merkel: Der Gedanke ,Wir schaffen das' macht deutlich, dass diese Herausforderung eine ganz besonders große war und ist, dass wir zupackend an sie herangehen und dass wir dort, wo uns etwas im Wege steht, dies überwinden wollen. Der Gefahr des islamistischen Terrorismus ist Deutschland seit Langem ausgesetzt, das ist nicht erst seit Ansbach und Würzburg so. Wir wissen, dass auch aus Deutschland Dschihadisten nach Syrien gegangen, dort beim IS und anderen Terrorgruppen ausgebildet wurden und dann zum Teil wieder zurückgekehrt sind. Wir wissen außerdem auch, dass nicht alle Flüchtlinge mit guter Absicht gekommen sind, und wir müssen grundsätzlich sehr aufmerksam sein, weil der islamistische Terrorismus unsere Sicherheitsbehörden vor große Herausforderungen stellt. Wir sollten aber nie vergessen, dass die allermeisten der Syrer und Iraker zu uns vor Krieg und Terror geflohen sind und Gewalt und Extremismus genauso ablehnen wie wir. Ich verstehe dennoch, dass sich nach Würzburg und Ansbach viele Menschen Sorgen machen. Deshalb stellen sich uns zwei große Aufgaben: Zum einen müssen wir all die integrieren, die längere Zeit oder auf Dauer bei uns bleiben werden. Wir müssen von ihnen auch den Willen zur Integration einfordern. Zum anderen müssen wir alles Menschenmögliche tun, um den islamistischen Terror zu bekämpfen und Anschläge zu verhindern.

BILD: Schlafen Sie eigentlich ruhig bei dem Gedanken, dass unsere Sicherheitsdienste von Zigtausenden Flüchtlingen nicht einmal die Identität kennen?

Merkel: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeitet mit Hochdruck daran, bei der Registrierung in Kürze den vollen Überblick zu haben. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es auch Attentäter gab, die bereits als Flüchtlinge registriert waren. Wir haben daraus gelernt, dass die einfache Eurodac-Registrierung nicht reicht, sondern mit anderen Datenbanken verknüpft werden muss, zum Beispiel mit dem Schengener Informationssystem, wo kriminelle und terroristische Aktivitäten verzeichnet sind. Die Anschläge von Ansbach und Würzburg, deren Täter ordentlich registriert waren, haben uns zudem gezeigt, dass wir bessere Frühwarnsysteme brauchen. Auf europäischer Ebene sollten wir uns daran machen, ein elektronisches Einreise-Kontrollsystem nach dem Vorbild der USA aufzubauen. Das heißt, man registriert, wer in ein europäisches Land kommt, ob mit oder ohne Visum, und wer wieder ausreist, damit man genau weiß, wer nicht ausgereist ist und sich noch irgendwo im Schengen-Raum aufhält.

BILD: Macht Ihnen der Gedanken Angst, dass in Afrika ein Potenzial an Migranten steckt, das die Kriegsflüchtlinge aus Syrien um zig Millionen übersteigt. Was, wenn diese Menschen sich auf den Weg nach Europa, nach Deutschland machen?

Merkel: Ich halte es für unverzichtbar, die wirtschaftlichen Perspektiven dieses Kontinents mit 1,3 Milliarden Menschen zu verbessern und mit den Ländern dort zusammenzuarbeiten. Deshalb wollen wir als EU Migrationspartnerschaften mit wichtigen Herkunfts- und Transit-Ländern wie Niger oder Mali schließen.

BILD: Viele Bürger treibt um, dass Sie bei Ihrer Fürsorge für die Flüchtlinge die Sorgen der Bevölkerung aus den Augen verlieren. Ein beliebtes Beispiel: Darf es sein, dass ein Rentner in Deutschland weniger vom Staat erhält als beispielsweise ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling kostet?

