Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 19. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 4. Juni 2019 in Berlin

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Liebe Frau Thieme,
liebe Ratsmitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren,

noch ist nicht der Tag des Danks, denn Sie werden ja noch bis November im Amt bleiben. Aber auf einer solchen Veranstaltung werden wir uns nicht wieder begegnen – nicht wegen mir, sondern wegen Ihnen; das will ich ausdrücklich hinzufügen.

Sie haben uns ja über viele Jahre hinweg bei der Nachhaltigkeitsstrategie begleitet. In der öffentlichen Diskussion hat das Thema ja auch wirklich an Fahrt gewonnen. Das ist sicherlich auch Ermutigung, ein paar Ecken und Kanten noch näher in den Blick zu nehmen. Junge Menschen in vielen Ländern gehen auf die Straße. Sie haben heute einen von ihnen zu Gast gehabt. Ich finde es gut – das habe ich ja auch schon ausdrücklich gesagt –, dass uns die Jugend Dampf macht, weil wir in der Politik auch immer die verschiedenen Entwicklungen zusammenhalten müssen. Dass die Jugend sich zu Wort meldet, ist richtig und ist erwünscht.

Im Übrigen wird Klimaschutz ja nicht nur von Jugendlichen eingefordert, sondern uns auch von der Wissenschaft sehr nahegelegt. Deshalb brauchen wir in der Tat politische Antworten und konkrete Taten. Wir haben ja gerade auch in Deutschland gesehen, wie sehr dieses Thema die europäischen Wahlen bestimmt hat. Das ist nicht in allen europäischen Ländern so, aber in Deutschland war es so. Deshalb muss die Politik ihr Handeln noch mehr auf die Zukunft ausrichten.

Ich sage allerdings auch, wenn ich mir die Wahlergebnisse anschaue: Wir haben 30 Jahre nach dem Mauerfall im Grunde auch ein Problem damit, Menschen in allen Teilen Deutschlands mitzunehmen. Unsere Aufgabe ist es auch immer wieder, einen Zusammenhalt der Gesellschaft zu erreichen, damit wir nicht zu großen Polarisierungen kommen, die die politische Handlungsfähigkeit sicherlich nicht verbessern. Das soll keine Relativierung sein, sondern das ist eben unsere Aufgabe in der Politik.

Mit Ihrem Konferenztitel „Zukunft zur Heimat machen“ bringen Sie die Aufforderung, mehr zu tun, ja zum Ausdruck. Wir müssen uns in der Zukunft zu Hause fühlen, heimisch fühlen. Das heißt eben, dass insbesondere auch die junge Generation positive Lebensperspektiven haben muss. Wir müssen Vorsorge treffen – Sie haben das Vorsorgeprinzip ausdrücklich erwähnt. Ich sage „wir“, weil das eine Verantwortung ist, die zweifelsohne uns in der Politik, aber auch uns alle betrifft.

Es gibt ungefähr zehn Grundgesetzerweiterungen, die auf unserer Tagesordnung stehen. Im Grunde genommen ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen natürlich schon ein Auftrag aus dem Grundgesetz. Aber wenn Sie glauben, dass Nachhaltigkeit als solche ins Grundgesetz gehört – ich habe das ja am Beifall gemerkt –, dann muss man darüber ernsthaft nachdenken. Ja, das kann man machen. Allerdings ist mit der Aufnahme in das Grundgesetz die Arbeit nicht erledigt. Sie wird vielleicht leichter, sie wird vielleicht die Rechtsprechung verändern, aber sie ist damit nicht erledigt. Das ist also eigentlich noch der einfachste Teil.

Ich sehe schon wieder Klima-Plakate. Ich werde zum Schluss darauf zu sprechen kommen; keine Sorge.

