Unsere historische Verantwortung für die EU

Regierungserklärung zum Brexit Unsere historische Verantwortung für die EU

Kanzlerin Merkel hat nach dem Brexit-Referendum zur Geschlossenheit der verbleibenden 27 EU-Staaten aufgerufen. Jeder Vorschlag, der die EU als Ganzes aus der Krise führen könne, sei willkommen. Fliehkräfte dürften nicht gestärkt werden. "Die EU ist stark genug, um den Austritt Großbritanniens zu verkraften", so Merkel.

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Kanzlerin Merkel am Rednerpult

Merkel: Großbritannien bleibt ein wichtiger Partner für die Europäische Union und Deutschland.

Foto: Bundesregierung/Steins

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor dem Deutschen Bundestag noch einmal ihr Bedauern über den geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU zum Ausdruck gebracht und gleichzeitlich leidenschaftlich an "unsere historische Verantwortung für Europa" erinnert. Die Bundeskanzlerin zeigte sich in ihrer Regierungserklärung zum Brexit-Referendum zuversichtlich, dass die EU mit diesem "Einschnitt für Europa und den europäischen Einigungsprozess" umzugehen wisse. Zugleich betonte sie: "Wir brauchen nicht mehr oder weniger Europa. Ein erfolgreiches Europa ist das Gebot der Stunde".

Die Kanzlerin forderte die 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten zur Geschlossenheit auf. "Jeder Vorschlag, der die EU der 27 als Ganzes aus dieser Krise führen können, sei willkommen. Jeder Vorschlag, der dagegen die Fliehkräfte stärke, die Europa schon so sehr strapazierten, "hätte unabsehbare Folgen für uns alle. Er würde Europa weiter spalten." Merkel betonte: "Ich werde mich mit ganzer Kraft, und das wird auch die ganz Bundesregierung tun, dafür einsetzen, dies zu verhindern." Sie sehe gute Möglichkeiten, dass "uns dies gelingen kann".

Video Regierungserklärung der Kanzlerin

Fahrplan nach dem Referendum in Großbritannien

Zu Beginn ihrer Regierungserklärung am Dienstag im Deutschen Bundestag erklärte Merkel, dass Europa schon viele Krisen und Herausforderungen überstanden habe. Eine mit jetzt vergleichbare Situation habe es seit der Verabschiedung der Römischen Verträge vor etwas 60 Jahren jedoch noch nicht gegeben. Umso wichtiger sei es nun, über den weiteren Prozess zu beraten. Merkel bezog sich auch auf den Europäischen Rat, der Dienstag und Mittwoch tagt. Fünf Tage nach dem Referendum sei nun klarer, was zu tun sei:

Erstens: Es komme nun darauf an, dass die 27 anderen Mitgliedsstaaten sich als "willens und fähig erweisen", auf der Grundlage einer mit Ruhe und Besonnenheit vorgenommenen Analyse der Situation gemeinsam die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Großbritannien ist zunächst am Zug

Zweitens: Zunächst liege es an Großbritannien selbst, zu erklären, wie es sein zukünftiges Verhältnis zur EU gestalten wolle. Merkel hob hervor, dass die Europäischen Verträge nach Artikel 50 hierfür die Grundlage seien. Danach müsse das Land, was aus der EU austreten wolle, zunächst den Europäischen Rat offiziell über seinen Austrittswunsch unterrichten. Danach legten die anderen Mitgliedstaaten die Leitlinien für die Verhandlungen fest. "Erst danach können die Verhandlungen beginnen, nicht vorher - weder formell, noch informell", betonte Merkel. Solange die Verhandlungen liefen, bleibe Großbritannien Mitglied der Europäischen Union. Alle Rechten und Pflichten einer Mitgliedschaft würden solange weiter gelten - für beide Seiten.

Jeder Mitgliedstaat kann beschließen, freiwillig aus der EU auszutreten. Das Verfahren regelt Art. 50 EU-Vertrag. Danach wird zunächst Großbritannien dem Europäischen Rat seine Absicht zum Austritt mitteilen. Dann wird die EU mit dem Vereinigten Königreich ein Abkommen aushandeln, in dem die Einzelheiten des Austritts und die künftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien geregelt sind. Sobald das Austrittsabkommen in Kraft tritt oder spätestens nach einer Frist von zwei Jahren (die auch verlängert werden kann), gelten die Europäischen Verträge für das Vereinigte Königreich nicht mehr.

Drittens: Das künftige Verhältnis zwischen Deutschland, der EU und Großbritannien müsse dabei weiterhin auf einer engen und freundschaftlichen Basis beruhen. Die Austrittsverhandlungen dürften die Errungenschaften der EU nicht infrage stellen. Deutschland werde sich insbesondere für die Interessen der deutschen Bürgerinnen und Bürger sowie der deutschen Unternehmen einsetzen. Insbesondere komme es darauf an, Sicherheit für die in Großbritannien lebenden Deutschen zu gewährleisten.

