Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 65. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR vom 17. Juni 1953

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Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Grütters bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 65. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR vom 17. Juni 1953

Zum Jahrestag des Aufstands hat Staatsministerin Grütters all derjenigen gedacht, die vor 65 Jahren bei dem Volkaufstand am 17. Juni ums Leben kamen. "Das Unrecht der SED-Diktatur sichtbar zu machen und klar zu benennen, sind wir nicht nur denjenigen schuldig, deren Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Demokratie von sowjetischen Panzern zermahlen wurden. Wir stehen auch gegenüber der jungen Generation in der Pflicht zu vermitteln, wie hart errungen unsere demokratischen Freiheitsrechte sind und welche Gefahren für Demokratie und Menschenrechte von totalitären Ideologien ausgehen".

Sonntag, 17. Juni 2018

Es sind nur wenige Namen, die hier auf dem Friedhof Seestraße auf den Grabsteinen stehen und hinter dem historischen Ereignis des Volksaufstands am 17. Juni 1953 die einzelnen Schicksale hervortreten lassen – stellvertretend für jene Menschen, die seine blutige Niederschlagung mit dem Leben bezahlten. Schier unüberschaubar groß jedoch ist die Zahl derer, die zwar nicht ums Leben, aber mit Gewalt um ihr Leben gebracht wurden - um die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einem guten Leben: sei es, weil sie für ihr mutiges Aufbegehren gegen die SED-Diktatur in den berüchtigten Gefängnissen Berlin-Hohenschönhausen, Cottbus oder Bautzen gelitten haben; sei es, weil sie die Repressalien zu spüren bekamen, mit denen das SED-Regime in den Folgejahren und -jahrzehnten jeden Keim solcher Erhebungen erstickte. Gerade weil wir uns heute glücklich schätzen, in einem freien und geeinten Deutschland zu leben, dürfen und werden wir jene nicht vergessen, die am 17. Juni 1953 nicht zuletzt auch für Freiheit und Demokratie zu Hunderttausenden auf die Straße gingen. Ich bin dankbar, dass an diesem 65. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR auch zahlreiche Zeitzeugen und Angehörige von Opfern zur Gedenkstunde der Bundesregierung gekommen sind - darunter zum Beispiel Frau Edith Fiedler, eine der wenigen Frauen, damals 18 Jahre alt und Maurerlehrling. Seien Sie alle herzlich willkommen!

Was Sie, meine Damen und Herren, und was vermutlich viele Menschen bewegt, deren Lebensgeschichte untrennbar mit den Ereignissen und Folgen des 17. Juni 1953 verwoben ist, kommt möglicherweise in den bewegenden Zeilen zum Ausdruck, die ein heute 84jähriger Zeitzeuge – Herr Günther Dilling, damals als junger Tischler und Streikführer unter den Demonstranten, er ist heute eigens mit seiner Frau aus Wolfenbüttel angereist – mir vor einigen Tagen geschrieben hat. Ich möchte sie vorlesen, weil seine Stimme, stellvertretend für viele andere Leidtragende, Gehör verdient: "Wir, ein nunmehr kleines Häufchen ehemaliger Demonstranten und Streikführer des 17. Juni 1953 (...), sehen mit Wehmut auf die sich immer mehr verkleinernde Zahl unserer Kameraden. Viele von uns sind krank, zerbrochen, voller Verachtung gegen unsere damaligen Peiniger in den Haftanstalten der Ex-DDR und doch voller Stolz für das Gelingen der deutschen Wiedervereinigung. (...) Für meine Kameraden und auch für mich bitte ich Sie in Ihrer Tätigkeit in der Bundesregierung für ein entschiedenes Eintreten für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Es geht nicht um mehr Haftentschädigungen, die sowieso mager genug ausfallen; es geht um die klare Benennung der DDR als Unrechtsstaat."

Das Unrecht der SED-Diktatur sichtbar zu machen und klar zu benennen, sind wir nicht nur denjenigen schuldig, deren Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Demokratie am 17. Juni 1953 von sowjetischen Panzern zermahlen wurden. Wir stehen auch gegenüber der jungen Generation in der Pflicht zu vermitteln, wie hart errungen unsere demokratischen Freiheitsrechte sind und welche Gefahren für Demokratie und Menschenrechte von totalitären Ideologien ausgehen, in welchem Gewand auch immer sie daherkommen. Deshalb ist der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Gegenstand der Dauerausstellungen des vom Bund getragenen Deutschen Historischen Museums und des Hauses der Geschichte in Bonn, Berlin und Leipzig, und deshalb hat die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in den vergangenen Jahren eine Fülle von Projekten gefördert, die zur Auseinandersetzung mit dem Volksaufstand von 1953 einladen. Hervorragende Arbeit leistet auch das von der Bundesregierung finanzierte "koordinierende Zeitzeugenbüro", das Menschen, die hinter Mauer und Stacheldraht den Repressalien und Schikanen der SED und der Stasi ausgesetzt waren, als Gesprächspartner an Schulen und auch an außerschulische Bildungseinrichtungen vermittelt. Darüber hinaus fördert der Bund die Gedenkstätten in den einstigen Gefängnissen Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen oder auch Cottbus als Lernorte: Was wir an diesen Orten sehen und – bei Führungen durch ehemalige Häftlinge – auch hören, entlarvt die DDR, die im Stadtbild Berlins oft bagatellisiert in Gestalt von Trabi-Safaris, VoPo-Mützen und anderen Nostalgie-Souvenirs daher kommt, als das, was sie war: ein Unrechtsstaat, der seine Gegner schikanierte und jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickte, der seine Bürgerinnen und Bürger dazu bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, und der sich dafür mit Hilfe eines Netzes aus Denunzianten in das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft, in Freundschaften und Familien und damit in das Leben jedes einzelnen Bürgers fraß.

Umso mehr Freude und Dankbarkeit verdient es, dass die Sehnsucht nach Freiheit, die am 17. Juni 1953 Hunderttausende auf die Straßen trieb, 1989 den Sieg über Macht und Gewalt ihrer Unterdrücker davontrug! Umso mehr Anerkennung und Wertschätzung verdient es, dass der Mut ostdeutscher Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer die Mauern der Unterdrückung zum Einsturz brachte! Und deshalb verdienen Freude und Dankbarkeit, Anerkennung und Wertschätzung – und ja: auch Stolz auf die deutschen und europäischen Freiheitstraditionen, in die sich der Volksaufstand des 17. Juni 1953 einreihen lässt – Raum in unserer Erinnerungskultur. Zu den Freiheitstraditionen Europas im 20. Jahrhundert gehören neben dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 beispielsweise auch die Aufstände 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in Prag wie auch die Überwindung der Diktaturen im Süden Europas, in Griechenland, Spanien, Portugal. Auf diese Freiheitstraditionen können Menschen aus allen europäischen Ländern sich gemeinsam beziehen, und ich bin überzeugt: Es stiftet nicht nur Identität und Zusammenhalt, es stärkt auch die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn das Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen die Überzeugung nährt, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie einzustehen.

In seinem "Vers zur Jahrtausendwende" hat Reiner Kunze die Haltung formuliert, mit der er selbst dem SED-Regime standhielt: "Wir haben immer eine Wahl, / und sei’s, uns denen nicht zu beugen, / die sie uns nahmen." Ja, wir haben immer eine Wahl: Die Zivilcourage der Aufständischen vom 17. Juni 1953, die den Machthabern im Streben nach Freiheit und Demokratie die Stirn boten, kann und sollte uns lehren, uns als Wählende, als für die Demokratie Verantwortliche zu begreifen.