Bis morgen noch läuft die Europäische Nachhaltigkeitswoche. 6.000 Initiativen in 25 Ländern finden in dieser Woche statt. Letztes Jahr haben drei Millionen Menschen an den Veranstaltungen teilgenommen. Schulen und Unis, Kirchen und NGOs, Unternehmen und Ministerien engagieren sich jedes Jahr. Es wird breit über Nachhaltigkeit informiert. Das ist auch nach wie vor notwendig. Wenn ich einmal in meinem Wahlkreis, der in einer ländlichen Region liegt, nachfrage, was Nachhaltigkeit genau bedeutet, dann – das muss ich ganz ehrlich sagen – fällt die Antwort immer noch unbefriedigend aus, weil dieser Begriff sozusagen noch nicht Eingang in die natürliche Umgangssprache gefunden hat. Aber wir wissen, was gemeint ist. Deshalb gibt es ja auch eine Vielzahl von Aktivitäten, die ich hier jetzt nicht alle aufzählen will, die aber deutlich machen: Es muss sich an dem gesamten Lebensstil etwas ändern. Es geht nicht nur um die Klimafrage, nicht nur um die Energiefrage, nicht nur um die Artenschutzfrage, sondern es geht im Grunde um das Denken in Kreisläufen und darum, die Welt nicht mehr in Anspruch zu nehmen, als sie sich regenerieren kann. Das ist eine wirklich große Aufgabe.

Vielfältig gelebte Nachhaltigkeit nimmt aber zu. Gerade auch die junge Generation bietet hierfür Beispiele. Wir müssen das in unserem Land erreichen, aber wir müssen es auch weltweit erreichen. So ist die Frage, wie wir die SDGs, also die Sustainable Development Goals, bis 2030 umsetzen können, eine, die von allergrößter Bedeutung ist. Es sind noch knapp 4.000 Tage bis 2030. Jeder dieser Tage zählt. Vier Jahre liegen schon zurück seit der Verabschiedung der Agenda 2030. Wir wissen, dass wir die darin festgelegten 17 Nachhaltigkeitsziele global nur dann, wie beschlossen, erreichen werden, wenn wir in Zukunft deutlich schneller vorankommen. Ich habe mir kürzlich wieder die Situation in Westafrika angeschaut. Wir haben unglaublich viel zu tun, um auch diesen Ländern zu helfen.

Der Fortschrittsbericht des UN-Generalsekretärs spricht eine deutliche Sprache: Wir kommen voran, aber zu langsam; und es gibt sogar Rückschritte. So ist die Zahl der hungerleidenden Menschen weltweit wieder gestiegen. Für den Zugang aller zu sanitärer Grundversorgung müsste die Umsetzungsgeschwindigkeit verdoppelt werden. Der Rohstoffverbrauch ist ebenso weiter angestiegen wie auch die weltweiten Treibhausgasemissionen. Es muss also sehr viel mehr Ehrgeiz an den Tag gelegt werden. Das ist eine große Aufgabe, deren Bedeutung auch darin Ausdruck findet, dass ein Hochrangiges Politisches Forum der Vereinten Nationen stattfinden wird. Aber es zeigt sich eben auch: jeder ist gefordert.

Im September werden die Staats- und Regierungschefs zum ersten UN-Nachhaltigkeitsgipfel zusammenkommen. Wenn es die Umstände erlauben, möchte ich gerne daran teilnehmen, genauso wie am Klimagipfel des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Wir werden Lehren dafür ableiten müssen, wie wir schneller vorankommen. Denn es reicht nicht aus, wenn nur einige Staaten Akzente setzen. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Allerdings, und das soll keine Ausrede sein, stehen die Industrieländer in einer besonderen Verantwortung – damit auch Deutschland. Es stimmt zwar, dass Deutschland und seine europäischen Partner immer eine treibende Kraft bei den Verhandlungen hinsichtlich der globalen Klimaschutzziele und der anderen Agenda-Entwicklungsziele waren. Aber wir müssen auch die treibende Kraft bei der Umsetzung sein. Deshalb sind alle relevanten Akteure gefragt: Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Deshalb wird es in diesem Jahr auch eine Konferenz des Umweltministeriums und des Entwicklungsministeriums geben: eine Vorbereitungskonferenz für das UN-Forum zur nachhaltigen Entwicklung. Damit greifen wir auch einen Vorschlag Ihres Nachhaltigkeitsrats auf.