Merkel: Keine "Rosenpickerei" bei den Verhandlungen

Viertens: "Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der "Rosenpickerei" geführt werden", erklärte Merkel. Es müsse einen spürbaren Unterschied geben, ob ein Land Mitglied der EU sein wolle oder nicht. Wer aus der Familie austreten möchte könne nicht erwarten, dass alle Pflichten entfallen, die Privilegien aber weiterhin bestehen blieben. "Wer beispielsweise freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben möchte, der wird im Gegenzug auch die europäischen Grundfreiheiten und die anderen Regeln und Verpflichtungen akzeptieren müssen, die damit einhergehen", sagte Merkel. Das gelte für Großbritannien genauso wie für alle anderen.

Menschen sollen sich mit Europa identifizieren können

Fünftens: Die Frage, die sich jetzt stelle, sei nicht mehr oder weniger Europa, sondern es gehe um ein "erfolgreiches Europa", so Merkel. "Ein erfolgreiches Europa ist ein Europa, an dem die Bürger teilhaben können, mit dem sie sich identifizieren können und das ihr Leben spürbar verbessert". Das sei das Gebot der Stunde, erklärte die Kanzlerin. Das sei eine Aufgabe für die Institutionen der EU und die Mitgliedstaaten gleichermaßen. "Ein erfolgreiches Europa, das ist ein Europa, das seine Verträge und seine Versprechen einhält. Das ist uns in der Vergangenheit wirklich nicht immer gelungen.“

Im Vertrag von Lissabon sei den Menschen Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze versprochen worden. Jetzt sei es wichtig, einen neuen Anlauf zu nehmen, um Europa wettbewerbsfähiger zu machen. Konkret sei es beispielsweise wichtig, die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. "Nur so werden wir auch vielen Menschen ihre grundsätzlichen Zweifel an der Richtigkeit des europäischen Einigungsprozesses nehmen", zeigte sich die Kanzlerin überzeugt.

EU war eine "Friedensidee"

Sechstens: "Wir müssen unsere Schlussfolgerungen aus dem Referendum in Großbritannien mit historischem Bewusstsein ziehen: Die Idee der Europäischen Einigung sei eine "Friedensidee" gewesen. Die Gründungsväter hätten den Weg zu Frieden und Versöhnung gefunden. Aktuell sei die Welt eine "Welt in Unruhe". Es gebe Kriege und Konflikte "in unserer unmittelbaren Nachbarschaft". Es gebe außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen, die den Europäern niemand abnehmen werde. Deshalb dürfte bei aller Aufmerksamkeit für das britische Referendum die Lage beispielsweise der syrischen Flüchtlinge oder der Flüchtlinge aus dem Irak keine Sekunde aus den Augen verloren werden. Das EU-Türkei-Abkommen greife, aber es sei noch nicht vollständig umgesetzt.

"Es führt kein Weg daran vorbei: Nur gemeinsam werden wir die vielfältigen Aufgaben bewältigen". Merkel nannte die weltweiten Fluchtbewegungen, den Klimawandel, die Bekämpfung des Hungers und den internationalen Terrorismus. Deshalb sei es wichtig, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Verbund mit den transatlantischen Partnern fit zu machen. Diese Aufgaben seien zu groß, als dass sie ein einzelner Staat alleine lösen könne.

Werte Europas verteidigen

Deutschland habe ein besonderes Interesse daran, dass die europäische Einigung gelinge. Deutschland trage gemeinsam mit Frankreich die besondere historische Verantwortung, die Errungenschaft von der europäischen Einigung zu wahren und zu schützen . "Und dieser Verantwortung stellen wir uns", so Merkel. Deshalb habe sie sich am Montag mit Frankreichs Präsident Hollande und Italiens Ministerpräsidenten Renzi getroffen, um weitere Schritte zu vereinbaren. Es gelte, die EU weiterzuentwickeln. Ziel sollte sein, bis zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2017 ein gemeinsames Ergebnis zur Neugestaltung der EU vorzulegen.

"Wir können stolz sein auf unsere gemeinsamen europäischen Werte, auf Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Und wir können stolz sein auf unser einzigartiges Gesellschaftsmodell um das uns viele in der Welt beneiden und das wir im globalen Wettbewerb zu behaupten haben", sagte Merkel. "Die Europäische Union ist stark genug, um den Austritt Großbritanniens zu verkraften, sie ist stark genug, um auch mit 27 Mitgliedstaaten weiter voran zu schreiten. Sie ist stark genug, auch künftig ihre Interessen der Welt zu vertreten", so die Kanzlerin zum Abschluss ihrer Regierungserklärung.