Rede zur Eröffnung des Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde

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- Es gilt das gesprochene Wort. -

Anrede,

Am 3. März 1945 erhielt Dora Schönfelder einen Brief der Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz, in dem man sie über den Tod ihrer 27jährigen Tochter informierte. Ich zitiere: „Marianne ist an einer plötzlichen Kreislaufstörung verstorben. Sie hatte ja ohnehin ein Herzleiden. Wir nehmen an Ihrer Trauer aufrichtig Anteil. Wollen Sie, sehr geehrte Frau Schönfelder, aber auch bedenken, dass der Tod, der Ihnen Ihre Tochter nimmt, dieser die Erlösung von einem gänzlich hoffnungslosen und nicht mehr lebenswerten Dasein gebracht hat. Er ist unserer Ansicht nach eine Fügung, für die Sie sehr dankbar sein dürfen.“

Meine Damen und Herren, Sie kennen Marianne vielleicht vom Sehen: ihr hübsches, fein geschnittenes Gesicht, ihren blonden Pagenkopf, ihr Lächeln, das ein bisschen verlegen wirkt. Der Maler Gerhard Richter war ihr Neffe; er hat nach der Vorlage eines alten Schwarz-Weiß-Fotos ein Ölgemälde gemalt, das ihn als vier Monate alten Säugling mit "Tante Marianne", der damals 14jährigen Schwester seiner Mutter zeigt. Das Bild ging 2004 durch die Medien, nachdem Mariannes Schicksal durch einen Beitrag des Berliner Tagesspiegel bekannt geworden war. Als 21jährige wurde Marianne mit der Diagnose Schizophrenie in die Heilanstalt Arnsdorf eingewiesen und dort zwangssterilisiert. Sieben Jahre später starb sie an Medikamentenüberdosierung, systematischer Mangelernährung und unzureichender Pflege in der Landesanstalt Großschweidnitz.

So wie Marianne fielen in ganz Europa etwa 300.000 kranke und behinderte Menschen der so genannten "Vernichtung lebensunwerten Lebens" durch die Nationalsozialisten zum Opfer. In sechs Tötungsanstalten wurden von Januar 1940 bis August 1941 mehr als 70.000 Menschen ermordet. Nach der formellen Einstellung der Gasmorde wurden bis 1945, so wie Marianne, viele weitere Menschen durch Überdosierung mit Medikamenten, Nahrungsentzug und Vernachlässigung ums Leben gebracht. Opfer waren Menschen mit geistiger Behinderung, körperlich behinderte Menschen, psychisch Kranke, chronisch Kranke, Menschen, die an Epilepsie, Alterssenilität oder Geschlechtskrankheiten litten, - und Menschen, die als unangepasst, als "asozial" galten. Ihrer Identifikation, Verfolgung und Ermordung diente die "Aktion T4", benannt nach der Adresse der zuständigen Dienststelle in der Tiergartenstraße 4. Sie war nur ein Teil des umfassenden Massenmordes an Kranken und Behinderten im Dritten Reich.

An diesem Ort, den wir heute als Gedenk- und Informationsort der Öffentlichkeit übergeben, wurde die Vernichtung lebensunwerten Lebens geplant, organisiert und verwaltet. Verwaltungsanweisungen und Krankenakten zeugen davon, darin Notizen, aus denen auf bestürzende Weise die kalte Verachtung des selektierenden Blicks spricht. So ist zum Beispiel über die 21jährige Elisabeth im Meldebogen eines Pflegeheims unter der Rubrik "Genaue Angabe der Beschäftigung" zu lesen: „praktisch für nichts zu verwenden. Völlig unbrauchbare Ruine.“

Die Verbrechen der Nationalsozialisten aufzuarbeiten, ihrer Opfer zu gedenken und die Erinnerung auch in nachfolgenden Generationen wach zu halten, ist und bleibt eine immerwährende Aufgabe und moralische Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Der Anspruch an uns selbst, moralisch angemessen mit den Abgründen der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein identitätsstiftendes Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen, gehört zum Selbstverständnis unserer Nation.

Lange - zu lange - hat es gedauert, bis Deutschland auch dem Gedenken an die Opfer der "Euthanasie"-Morde und der Zwangssterilisationen öffentlich Raum gegeben hat. Immerhin: Seit Ende der 1980er Jahre erinnern eine in den Boden eingelassene Gedenktafel und eine nachträglich umgewidmete Plastik von Richard Serra in der Tiergartenstraße 4 an die Bürokratie der Selektion und Vernichtung so genannten "lebensunwerten" Lebens. Auch hier, auch in diesem Fall, waren es bürgerschaftliche Initiativen, insbesondere der 2007 von Ihnen, liebe Frau Falkenstein, ins Leben gerufenen Runde Tisch, die wesentlich dazu beigetragen haben, den Weg zu bahnen für ein würdiges Gedenken.