Bereits Anfang des Jahres hat die Europäische Kommission Vorschläge dafür unterbreitet, wie wir mehr Politikkohärenz erreichen können, also mehr Vereinbarkeit der verschiedenen Politikfelder. Auch Entwicklungspolitik muss auf die Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet sein. Wir brauchen Zeitpläne, wir brauchen Ziele, wir brauchen konkrete Maßnahmen zur Berücksichtigung der Agenda 2030. Wir brauchen also eine europäische Umsetzungsstrategie zur Agenda 2030. Das wird für Deutschland ein Schwerpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft sein, die wir im nächsten Jahr übernehmen werden. Dabei soll Nachhaltigkeit inhaltlich wie auch organisatorisch eine wichtige Rolle spielen.

Wir wollen das auch ganz konkret angehen. Manchmal wird ja gelächelt, wenn man sozusagen alle Feinheiten einer Veranstaltung auf Nachhaltigkeitsziele durchgeht, aber nur so kann es ja praktisch gezeigt werden. Dazu gehört nicht nur, dass wir die Klimaauswirkungen von Reisen zu den Veranstaltungen kompensieren. Wir haben in einer Checkliste festgehalten, was bei der Organisation zu beachten ist – von der Auswahl des Veranstaltungsorts und der Vermeidung von Drucksachen über eine umweltfreundliche Anreise bis hin zu Hinweisen für ein nachhaltiges Catering. Na ja, man muss ja bei sich zu Hause anfangen. Wir wissen aber, dass unsere Arbeit sich nicht darin erschöpft; aber es ist ein Beitrag.

Wir haben die Agenda 2030 zur Richtschnur unserer Politik erklärt. Dementsprechend haben wir die Nachhaltigkeitsstrategie auch an die Agenda 2030 angepasst und deshalb im November vergangenen Jahres eine Aktualisierung der Strategie beschlossen. Es wurden unter anderem Indikatoren und Ziele für eine nachhaltige öffentliche Beschaffung ergänzt. Auch da wird es sehr konkret. So soll zum Beispiel der Anteil von Recyclingpapier am Gesamtpapierverbrauch in der Bundesverwaltung bis 2020 auf 95 Prozent steigen. Der durchschnittliche CO2-Ausstoß von Dienstfahrzeugen soll deutlich gesenkt werden. Wir werden auch die Anschaffungsbedingungen verändern, damit auch alternative Antriebstechnologien besser verwendet werden können.

Außerdem haben wir neue übergeordnete Nachhaltigkeitsprinzipien in unsere Strategie aufgenommen. Das erste Prinzip fordert, nachhaltige Entwicklung als Leitbild konsequent in allen Bereichen und bei allen Entscheidungen anzuwenden. Die weiteren Prinzipien spannen einen weiten Bogen von der Übernahme globaler Verantwortung, dem Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen über eine nachhaltige Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt bis hin zu Bildung, Wissenschaft und Innovation. Diese allgemeinen Prinzipien müssen natürlich konkretisiert werden. Deshalb soll die nächste große Weiterentwicklung der Strategie bis Ende 2020 erfolgen. Hierzu werden wir im Herbst eine Dialogreihe starten. Vorgesehen sind fünf Konferenzen. Ich hoffe wieder auf eine rege Beteiligung aus diesem Kreise. Jeder ist dazu eingeladen, auch „Fridays for Future“.

Fortschritt im Sinne von Nachhaltigkeit ist ein Gemeinschaftswerk. Das heißt also, wir brauchen eine Zusammenarbeit mit allen. Daher laden wir zum Beispiel zum Forum Nachhaltigkeit in das Bundeskanzleramt ein. Das nächste Treffen wird zusammen mit dem Kanzleramtsminister in der kommenden Woche stattfinden. Wir beteiligen auch gesellschaftliche Akteure stärker an der Vorbereitung des Staatssekretärsausschusses. Hierzu finden vor den Sitzungen Dialoge mit den Ministerien statt.