Merkel: Einen solchen Unterschied zwischen Rente und Kosten der Jugendhilfe gibt es nicht nur mit Blick auf Flüchtlinge, es gibt ihn auch bei deutschen minderjährigen Kindern, die zum Beispiel einen Heim-Aufenthalt brauchen. Wir haben uns bei der Mindestversorgung der Flüchtlinge an Standards und an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu halten, aber wir haben für niemanden in Deutschland wegen der Flüchtlingshilfe Leistungen gekürzt, im Gegenteil gab es in den letzten Jahren ja mancherlei soziale Verbesserungen. Finanzieren konnten wir das alles, weil wir seit Jahren eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik betreiben. Für Neiddebatten gibt es also keinen Anlass.

BILD: ... aber Grund zur Sorge?

Merkel: Angesichts der guten wirtschaftlichen Lage können wir die Herausforderungen meistern, und vergessen wir nicht: Wenn uns die Integration der Flüchtlinge gelingt, nützt das beiden Seiten.
Natürlich gilt auch, dass die, die bei uns Schutz finden, unsere Regeln, einzuhalten haben, unsere Gesetze, unsere Verfassung akzeptieren müssen und sich auch um Ausbildung und Arbeit zu kümmern haben, um ihren Beitrag zu unserem Land zu leisten. Das beginnt in den meisten Fällen mit der Teilnahme an Integrationskursen. Im Kern geht es doch um diesen einen Punkt: Wir sind ein Land, das die Würde jedes einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Und wenn man vor einer solchen humanitären Katastrophe wie der in Syrien steht, dann muss man dazu eine Haltung einnehmen.
Es ist vollkommen klar, dass sich ein solches Jahr wie das letzte nicht einfach wiederholen kann, weshalb wir ja all die beschriebenen Maßnahmen ergriffen haben. Dass wir uns aber dieser humanitären Verantwortung gestellt haben und weiter stellen, war richtig. Dabei haben wir niemandem hierzulande etwas weggenommen. Die große Aufgabe der Politik, das Lebensniveau der Menschen in Deutschland zu halten und zu verbessern, erfüllen wir heute genauso gut wie vorher.

BILD: Geschafft haben wir in der Tat die Erstversorgung von mehr als einer Million Menschen. Die größere Herausforderung kommt noch: Wie integrieren wir so viele Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis, nachdem wir doch bereits in den vergangenen Jahrzehnten an dieser Aufgabe in vielen Bereichen grandios gescheitert sind?

Merkel: Wir haben zum Glück eine Menge aus der Vergangenheit gelernt, vor allem, dass Sprache der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration ist. Je jünger die Menschen sind, umso leichter wird die Integration gelingen. Es ist alle Mühe wert, sich dieser Anstrengung zu stellen. Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die sich dafür einsetzen, dass diese Integration gelingt. Das sind ja nicht nur die staatlichen Stellen, sondern vor allem unzählige Vereine, Initiativen und ehrenamtlichen Helfer.

BILD: Was würden Sie einem Muslim sagen, der Ihnen nicht die Hand geben möchte?

Merkel: Ich würde mit ihm darüber sprechen, dass es bei uns üblich ist, einander die Hand zu geben.

BILD: Was vor einem Jahr noch an Euphorie und Willkommenskultur herrschte, ist einer tiefen Skepsis gewichen. Glauben Sie, dass die Mehrheit der Deutschen noch hinter Ihrer Flüchtlingspolitik steht?

Merkel: In der Politik gibt es immer wieder Entscheidungen, die man fällen muss, ohne vorher eine Meinungsumfrage zu machen, aber natürlich wünsche ich mir, dass wir auf lange Sicht durch die Ergebnisse unserer Arbeit möglichst viele Menschen davon überzeugen können, dass unser Weg der richtige ist. Im Übrigen: Wenn ich nach der Rente mit 67 frage, habe ich auch heute immer noch keine Mehrheit dafür, und trotzdem bleibt sie richtig und notwendig.

BILD: Warum tun Sie sich so schwer damit, den Deutschen mitzuteilen, ob Sie 2017 als Kanzlerkandidatin dabei sind oder nicht?

Merkel: (lächelt) Sie können fragen, wie Sie wollen - ich werde meine Entscheidung zum gegebenen Zeitpunkt mitteilen.

Das Interview führten Kai Diekmann, Tanit Koch und Julian Reichelt für die

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