Ehemalige Tötungsanstalten der Aktion "T4" erhalten wir zwar schon länger als Gedenkorte. Doch erst im November 2011 fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, den Opfern der "Euthanasie"-Morde auch am historischen Ort hier in der Tiergartenstraße einen sichtbaren Gedenkort zu geben, der - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen - selbstverständlich barrierefrei gestaltet ist. Danke, liebe Frau Falkenstein, für Ihr Engagement! Danke auch Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern und all denen, die daran Anteil haben, dass wenigstens die Erinnerung an die Menschen, denen man im Dritten Reich wegen ihrer Krankheit oder Behinderung das Recht auf Leben versagt hat, im öffentlichen Bewusstsein lebendig bleibt!

Erinnerung ist noch mehr, als das Andenken zu pflegen. An die Opfer der Aktion "T4" zu erinnern heißt auch, der menschenverachtenden Unterscheidung zwischen "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben die Überzeugung entgegen zu setzen, dass jedes menschliche Leben es wert ist, gelebt und geliebt zu werden. Der Gedenkort "T4" konfrontiert uns mit einem Denken, das sich anmaßt, den Wert des einzelnen Lebens zu beurteilen: mit der Lebensvernichtungsbürokratie, die man daraus legitimierte, aber auch mit den Motiven und Gesinnungen der üblen Verwalter und brutalen Vollstrecker.

Die rassenideologischen Überlegungen und das kalte ökonomische Kalkül, das die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens an seiner so genannten "Nützlichkeit" und "Brauchbarkeit" für die Gesellschaft bemaß, waren nur ein Teil der Motive, die die Aktion "T4" in Gang setzten und befeuerten. Damit einher ging auch eine Deformierung moralischen Empfindens, die viele Menschen zu der Überzeugung gelangen ließ, die Tötung kranker und behinderter Menschen wäre ein Akt des Mitleids und deshalb auch ethisch legitim.

"T4", meine Damen und Herren - erlauben Sie mir diese ganz persönliche Bemerkung -, sollte uns eine immerwährende Mahnung und Warnung sein: eine Warnung davor, Ausnahmen zuzulassen in der fundamentalen staatlichen Pflicht, das Recht jedes Menschen auf Leben zu schützen; eine Warnung auch davor, in aktuellen Diskussionen über das Leid Schwerstkranker das Tötungsverbot leichtfertig zur Disposition zu stellen. Das ist meine persönliche, tiefe Überzeugung als gläubige Katholikin. So verständlich das Motiv, einen kranken Menschen von seinen Qualen erlösen zu wollen, im Einzelfall auch sein mag, so unerträglich sind die Folgen für die Humanität einer Gesellschaft. Wo es die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe gibt, entsteht auch die Erwartung, sie in Anspruch zu nehmen, um anderen nicht durch die eigene Hilfsbedürftigkeit zur Last zu fallen. Das verändert familiäre Beziehungen, das hat Folgen für die Bereitschaft zur Solidarität mit den Schwachen und Kranken, das bleibt nicht ohne Wirkung auf das Wertegefüge, auf den Charakter einer Gesellschaft!

Es war ein Bischof aus meiner Heimatstadt Münster - Bischof Clemens August von Galen -, der im Dritten Reich mit unerschütterlichem Mut gegen die "Euthanasie"-Morde anpredigte und eindringlich vor dem moralischen Dammbruch warnte, den eine gesellschaftlich akzeptierte Einteilung menschlichen Lebens in "lebenswertes" und "lebensunwertes" Leben zur Folge haben würde. In seiner Predigt vom 3. August 1941 heißt es: „Es ist nicht auszudenken, welche Verwilderung der Sitten, welch allgemeines gegenseitiges Misstrauen bis in die Familien hineingetragen wird, wenn diese furchtbare Lehre geduldet, angenommen und befolgt wird.“

Die Geschichte hat Bischof von Galen auf traurige Weise Recht gegeben. Der Gedenkort "T4" erinnert uns daran. Möge er das Andenken an die Opfer bewahren und zum Nachdenken anregen über das, was eine humane Gesellschaft ausmacht!