Rede von Staatsministerin Grütters auf der Konferenz "Den Opfern einen Namen geben"

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Schon der lange und im zweiten Teil doch relativ sperrige Titel der heutigen Tagung verrät, dass wir uns ein in jeder Hinsicht - rechtlich wie ethisch - anspruchsvolles Thema vorgenommen haben: Herzlich willkommen zur Fachkonferenz "Den Opfern einen Namen geben - Gedenken und Datenschutz im Zusammenhang mit der öffentlichen Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken"!

"Name ist Schall und Rauch", heißt es in Goethes Faust, was so viel bedeutet wie: Er ist vergänglich, ohne Bedeutung, ohne Konsequenz. Für die allermeisten unter uns dürfte diese Redewendung allerdings nicht der eigenen Wahrnehmung entsprechen. Vielmehr erscheinen uns unsere Namen als Teil unserer Identität. Sie kennzeichnen uns als Individuen, sie heben uns aus der Masse hervor. Thomas Mann, bekannt für die sprechenden Namen seiner Romanfiguren, formulierte es so: "Der Name ist ein Stück des Seins und der Seele".

Die Opfer der Nationalsozialisten wurden dieses Stücks ihres Seins und ihrer Seele beraubt. Sie wurden Teil einer anonymen Masse von "Juden" oder "Homosexuellen" - um nur zwei Beispiele zu nennen. In den Konzentrationslagern bekamen sie anstelle ihres Namens eine Nummer. Vor diesem Hintergrund legen wir heute Wert darauf, der Opfer als Individuen zu gedenken - beispielsweise im „Raum der Namen“ (er gehört zum Ort der Information im Denkmal für die ermordeten Juden Europas) oder in Form der in vielen KZ-Gedenkstätten erarbeiteten, so genannten Totenbücher. Die Konfrontation mit Einzelschicksalen hilft uns auch, die Dimension des unendlichen Leids, das die nationalsozialistische Vernichtungspolitik verursacht hat, zumindest ansatzweise zu begreifen. Von einem Menschenleben, von einem Einzelschicksal zu erzählen, heißt, es der monströsen und unfassbaren Abstraktheit reiner Zahlen ("sechs Millionen Juden") zu entreißen.

Deshalb ist die Diskussion über die namentliche Nennung von Opfern des Nationalsozialismus, insbesondere von Opfern der NS-"Euthanasie", so wichtig. Im Kern geht es um die Frage, ob Namen und weitere Daten von Opfern des Nationalsozialismus zugänglich gemacht und veröffentlicht werden dürfen und sollen - und wenn ja, wie und in welchem Umfang. Einerseits wollen wir den Opfern ihre Identität und ihre Würde zurückgeben und damit unserer immerwährenden Verantwortung für ein würdiges Gedenken gerecht werden. Andererseits dürfen wir dabei die legitimen und schutzwürdigen Interessen insbesondere der Angehörigen nicht ausblenden. So traurig es ist: Die Zugehörigkeit eines nahen Verwandten zu einer bestimmten Opfergruppe - zu den Opfern der NS-"Euthanasie", zu den von den Nazis als "Asoziale" oder "Berufsverbrecher" bezeichneten Gruppen - kann bis heute mit einer gewissen Stigmatisierung verbunden sein.

Umso wichtiger ist es, dass wir uns fundiert und differenziert mit diesen Fragen auseinander setzen und unsere Erinnerungskultur auch immer wieder reflektieren. Ich bin dankbar, dass wir dafür auf dieser von meinem Haus initiierten und finanzierten Konferenz so viele kompetente Redner und Diskutanten aus der Wissenschaft, aus Gedenkstätten und Archiven versammeln konnten. Vielen Dank, meine Damen und Herren, dass Sie diesem Spannungsfeld unserer Erinnerungskultur die Aufmerksamkeit schenken,
die es verdient.

Wir alle wissen nur zu gut, wie lange - viel zu lange! - es in Deutschland gedauert hat, bis wir auch dem Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“-Morde öffentlich Raum gegeben haben. Die Ermordung kranker und behinderter Menschen, insbesondere die so genannte "Vernichtung lebensunwerten Lebens" - bewusst verharmlosend als "Euthanasie" bezeichnet -, war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie. Die "Aktion T4" - benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, der Adresse der für die Planung und Organisation der Morde zuständigen Dienststelle - richtete sich gegen Menschen mit geistiger Behinderung und psychisch Kranke, gegen Menschen mit körperlicher Behinderung oder chronischen Krankheiten, gegen Menschen, die an Epilepsie, Alterssenilität oder Geschlechtskrankheiten litten sowie gegen unangepasst lebende Menschen, so genannte "Asoziale".

Es waren einmal mehr bürgerschaftliche Initiativen, die wesentlich dazu beigetragen haben, den Weg zu bahnen für ein würdiges Gedenken.

