Im Wortlaut
Plädoyer für das Kulturgut Buch: In ihrer Rede zur Eröffnung der diesjährigen Leipziger Buchmesse bezog die Kulturstaatsministerin nachdrücklich Stellung für den Erhalt der literarischen Vielfalt in Deutschland. Um die hiesige Buchlandschaft sichtbar gegen eine reine "Logik des Marktes" zu verteidigen, die immer stärkere Konzentrationsentwicklungen mit sich bringt, lobt die Bundesregierung in diesem Jahr erstmals den Deutschen Verlagspreis aus. Zudem bekräftigte die Staatsministerin ihr Engagement auf europäischer Ebene für die Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter und insbesondere für eine Verlegerbeteiligung.
Ein Dichter muss „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt, will er den Frost zwingen, uns Schauer über den Rücken zu jagen“, sagte einmal der tschechische Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert. Wenn morgen - passenderweise am Welttag der Poesie - die Leipziger Buchmesse als Branchentreff und Mekka für Buchliebhaber ihre Pforten öffnet, belebt und beflügelt die Aufmerksamkeit für Neuerscheinungen hoffentlich nicht nur das Geschäft mit der Handelsware, dem Konsumgut Buch, sondern auch die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für das Kulturgut Buch: für die Kraft der Literatur und für die Wirkmacht einer Sprache, die „mehr sag[t], als sich im Gemurmel der Worte verbirgt“, die damit die Routinen und Gewohnheiten unseres Denkens und Wahrnehmens durchbricht, ja die vielleicht gar „den Frost zwing[t], uns Schauer über den Rücken zu jagen“.
Der in seiner Heimat verehrte tschechische Dichter Jaroslav Seifert, der diesen hehren Anspruch einst formulierte und ihn über Jahrzehnte - allen Repressalien des kommunistischen Regimes trotzend - immer wieder auch einlöste, ist einer größeren Leserschaft außerhalb Tschechiens leider erst 1984 mit der Verleihung des Literaturnobelpreises bekannt geworden: eineinhalb Jahre vor seinem Tod. Das ist bitter, denn die Keime des Widerständigen in der Klarheit seiner Worte hätten der Sehnsucht nach Veränderung auch anderswo Nahrung geben können, gerade in Zeiten der Spaltung Europas in Freiheit und Unfreiheit. Umso mehr freue ich mich, dass Tschechien 30 Jahre nach der glücklichen Überwindung dieser Spaltung mit rund 60 Autorinnen und Autoren und etwa 70 Neuerscheinungen Gastland der Leipziger Buchmesse ist - eine schöne Bekräftigung der deutsch-tschechischen Verbundenheit, die nicht zuletzt der engen Verbindung zwischen den Demokratisierungsbewegungen in Mitteleuropa und den Montagsdemonstrationen hier in Leipzig, zwischen dem Fall der Mauer in Deutschland und der „Samtenen Revolution“ in der einstigen Tschechoslowakei geschuldet ist. Auffällig viele der Autorinnen und Autoren aus Tschechien, die sich in Leipzig präsentieren, wagen sich mit ihren Büchern in die von Krieg und Diktatur, von Gewalt und Unterdrückung geprägte, jüngere Vergangenheit Europas - und damit auch auf vermintes Gelände im politischen Diskurs: Sie bereisen literarisch die Schlachtfelder der Vergangenheit; sie thematisieren Traumata durch Flucht und Vertreibung; sie berühren wunde Punkte im tschechischen Selbstverständnis und auch im deutsch-tschechischen Verhältnis; sie bringen zur Sprache, was Verständnis und Verständigung oft so schwer macht.