Wer andere für mehr Nachhaltigkeit in die Pflicht nimmt, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Deshalb ist es wichtig, dass die öffentliche Verwaltung ein Maßnahmenprogramm Nachhaltigkeit zur Hand hat, das für alle Ministerien und nachgeordneten Bereiche gilt – insgesamt also für rund 120 Behörden mit etwa 500.000 Beschäftigten. Zu diesem Programm gehört ein Leitfaden für nachhaltiges Bauen. Dazu gehören klare Leitlinien für technische Geräte, die sich jeweils durch höchste Energieeffizienzgrade auszeichnen sollten. Bei Dienstreisen gilt es auch auf mehr Nachhaltigkeit zu achten. Wir drängen auf die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen. Wir wollen das bis 2025 innerhalb der Bundesregierung umgesetzt haben. Diesem Ziel dienen Mentoring- oder Qualifizierungsprogramme sowie mehr Möglichkeiten, Führungsfunktionen auch in Teilzeit wahrzunehmen. Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich ein bisschen stolz darauf bin, dass wir bei den B9-Stellen im Kanzleramt inzwischen eine Parität erreicht haben. Als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es keine einzige Frau auf einer solchen Stelle. Inzwischen ist die Parität erreicht; und das muss der Maßstab für alles sein.

Wir werden also die Nachhaltigkeitsstrategie in der gesamten Bundesverwaltung konsequent weiter verfolgen. Das ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil die Analyse der gesamten Entwicklung in Deutschland ein durchaus gemischtes Bild ergibt. Das Statistische Bundesamt nimmt ja verschiedenste Indikatoren in den Blick, zum Beispiel Nitrat im Grundwasser, die Raucherquote bei Jugendlichen, die Ganztagsbetreuung für Kinder, den Schuldenstand, die Einkommensverteilung, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung – kurz: alles, womit sich die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele messen, quantifizieren lässt. Der Befund ist: Bei 24 von 66 Indikatoren wurden die Ziele der Strategie erreicht oder sie werden bei gleichbleibender Entwicklung erreicht. Unter anderem haben wir das Wirtschaftswachstum weitgehend vom Rohstoffverbrauch entkoppelt. 28 weitere Indikatoren entwickeln sich in die richtige Richtung. Die Ziele werden aber nach jetzigem Stand verfehlt werden. Hier müssen wir also nachsteuern. Bei acht Indikatoren gab es Rückschritte. Hier muss natürlich eine Schubumkehr erfolgen.

Es bleibt also viel zu tun. Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Staaten. Deshalb ist es eben wichtig, dass die erwähnten Gipfel stattfinden: sowohl der Nachhaltigkeitsgipfel als auch der Klimagipfel.

Meine Damen und Herren, damit komme ich zum Thema Klimaschutz, das ja im Augenblick sehr breit diskutiert wird und bei dem wir noch sehr, sehr viele Aufgaben zu lösen haben. Wir haben uns vorgenommen, Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 55 Prozent zu reduzieren. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Wir werden 2020 nach jetzigem Stand eine Reduktion von 32 oder 33 Prozent erreicht haben. Das hängt natürlich sehr stark vom Wirtschaftswachstum und im Übrigen auch von den CO2-Preisen, den Zertifikatepreisen, ab. Das ist sehr interessant: Dadurch, dass es im letzten Jahr endlich einen ansteigenden Zertifikatepreis gab, ist der Export von Braunkohlestrom in andere Länder, zum Beispiel nach Polen, stark gesunken. Das heißt, wir exportieren viel weniger und haben dadurch eine sehr viel bessere CO2-Bilanz. Das heißt, eine Bepreisung von CO2 zeigt ihre Wirkung. Es hat jahrelang mit dümpelnden CO2-Zertifikatepreisen im Grunde keine Lenkungswirkung gegeben; aber jetzt setzt eine Lenkungswirkung ein. Ich finde es sehr interessant, das zu beobachten. Insgesamt sind unsere Emissionen 2018 um 4,5 Prozent zurückgegangen. Es wird sehr interessant zu beobachten sein, ob sich dieser Trend fortsetzt.

Eine der Ursachen ist auch der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien. Schon heute stammt hierzulande mehr als jede dritte verbrauchte Kilowattstunde aus Wind-, Wasser-, Solar- oder Bioenergie. Deutschland hat hohe Förderkosten bei der Entwicklung erneuerbarer Energien getragen. Das hat aber auch geholfen, die Stromerzeugung mit Windkraft- und Solaranlagen zur Marktreife zu bringen. Genau das ist ein Beispiel für einen gelungenen Beitrag von Industrieländern: Wir übernehmen die Kosten dafür, dass zum Schluss marktreife Produkte da sind, die wir dann auch in andere Teile der Welt exportieren können oder die in anderen Teilen der Welt einsetzbar sind. Ganz ehrlich gesagt, ist es zu dem Durchbruch auch durch die Ausschreibungsregeln gekommen, die in Europa vereinbart wurden. Das ist ein sehr wichtiger Beitrag gewesen.

