Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 50. Jubiläum von Greenpeace International am 30. August 2021

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Alexander Badrow,
sehr geehrte Frau Morgan,
sehr geehrter Herr Kaiser,
sehr geehrter Herr Hipp,
liebe Vertreterinnen und Vertreter von Greenpeace hier im Raum und natürlich auch im Stream,
sehr geehrte Vertreter des Meeresmuseums,
meine Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung zu diesem besonderen Jubiläumsfest an diesem ganz besonderen Ort! Das Stralsunder Ozeaneum zählt zu den Museen, die man einfach gesehen haben muss ‑ schon allein wegen des Ausstellungsbereichs „Riesen der Meere“, der zusammen mit Greenpeace konzipiert wurde.

Aber nicht nur deshalb bietet sich das Ozeaneum an, um hier die Gründung von Greenpeace vor 50 Jahren zu feiern. Denn wie ein roter Faden zieht sich der Einsatz für den Schutz der Meere von Anfang an durch die Geschichte von Greenpeace. Wir haben es gesehen: Sie begann mit einer Kutterfahrt im September 1971 und Protesten gegen amerikanische Atombombentests vor Alaska.

Schnell richtete sich das Augenmerk der noch jungen Organisation auch auf den Schutz der größten Säugetiere unserer Erde, der Wale. Bereits 1977 erhielt Greenpeace einen Beobachterstatus bei der Internationalen Walfangkommission. Zunehmend ebenso spektakuläre wie umstrittene Schlauchbootaktionen sorgten für großes Aufsehen.

Meeresschutz war auch der wesentliche Beweggrund zur Gründung von Greenpeace Deutschland 1980. Der Protest richtete sich damals gegen die Dünnsäureverklappung in der Nordsee.

Die Liste der Aktionen von Greenpeace, um die Weltöffentlichkeit auf ökologische und humanitäre Missstände aufmerksam zu machen, ist lang. Greenpeace machte sich damit wahrlich nicht nur Freunde, wie die Behinderung und Verfolgung von Aktivisten in vielen Staaten der Welt immer wieder zeigten.

Mitunter ging die Organisation erhebliche Risiken ein. Unvergessen bleibt die Versenkung der Rainbow Warrior 1985 mit dem tragischen Tod des Greenpeace-Fotografen Fernando Pereira.

Aber wir kommen auch an einem Tag wie heute nicht umhin, auch die, wie ich finde,  missglückte Gleitschirm-Aktion im Münchner Stadion während der Eröffnung der Fußball-Europameisterschaft im Juni dieses Jahres zu erwähnen. Mit ihr wurde ja nicht nur die eigene Gefährdung des Greenpeace-Aktivisten in Kauf genommen, sondern war auch eine erhebliche Fremdgefährdung der Stadionbesucher verbunden. Es war deshalb wichtig, dass Greenpeace hinterher sein Bedauern über diese Aktion ausgedrückt hat, die noch erheblich schlimmer hätte ausgehen können.

Gleichwohl: Greenpeace konnte in den letzten 50 Jahren Erhebliches bewegen:

  • So beschloss die Internationale Walfangkommission 1982 ein Verbot des kommerziellen Walfangs.
  • Mit dem Antarktis-Protokoll von 1991 wurde der Schutz der Antarktis vor kommerziellem Rohstoffabbau für 50 Jahre geregelt. Ich habe heute darüber nachgedacht, dass die 50 Jahre auch irgendwann vorbei sind. Wenn ich mir anschaue, welche Aktivitäten um die Antarktis herum stattfinden, möchte ich sagen: Man muss früh anfangen, auch für die Zeit danach zu arbeiten.
  • Mehrere Waldflächen zum Beispiel in Kanada, Finnland und Russland wurden, angestoßen durch Greenpeace-Aktionen, geschützt.

Dies leistet auch einen Beitrag zu dem Ziel, eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung unserer Zeit zu bekämpfen: den Klimawandel. Der Klimawandel muss eingedämmt werden, damit die Erde auch für unsere Kinder und Enkelkinder ein lebenswerter Ort bleiben kann. Das ist eine nationale, eine europäische, eine globale Aufgabe. Sie verlangt ein grundlegendes Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit ‑ in unserer Art zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften. Bei uns zu Hause und weltweit.

Eine solche Transformation ist mit Aufwand und Kosten verbunden. Das ist wahr. Aber wahr ist auch, dass die Folgen des Klimawandels noch dramatischer und noch weniger beherrschbar wären, wenn wir zu wenig oder noch später handeln, als das ohnehin schon der Fall ist. Die Folgen des Klimawandels würden uns im Vergleich zu frühzeitigen Gegenmaßnahmen noch wesentlich teurer zu stehen kommen. Teurer, was finanzielle Kosten anbelangt, und teurer, was den Verlust von Natur- und Lebensräumen anbelangt.