„Was könnte das positive Ergebnis einer entstehenden dezidiert europäischen Gedächtniskultur sein?“, fragte der Historiker Karl Schlögel vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Neuvermessung Europas nach 1989. Seine Antwort liest sich wie ein Plädoyer, auch die Kraft der Literatur für eine europäische Kultur der Verständigung zu nutzen: „Was könnte das positive Ergebnis einer entstehenden dezidiert europäischen Gedächtniskultur sein? Kein europäisches Gedächtnis, kein homogenes Narrativ aus einem Guss, kein kurzer Lehrgang in europäischer Geschichte, sondern die Entstehung eines geschützten Raumes für den Strom der Erzählungen […]. Für viele ist das zu wenig. In meinen Augen ist es das Schwierigste überhaupt. Denn es bedeutete die Verteidigung eines geschützten Raumes, einer Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen (…) standhält (…) und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind.“
Die Kunstfreiheit schafft eine solchen „geschützten Raum für den Strom der Erzählungen“, und bewässert vom „Strom der Erzählungen“ gedeihen Empathie, Verständnis und die Fähigkeit, das Verbindende über das Trennende zu stellen. Wie bitter nötig der „Strom der Erzählungen“ als demokratisches Lebenselixier ist, zeigt sich umso mehr in diesen Zeiten verhärteter Diskursfronten und teils fanatischen Hasses, in Zeiten nationalistischer Beschwörung des Eigenen und populistischer Hetze gegen das Andere, das Fremde. So steht das Buch - allen kulturpessimistischen Abgesängen zum Trotz - zumindest gesellschaftspolitisch weiterhin hoch im Kurs: Verständigung braucht die Bereitschaft zum einfühlenden Perspektivenwechsel, zu dem ein Roman verführt. Verständigung braucht Weitblick und Expertise, die sich in einem Sachbuch anders entfalten kann als in einem Tweet, einem Post oder auch einem Zeitungsartikel. Verständigung braucht die Kraft der Poesie, braucht Dichterinnen und Dichter, die „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt“. Kurz: Demokratie braucht Sprachkünstler, Querdenker und Freigeister - und dazu Verlegerinnen und Verleger, die sich als deren Wegbereiter verstehen.
Deshalb können und dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie die literarische Vielfalt durch Konzentrationsentwicklungen auf dem Buchmarkt oder durch gerichtliche Grundsatzentscheidungen zulasten der Verlage unter die Räder gerät. Besorgniserregend ist auch die Insolvenz eines großen Zwischenhändlers. Und schlicht inakzeptabel ist, wenn professionelles kreatives Schaffen im digitalen Zeitalter nicht anmessen vergütet wird. Es ist das Urheberrecht, das mit einer angemessenen Vergütung künstlerischer und kreativer Leistungen die Vielfalt der Kultur und der Medien und damit auch den „Strom der Erzählungen“, die Vielstimmigkeit des öffentlichen Diskurses nährt! Deshalb habe ich mich auf europäischer Ebene stets für seine Anpassung an das digitale Zeitalter und insbesondere für eine Verlegerbeteiligung eingesetzt und hoffe sehr, dass der nach rund zwei Jahren mühevoll errungene Kompromiss nun Ende März vom Europäischen Parlament verabschiedet wird. Darüber hinaus habe ich, um die Bedeutung unabhängiger Verlage zu würdigen und den Mut zum verlegerischen Risiko zu fördern, nach dem Vorbild des sehr erfolgreichen Deutschen Buchhandlungspreises einen Deutschen Verlagspreis ausgelobt: einen Preis, der gleichermaßen eine Liebeserklärung an das Kulturgut Buch wie auch eine öffentliche Kampfansage gegen die Degradierung dieses Kulturguts zur bloßen Handelsware gedacht ist, eine Kampfansage gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur überlebt, was hohe Verkaufszahlen garantiert.
Ja, meine Damen und Herren: einen geschützten Raum für den „Strom der Erzählungen“ zu schaffen, zu bewahren und ihn gegen die „Pressionen von außen“ - gegen die Logik des Marktes wie auch gegen die Indienstnahme für eine Weltanschauung, eine Ideologie, ein politisches Anliegen - zu verteidigen, das ist wohl tatsächlich, wie Karl Schlögel einmal sagte, „das Schwierigste überhaupt“. Fest steht: Ohne beherzte Unterstützung auf breiter Front, ohne Menschen auch, die das Buch wertzuschätzen wissen, wird es nicht gehen. Deshalb wünsche ich dieser Buchmesse ein Fachpublikum, das vom inspirierenden Austausch nicht nur lukrative Verträge, sondern auch neue Ideen zur Leseförderung mit nach Hause nimmt, und Europas größtem Lesefest „Leipzig liest“ zahlreiche Besucherinnen und Besucher, die mit ihrer Lesefreude Botschafter des Buches werden oder bleiben. „Einfach erlesen“: Das ist auf jeden Fall das Programm der nächsten Tage mit einer Fülle vielversprechender Autorinnen und Autoren! „Einfacher lesen“: In diesem Sinne lohnt es sich nachzudenken, zu streiten und zu kämpfen - für künstlerische Freiheit, für verlegerische Vielfalt, für ein dichtes Netz an Buchhandlungen, auf dass das Kulturgut Buch eine Zukunft hat!