Dennoch will ich zum Ausbau der erneuerbaren Energien sagen: Es gibt zwar eine hohe Akzeptanz erneuerbarer Energien in städtischen Ballungsgebieten, aber es gibt eine zunehmende Abwehr in ländlichen Regionen. Dass man heute Naturschutz zum Beispiel wieder gegen erneuerbare Energien ausspielen kann, ist nicht im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie, sondern beides muss zusammengehen. Das müssen wir auch mit den Menschen diskutieren und es ihnen sagen. Aber die neuen, zu Land erbauten Windkraftanlagen erfreuen sich sozusagen nicht einer durchgehenden Akzeptanz. Deshalb müssen wir auch überlegen, wie wir denjenigen, die diese – in Anführungsstrichen – „Last“ tragen, eine gewisse Kompensation bieten können. Früher hat jede Gemeinde, die ein Atomkraftwerk hatte, viel staatliche Förderung bekommen, damit die Bevölkerung das akzeptiert hat. Dort, wo Atomkraftwerke standen, ist es den Kommunen sehr gut gegangen. Da kann man ja lachen. Wir steigen ja auch aus. Aber dass man die großen Windkraftanlagen heute den Leuten vor die Haustür setzt und sagt „Bitte freut euch“, das wird nicht so einfach funktionieren. Deshalb darf nicht nur der, der Land zur Verfügung stellt, profitieren, sondern man muss sich überlegen, ob man auch in den ländlichen Regionen eine besondere Förderung macht, um die Akzeptanz für erneuerbare Energien – in diesem Falle die Windkraft – wirklich zu steigern, sonst wird das nicht gutgehen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.

Gleiches gilt für den Leitungsbau, weil wir die erneuerbaren Energien nur dann wirklich voranbringen, wenn wir auch im Leitungsbau vorankommen. Wir liegen weit zurück. Wir versenken jedes Jahr noch und noch Kilowattstunden, weil sie sozusagen nicht an die Plätze geleitet werden können, an denen wir Strom brauchen. Das erfordert einen Gesamtumbau, bei dem nicht nur die Nutzer des erneuerbaren Stroms zufrieden sein dürfen, sondern auch die, die sozusagen die industriellen Herausforderungen bewältigen, müssen auch etwas davon haben. Darauf sind weder unsere Steuersysteme noch unsere Fördersysteme noch unsere Finanzzuweisungen ausgerichtet. Das spielt zum Beispiel für die Arbeit in der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eine Rolle.

Jetzt gibt es ja – das ist den Kennern bekannt – den Bereich, der heute schon dem europäischen Zertifikatehandel unterliegt. Das hat sich auch nicht als ganz so einfach erwiesen, wie wir uns das gewünscht hätten, weil die Wirtschaftsflaute dazu geführt hat, dass wir zu viele Zertifikate hatten. Das marktwirtschaftliche Instrument ist also auch nachbesserungsbedürftig. Aber es gibt einen Bereich, der jetzt in Deutschland zur Diskussion steht – Verkehr, Wohnen, Landwirtschaft –, in dem es keinerlei Bepreisung gibt, sondern einen ziemlichen Wildwuchs von Abgaben, Steuern und ordnungsrechtlichen Maßnahmen, die zum Teil wirken, zum Teil weniger wirken. Und ob das effizient ist, sei dahingestellt.

Deshalb haben wir – ich habe das auch persönlich gemacht – den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit seinem Chef, Professor Schmidt, gebeten, uns zusammen mit Professor Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ein Sondergutachten anzufertigen, um uns für diesen, dem Zertifikatehandel noch nicht unterliegenden Sektorenbereich Vorschläge dazu zu machen, wie man mit der Bepreisung von CO2 umgehen kann. Dieses Gutachten wird nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern am 12. Juli vorliegen. Am 18. Juli wird das Klimakabinett mit den beiden Professoren darüber diskutieren. Dann werden wir im September eine Grundentscheidung darüber treffen, ob wir weiterhin auf den sektoralen Ansatz setzen – also darauf, dass der Verkehrssektor Emissionen um 40 Prozent, der Wohnsektor um so und so viel Prozent und die Landwirtschaft um so und so viel Prozent reduzieren muss – oder ob wir einen Gesamtansatz für diesen gesamten, noch nicht dem Zertifikatehandel unterworfenen Bereich wählen und dann mit der CO2-Bepreisung vorangehen.