Vielleicht ein Beispiel: Wir haben den Kohleregionen in Deutschland versprochen, dass wir für den Ausstieg aus der Kohle 40 Milliarden Euro an Transformationsleistungen einsetzen werden. Wir haben jetzt einen Fluthilfefonds in Höhe von 30 Milliarden Euro für zwei tragische Flutereignisse aufgesetzt. Für zwei.  Aber man weiß nicht, wie viele noch kommen können.

Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass die Erderwärmung und Naturveränderungen derzeit schneller und dramatischer erfolgen, als dies in bisherigen Prognosen der Wissenschaft angenommen wurde. Der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC lässt darüber keine Zweifel zu. Auch bei uns ‑ ich habe es eben erwähnt ‑ zeigen Extremwetterereignisse ‑ Dürre und Hitze zum Beispiel in den Sommern 2018 und 2019, Flutkatastrophen nicht nur in diesem Sommer, sondern auch in zurückliegenden Jahren ‑, was auf uns noch verstärkt zukommen wird. Leidtragende sind schon wir, ganz besonders aber natürlich die künftigen Generationen.

Es geht hierbei also auch um Generationengerechtigkeit. Sie leitete auch das Bundesverfassungsgericht bei seinem Beschluss im März dieses Jahres, in dem das Gericht auf die Notwendigkeit verweist, „mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen […], dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.“ Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigte die Auswirkungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf rechtliche Verpflichtungen.

Auch deshalb setzte die Bundesregierung diesen Beschluss schnellstens um, indem im Klimaschutzgesetz noch ehrgeizigere Klimaschutzziele verankert wurden. Demnach soll der Treibhausgasausstoß bis 2030 um mindestens 65 Prozent gesenkt werden und das Ziel der Klimaneutralität bereits bis 2045 erreicht sein.

Wir haben zusätzlich zu unserem Klimaschutzprogramm 2030 ein Sofortprogramm 2022 auf den Weg gebracht. Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird es sein, über die weiteren konkreten Schritte in den Folgejahren zu entscheiden und zwar immer mit Blick auf das vorgegebene Ziel der Klimaneutralität.

Dieses soll 2050 auch in der ganzen Europäischen Union erreicht werden. Darauf hat sich die Europäische Union im vergangenen Jahr während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft verständigt. Die Europäische Kommission hat umfassende Gesetzgebungsvorschläge vorgelegt. Darüber stehen jetzt im Herbst intensive Beratungen an.

Zugleich müssen wir sorgfältig darauf achten, dass Emissionsminderungen bei uns nicht darauf beruhen, dass der Treibhausgasausstoß lediglich in andere Länder verschoben wird, etwa durch Firmenverlagerungen. Damit wäre weder unserer Wirtschafts- und Innovationsfähigkeit gedient noch für den Klimaschutz etwas gewonnen.

Umgekehrt ist aber auch klar, dass Fortschritte in Deutschland und Europa allein nicht ausreichen. Andere müssen mitziehen. Alle müssen mitziehen. Klimaschutz kann am Ende nur global gelingen.

Meine Damen und Herren, das führt uns zu dem schwierigen Thema ‑ jedenfalls in meiner politischen Erfahrung in der Umweltpolitik, aber aktuell zum Beispiel auch in der Pandemiebekämpfung ‑, wie es gelingen kann, vorsorgend zu handeln, zumindest aber noch rechtzeitig das Schlimmste zu verhindern. Denn in Demokratien muss um Mehrheiten gekämpft werden, mit denen Ziele auch tatsächlich erreicht bzw. durchgesetzt werden können, fast immer auch mit einem damit verbundenen Ausgleich von Interessen.

Ich persönlich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Aktion von Greenpeace im Jahre 1995, als Greenpeace alles daransetzte, die Versenkung der britischen Ölbohrinsel „Brent Spar“ in der Nordsee zu verhindern. Das Ziel, die Versenkung der vornehmlich von Shell betriebenen Ölplattform in der Nordsee zu verhindern, konnte eigentlich kein vernünftiger Mensch ablehnen, weil mit der drohenden Versenkung der Plattform die Verschmutzung unserer Meere geradezu symbolhaft vor unseren Augen stand.

Greenpeace ging damals geschickt vor. Denn parallel zu einer für Greenpeace typischen todesmutigen Besetzungsaktion riefen Sie damals dazu auf, nicht mehr bei Shell zu tanken. Mit diesem Boykottaufruf konnte sich damals jeder, der es wollte, an der Gesamtaktion beteiligen, ohne dass dies zu einer gravierenden Einschränkung des persönlichen Alltags geführt hätte. Die Akzeptanz wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit anders ausgefallen, wenn Greenpeace statt zum Shell-Tankboykott zum Beispiel dazu aufgerufen hätte, auf das Autofahren zu verzichten, bis die Versenkung der Ölplattform „Brent Spar“ gestoppt worden wäre.