Ehemalige Tötungsanstalten der Aktion "T4" erhalten Bund und Länder zwar schon länger als Gedenkorte. Denn die 2008 fortgeschriebene Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt die Opfer der nationalsozialistischen Morde an Behinderten ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Doch erst im November 2011 fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, den Opfern der „Euthanasie“-Morde auch am historischen Ort in der Tiergartenstraße einen sichtbaren Gedenkort zu geben. Im September 2014 schließlich haben wir den Gedenkort "T4" (Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde) als viertes zentrales Denkmal für Opfer des Nationalsozialismus in Berlin eingeweiht. Endlich setzen wir uns auch an diesem Ort in angemessener Weise mit einem Denken auseinander, das sich anmaßt, den Wert des einzelnen Lebens zu beurteilen! „T4“ zeigt uns, was es heißt, die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens an einer so genannten "Nützlichkeit" und "Brauchbarkeit" für die Gesellschaft zu bemessen. Umso trauriger, dass die damalige Bewertung von Krankheit und Behinderung bis heute ein Stigma sein kann - ein Stigma, mit dem der eigene Familienname nicht in Verbindung gebracht werden soll.

Ich kann mir vorstellen, welch emotionalen Konflikten die Angehörigen von Opfern der Nationalsozialisten sich damit ausgesetzt sehen.

Ihnen liegt es ja ganz besonders am Herzen, dass ihre Mütter und Väter, Großmütter und Großväter, Tanten und Onkel und andere Verwandte als die Menschen, die sie waren, in der Erinnerung präsent bleiben. Hinzu kommt, dass es sich beispielsweise bei den im Bundesarchiv verwahrten Krankenakten der "Euthanasie“-Opfer" um Unterlagen handelt, die innerhalb eines mit menschenrechtswidrigen Methoden arbeitenden Systems angelegt worden sind - auch diesen Aspekt dürfen wir nicht außer Acht lassen. Gerade weil Deutschland so ungeheure Schuld auf sich geladen hat, gerade weil es unsere Pflicht und Verantwortung bleibt, das Geschehene niemals zu vergessen, werden wir Widersprüche und Spannungen als Folgen einer intensiven Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit immer wieder aushalten müssen. Falsch wäre, sie zu verdrängen. Richtig ist, sich ihnen zu stellen - in Diskussionen und ruhig auch kontroversen Debatten.

Deshalb habe ich diese Konferenz zur Frage des Umgangs mit den personenbezogenen Daten von NS-Opfern und ihrer Verwendung in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken, aber auch ganz grundsätzlich in der Wissenschaft, Archiv- und Gedenkstättenarbeit angeregt. Ich danke den Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Topographie des Terrors sowie dem Bundesarchiv, dass sie diesen Vorschlag so schnell und beherzt angenommen haben. Das zeigt, wie sehr das Bedürfnis, angemessen zu erinnern - in einer Weise, die den Opfern und ihren Angehörigen gerecht wird -, viele Menschen bewegt, die im Archivwesen, in der Forschung oder in Gedenkstätten beruflich damit befasst sind.

Der heutige Tag soll Ihnen, verehrte Damen und Herren, ein Forum bieten, um gemeinsam über das Spannungsverhältnis zu diskutieren, das zwischen dem Wunsch und dem Auftrag, "den Opfern einen Namen [zu] geben" einerseits und andererseits den dabei zu berücksichtigenden schutzwürdigen Bedürfnissen und Belangen Dritter besteht. Berichte aus der Perspektive von Wissenschaft und Forschung sowie aus der Praxis des Bundesarchivs und der Gedenkstättenarbeit werden die Relevanz und Problematik des Themas dabei sicherlich ebenso verdeutlichen wie die natürlich ebenfalls zu Wort kommende Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen. Fest steht aus meiner Sicht schon jetzt, dass es einfache, gar schematische Antworten dabei nicht geben kann. Die Entscheidung über den Umgang mit personenbezogenen Daten erfordert in den Fällen, um die es heute geht, eine sensible Bewertung des jeweiligen Einzelschicksals.

Vielleicht gelingt es dennoch, gemeinsam Grundlagen zu erarbeiten, die konkret und doch so verallgemeinerungsfähig sind, dass ein für alle Seiten konsensfähiger Umgang mit den Namen und Daten der NS-Opfer möglich wird - und zwar sowohl mit Blick auf die künftige Benutzungspraxis im Bundesarchiv als auch mit Blick auf die Verwendung der Daten in der Arbeit der Gedenkstätten. Das jedenfalls hoffe ich, denn es wäre hilfreich und wertvoll für die gesamtdeutsche Erinnerungskultur, in der Namen - ganz im Sinne Thomas Manns - "ein Stück des Seins und der Seele" der Menschen sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute und konstruktive Diskussionen und bin sehr interessiert an den Ergebnissen der heutigen Konferenz.