Ich habe mit meinem niederländischen Kollegen und mit Emmanuel Macron darüber gesprochen, dass es besser wäre, wenn nicht jedes europäische Land einen einzelnen Ansatz hätte, sondern wenn sich Vorreiter versammeln. Darauf zu warten, dass ganz Europa diesen anderen Bereich auch in den Zertifikatehandel einbezieht, würde uns zu viel Zeit kosten. Aber mit Gleichgesinnten über ähnliche Herangehensweisen zu sprechen, ist die Sache wert. Darüber wollen wir – sozusagen unser Klimakabinett mit den Klimakabinetten beider Länder – diskutieren.

Wir werden die rechtlichen Rahmensetzungen vornehmen, sodass wir einen Pfad haben werden, mit dem wir die Klimaziele 2030 mit Sicherheit erreichen werden. Natürlich muss das immer mit dem Wirtschaftswachstum und den Entwicklungen abgeglichen werden.

Einen Riesenbeitrag zur Erreichung der 2030-Ziele hat die Kohlekommission geleistet. Es war eine große gesellschaftliche Kraftanstrengung, dass sich von Professor Schellnhuber bis zum Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie alle auf ein spätestes Ausstiegsdatum geeinigt haben und uns die Rahmenbedingungen vorgegeben haben. Diese Leistung ist für uns als Bundesregierung jetzt Auftrag, die Vorgaben umzusetzen. Implizit ist in diesem Ausstieg aus jeglicher Kohleverstromung, sowohl der von Braunkohle als auch der von Steinkohle, enthalten, dass die Klimaziele im Energiebereich für 2030 erreicht werden. Damit haben wir einen erheblichen Teil der CO2-Emissionen schon erfasst.

An diesem Beispiel der Kohlekommission sehen Sie aber, wie schwierig es ist – ein Blick auf die Landkarte und auf die Wahlergebnisse der Europawahlen verdeutlicht das noch einmal –, Menschen mitzunehmen und Menschen Vertrauen darin zu geben, dass sie auch nach dem Verlust des Braunkohleabbaus in ihrer Heimat weiterhin eine Perspektive haben. Deshalb ist Ihr Titel „Zukunft zur Heimat machen“ so hellseherisch, wie ich einmal sagen will. Die Leute wollen nicht aus der Lausitz wegziehen. Sie wollen dort eben auch für sich und ihre Kinder eine Zukunft haben. Das zusammenzubringen, ist wirklich eine Kraftanstrengung. Wir haben die Eckpunkte für die Maßnahmen der Kohlekommission mit den betroffenen Bundesländern verabschiedet. Wir werden noch bis zum Sommer ein Gesetz im Kabinett verabschieden, um schnellstmöglich auch die parlamentarischen Beratungen voranzubringen.

Das heißt, das Klimakabinett – das sage ich, weil ich immer lese „Die haben wieder nur diskutiert“ – hat einen ganz klaren Fahrplan. Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir die Klimaziele bis 2030 auch wirklich erreichen.

Wir haben jetzt wieder ein neues Ziel, das der UN-Generalsekretär ausgegeben hat. Das ist Klimaneutralität bis 2050. Da bin ich nun als Bundeskanzlerin, ehrlich gesagt, ein bisschen in einer Zwickmühle. Sage ich „Ich will das erreichen“, dann sagt man mir: Nun kommt sie schon wieder mit einem neuen Ziel. Das Ziel habe ich aber nicht ausgegeben, sondern nach dem werde ich gefragt. Das hat der UN-Generalsekretär ausgegeben. Ich habe für Deutschland erklärt: Auch wir müssen alles daransetzen, dieses Ziel zu erreichen. Gleichzeitig sagt man: Erreicht doch erst einmal eure naheliegendsten Ziele; da seid ihr säumig; insofern glauben wir euch auch für die Zukunft nur bedingt. – Richtig, da können Sie klatschen. Aber trotzdem muss ich mich auch zu den langfristigen Zielen äußern und die Rahmenbedingungen vorgeben – das hat auch Frau Thieme gefordert –, weil Berechenbarkeit auf diesem Weg sehr wichtig ist und weil wir die Planungen überhaupt nur so einleiten können, wenn wir auch einen Langfristpfad vor uns haben. Deshalb ist das Ziel 2050 des UN-Generalsekretärs richtig, aber das entbindet uns nicht davon, über die Jahre 2020 bis 2030 nachzudenken.