Für mich zeigten die Geschehnisse um die „Brent Spar“ damals nahezu exemplarisch sowohl die unterschiedlichen Möglichkeiten als auch Aufgaben einer Organisation wie Greenpeace auf der einen Seite und des Staates auf der anderen. Ich habe mir darüber bereits 1995 viele Gedanken gemacht, weil ich ja zu der Zeit Umweltministerin war, und habe diese Gedanken später, 1997, auch in meinem Buch „Der Preis des Überlebens“ zu Papier gebracht. Damals habe ich auch über den Unterschied zwischen umweltpolitischen Konflikten und sozialpolitischen Konflikten nachgedacht. In der Umweltpolitik gab es zwar das Instrument des Boykotts, wie Greenpeace es bei „Brent Spar“ anwandte, nicht aber das des Streiks, wie es sich die Gewerkschaften über Jahrzehnte erkämpft hatten und heute nutzen können.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, hat sich allerdings auch das verändert, und zwar seit sich fast auf den Tag genau vor drei Jahren die damals 15-jährige schwedische Schülerin Greta Thunberg mit einem selbst gemachten Schild mit der Aufschrift „Schulstreik für das Klima“ vor den Schwedischen Reichstag in Stockholm setzte.

Was sie ganz alleine begann, wurde in der Folge mit Fridays for Future, also jeweils freitags wöchentlichen Schulstreiks, zu einer der größten Bewegungen für den Klimaschutz weltweit. Einer Bewegung, dessen bin ich sicher, die nicht nur Staat und Politik herausfordert, und zwar zu Recht, sondern vielleicht auch etablierte Umweltorganisationen wie Greenpeace. Sie fordert uns sowohl hinsichtlich des Mittels des Streiks und des Protests als auch natürlich in der Sache heraus.

Der Klimawandel ist die größte Bedrohung des Lebens auf unserer Erde, verbunden mit der Bedrohung der Artenvielfalt zumal. Und er trifft alle. Deshalb müssen sich auch alle gegen ihn stemmen. Politisch gesprochen heißt das: Jeder muss auf seiner Ebene seinen Beitrag zum Schutz des Klimas leisten.

Aber ohne multilaterales Handeln geht am Ende wenig bis nichts. Das ist überaus mühsam, zäh, zeitraubend. Doch es führt kein Weg daran vorbei, dass wir uns auch auf internationaler Ebene ‑ etwa im Rahmen der G20 ‑ dafür einsetzen, erneuerbare Energien auszubauen und dabei etwa auch Interessenkonflikte wie in der Windenergie zu überwinden, aus der Kohle auszusteigen, Energie effizienter zu nutzen, klimaschonende Mobilität voranzutreiben, das Ernährungssystem nachhaltiger zu machen, Regenwälder und Korallenriffe zu schützen.

Denn wir haben auch einen gravierenden Rückgang der Biodiversität zu beklagen. Derzeit sind mehr Arten vom Aussterben bedroht als während der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor.

Wir müssen ganzheitlich denken und Synergien zwischen Klimaschutz, Naturschutz und Ressourcennutzung schaffen:

an Land durch die Verringerung der Nährstoffüberschüsse und des Einsatzes chemischer Pflanzenschutzmittel, durch Humusaufbau und den Ausbau des Ökolandbaus, durch den Schutz und die Renaturierung von Mooren wie auch durch den Erhalt und die Wiederaufforstung von Wäldern. Ich habe gerade viele Wochen intensiver Diskussionen über all die damit verbundenen Rechtsetzungen hinter mir.

Und im Meer durch die Verringerung von Meeresverschmutzung und Überfischung, durch die Ausweisung von Schutzgebieten. Das alles ist dringend erforderlich, um die Resilienz der Ökosysteme gegenüber neuen Nutzungen und gegenüber dem Klimawandel zu stärken.

Dabei müssen wir die Menschen von der Notwendigkeit dieser großen Transformation überzeugen. Der Biologe Michael Succow  ‑ich konnte mich überzeugen, dass er da ist ‑ hat diese Herausforderung einmal wie folgt auf den Punkt gebracht, und ich möchte ihn zitieren: „Lassen wir die Natur unverändert, können wir nicht existieren; zerstören wir sie, gehen wir zugrunde. Der schmale, sich verengende Gratweg zwischen Verändern und Zerstören kann nur einer Gesellschaft gelingen, die sich mit ihrem Wirtschaften in den Naturhaushalt einfügt.“

Dieses Verständnis prägt auch die Arbeit von Greenpeace. Beharrlich und streitbar, überzeugt und überzeugend ‑ so weist die Umweltorganisation seit 50 Jahren auf die Verletzlichkeit der Meere, der Atmosphäre und der Natur sowie auf ihre Bedeutung für uns Menschen hin.

Ohne das Zutun von Greenpeace wäre vieles nicht so auf den Weg gebracht worden. Die „Brent Spar“ übrigens wurde damals nicht in der Nordsee versenkt, sondern ab 1998 nach und nach zurückgebaut, nachdem im Juli desselben Jahres die 15 Teilnehmerstaaten der OSPAR-Konferenz, unter ihnen Deutschland, ein Versenkungsverbot von Ölplattformen im Nordatlantik beschlossen hatten.

Sehr geehrte Frau Morgan, Ihnen und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern gratuliere ich herzlich zu 50 Jahren Greenpeace! Sie werden auch weiter gebraucht!

Herzlichen Dank!