Ich will – hier in diesem Hause weiß das wahrscheinlich jeder; aber hier wird ja auch vonseiten der Öffentlichkeit zugehört – in Erinnerung rufen: Es geht nicht nur um die Erreichung der Ziele bis 2030, sondern es geht ab 2020 Jahr für Jahr um ein von der Europäischen Union festgelegtes nationales Budget für CO2-Emissionen im Nicht-Zertifikate-Bereich. Das heißt, wir müssen bis 2030 einen klaren Pfad einhalten, der dann Jahr für Jahr abgeglichen wird. Wenn wir mehr CO2 emittieren, dann müssen wir Zertifikate bei denen, die noch welche übrig haben, oder bei der Europäischen Kommission für einen erhöhten Preis zukaufen. Dann werden wir Milliarden von Euro dafür ausgeben, dass wir unsere jährlichen Ziele nicht erreicht haben, anstatt diese Milliarden in Forschung und Innovation zu stecken. Und das wird zu einer breiten negativen gesellschaftlichen Diskussion führen. Deshalb muss die Bundesregierung sicherstellen, dass wir nicht nur das Ziel 2030 im Blick haben, sondern dass wir auch auf dem Pfad dahin unsere Ziele erreichen. Das ist ein ziemlich klares Korsett, will ich einmal sagen, in dem wir uns befinden. Aber wir müssen das hinbekommen. Ich will nur sagen: ab 2020 werden sich die Gegebenheiten noch einmal schnell verändern. Ab dann wird es keine Fünf- oder Sechsjahresperioden mehr geben, sondern dann wird man ganz klare Vorgaben haben, die wir natürlich auch umsetzen wollen.

Jetzt will ich abschließend noch auf einen Bereich eingehen, der auch für die Jugend im Sinne der Generationengerechtigkeit wichtig ist. Das ist die Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik. Es wird ja manchmal davon gesprochen, dass wir irgendwie in die schwarze Null verliebt seien. Aber daran festzuhalten, ist ein gutes Zukunftswerk. Wir sind in den letzten Jahren – auch durch ein vernünftiges Wirtschaftswachstum – der 60-Prozent-Gesamtverschuldung wieder sehr nahegekommen. Das ist auch wichtig, um die Stabilitätskriterien des Vertrags von Maastricht einzuhalten. Wenn wir uns die demografische Situation in Deutschland anschauen, dann wissen wir, dass der Umstand, dass die Verschuldung bestenfalls tatsächlich sinkt, aber 60 Prozent jedenfalls nicht übersteigt, eine sehr, sehr wichtige Wegmarke ist, weil sich so den nach uns kommenden Generationen Spielräume eröffnen. Wir werden deshalb am Ziel des ausgeglichenen Haushalts festhalten, auch wenn uns das bei sinkenden Steuereinnahmen im Augenblick vor ziemlich große Probleme stellt.

Wir müssen auch sehr viel mehr sozusagen grüne Instrumente – sustainable finance   in unser gesamtes Finanzwesen einbauen, wie ja überhaupt die Aufgabe sozusagen nicht heißt „Hier ist die Wirtschaft; und da ist die Nachhaltigkeit“, sondern es muss im Sinne der Kreislaufwirtschaft alles miteinander zusammenwachsen. Die einzelnen Umweltziele und Nachhaltigkeitsziele dürfen kein Fremdkörper sein, sondern sie müssen mitgedacht werden und ganz selbstverständlich werden. Das ist die eigentliche Aufgabe.

Was das angeht, haben wir beim Klima ein Riesenproblem und auch bei anderen Dingen, wie etwa bei der Biodiversität. Der Welt-Biodiversitätsrat hat uns gemahnt und gesagt, dass sich der Zustand der Natur weltweit dramatisch verschlechtert. Das gilt auch für Deutschland. Wir wissen, dass wir uns damit sozusagen unserer eigenen Lebensgrundlagen berauben. Deshalb müssen wir auch weiterhin sehr kontroverse Diskussionen in der Landwirtschaftspolitik, beim Tierschutz und beim Naturschutz führen. In der Bundesregierung tobt sozusagen der Streit, wenn man etwa nur an die Düngemittelverordnung denkt. Der eine fährt zu den Demonstrationen, die für geringere Nitrateinträge sind, die andere Ministerin fährt dann zu den Demonstrationen der Bauern. Ja, so ist die Aufgabenteilung. Aber ich glaube, trotzdem muss es geringere Nitrateinträge geben. Deutschland hat jahrelang versucht, Auswege zu finden. Wir müssen jetzt handeln. Das hat dann natürlich auch Auswirkungen auf bestimmte Formen der Landwirtschaft sowie auf die Intensivhaltung von Tieren. Aber ich glaube, das ist einfach notwendig. Und auch das wird mit jedem Tag klarer. Die Bundesregierung arbeitet an einer Ackerbaustrategie und an einem Aktionsprogramm Insektenschutz. Das Aktionsprogramm Insektenschutz wird noch im Sommer, so hoffe ich, verabschiedet, damit wir hier auch schnell handeln und den Koalitionsvertrag schnell umsetzen können.

Meine Damen und Herren, die Physikerin Marie Curie soll einmal gesagt haben: „Man merkt nie, was schon getan wurde, man sieht immer nur, was noch zu tun bleibt.“ Das ist menschlich. Aber wir können vielleicht auch ab und zu – um uns zu ermutigen; nicht, um uns zur Ruhe zu setzen – einen Blick zurückwerfen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnten in Deutschland nur 13 Prozent mit dem Begriff „nachhaltige Entwicklung“ etwas anfangen. Inzwischen sollen es 80 Prozent sein. Ich habe vorhin gesagt, dass ich glaube, dass wir trotzdem daran noch arbeiten müssen. Für mehr als ein Drittel ist die Agenda 2030 inzwischen ein Begriff. Auch das sollte für jeden ein Begriff werden. Mit einer Kampagne versucht das Bundespresseamt die Menschen noch mehr zu informieren, damit auch die 17 Ziele in Fleisch und Blut übergehen und mitgedacht werden können.

Ich will ausdrücklich sagen, dass es sehr, sehr hilfreich für uns ist, dass es so viele lokale, kommunale Nachhaltigkeitsinitiativen gibt. Das wird vor Ort gelebt. Es gibt hierfür herausragende Beispiele. Ich will vielleicht die Stadt Münster nennen. Dort gibt es zum Beispiel ein Dezernat für Nachhaltigkeit, in dem Nachhaltigkeit mit Fragen des sozialen Wohnungsbaus verbunden wird. Die Vergabe von Bauland wird daran geknüpft, dass Investoren mindestens 30 Prozent an Sozialwohnungen ausweisen. Das meistgenutzte Verkehrsmittel in Münster ist seit jeher das Fahrrad. Dafür und für viele weitere vorbildliche Aktivitäten hat Münster 2018 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis erhalten.

Es gibt auch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Wir haben uns zum Beispiel auf knapp 30 Nachhaltigkeitsindikatoren geeinigt, die von Bund und Ländern möglichst für ihre Strategien genutzt werden sollten. Dazu gehören die Indikatoren zum ökologischen Landbau und zum Flächenverbrauch ebenso wie die zum Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen. Ich werde am Donnerstag wieder mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder auch darüber sprechen.

Meine Damen und Herren, der französische Schriftsteller Victor Hugo war der Ansicht: „Die Zukunft hat viele Namen: Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte, für die Tapferen ist sie die Chance.“ So wollen wir bei aller Zähigkeit, die wir zu überwinden haben, die Tapferkeit und den Mut doch zu Maßstäben machen und noch mehr tun. Dazu fordert uns der Nachhaltigkeitsrat auf. Wir wollen Zukunft zur Heimat machen. Und ich darf Ihnen versprechen, dass ich bereit bin, dafür energisch zu arbeiten. Herzlichen Dank.