Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 9. April 2019 in Berlin

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Sehr geehrter Präsident, lieber Herr Fabritius,
sehr geehrter Herr Bundesinnenminister,
sehr geehrte Frau Staatsministerin,
sehr geehrte Staatssekretäre,
sehr geehrter Alexander Dobrindt und liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag,
Exzellenzen – allen voran begrüße ich ganz herzlich den Nuntius –,
aber vor allem Sie alle, meine Damen und Herren,

natürlich bedanke ich mich wieder für die Einladung. Sehr gerne, lieber Herr Fabritius, bin ich wieder zu diesem traditionellen Jahresempfang gekommen, an dem ich auch relativ beständig teilnehme; und das auch immer aus tiefer Überzeugung.

Wir feiern in diesem Jahr den 70. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland. Politische Stabilität, wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Frieden waren und sind die wesentlichen Markenzeichen dieser 70 Jahre. Die Heimatvertriebenen haben an dieser Entwicklung einen großen Anteil. Das ist alles andere als selbstverständlich nach all dem Schrecklichen, das Sie und Ihre Vorfahren durchgemacht haben. Es bleibt unvergessen, was die Heimatvertriebenen für den Wiederaufbau Deutschlands geleistet haben. Sie haben mitgeholfen, dass Deutschland, das so viel Leid und Elend über Europa und die Welt gebracht hatte, seinen Platz als anerkannter Partner in der Staatengemeinschaft wiederfinden konnte.

Wir dürfen nicht vergessen, was wir auf dem Weg der Versöhnung und Freundschaft vor allem mit unseren europäischen Nachbarn erreicht haben. Uns verbindet heute weit mehr als ein gemeinsamer Markt. Uns verbindet zuallererst ein freiheitliches und friedliches Europa. Das sollten wir auch vor Augen haben – und ich bedanke mich in diesem Zusammenhang auch für die Worte des Präsidenten Fabritius –, wenn wir rund 450 Millionen Europäerinnen und Europäer in wenigen Wochen unser neues Europaparlament wählen.

Europa ist heute, 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, ein weltweit einzigartiger Raum des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands. Das war beileibe nicht immer so. Gerade Ihre Familiengeschichten erzählen von Leid und Entbehrung zu einer Zeit, in der eine europäische Einigung reine Utopie zu sein schien. Sie erzählen von der Flucht unter Lebensgefahr zum Beispiel über das zugefrorene Haff, vom Leben in den Flüchtlingsbaracken, vom völligen Neuanfang fern der Heimat und vor allem von den vielen Menschen, die ihr Leben verloren haben.

Europa als Friedensgemeinschaft – das war und ist die Antwort auf Krieg und all seine schrecklichen Folgeerscheinungen. Wer könnte besser als Sie, die Heimatvertriebenen, davon erzählen, was wir an Europa haben? Und zwar nicht abstrakt, sondern – viele, die heute hier sind, können das ja auch – mit Blick auf Ihre Familienschicksale und auch auf die Arbeit heute außerhalb der deutschen Grenzen. Gerade Sie können jenen, die an Europa zweifeln und sich lieber ins Nationale zurückziehen wollen, glaubhaft vermitteln, was Europa bedeutet und bedeuten kann. Gerade Sie wissen, wie wichtig es ist, Erinnerung zu pflegen, um im Bewusstsein der Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.

Das bedeutet – und ich weiß, dass Sie dazu bereit sind –, den Weg der Versöhnung weiterzugehen. Ich weiß, dass sich das so leicht sagt, dass es aber nicht ganz so leicht ist, das zu tun. Wer an die Verluste und Schmerzen der Menschen – gleich welcher Nationalität – denkt, der weiß, dass der Versöhnungsprozess nach all dem, was in Europa vor über 70 Jahren geschah und was uns noch heute prägt, alles andere als einfach war.

Umso wichtiger ist es – und das tun Sie; auch der heutige Abend ist ja ein Beispiel dafür –, immer wieder das Gespräch zu suchen. Dialog – genau dafür steht der Bund der Vertriebenen. Er schlägt immer wieder Brücken in die Zukunft. Er setzt sich unter Einbeziehung historischer Erfahrungen für Versöhnung ein – oder, wie es in Ihrem aktuellen Jahresleitwort heißt, für „Menschenrechte und Verständigung - für Frieden in Europa“.

Aus dem Schicksal der Vertriebenen und aus ihrem Selbstverständnis als Brückenbauer in Europa erwächst ohne jeden Zweifel auch politische Verantwortung. Die Bundesregierung nimmt diese Verantwortung sehr ernst – Sie haben das eben deutlich gemacht: sowohl das Bundesministerium des Innern als auch die Staatsministerin für Kultur. Als Beispiel nenne ich nur die im Bundesvertriebenengesetz festgelegte Aufgabe, das Kulturerbe zu erforschen und zu bewahren. Das Konzept ist weiterentwickelt worden. Wir erschließen uns immer wieder neue Perspektiven. Deutlich macht dies die grenzüberschreitende Arbeit mehrerer Forschungseinrichtungen und Landesmuseen, die der Bund gemeinsam mit den Ländern und weiteren Partnern fördert. Dafür sind in unserem Budget in diesem Jahr 23 Millionen Euro vorgesehen.

Das kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa ist durch Wechselwirkungen mit Kulturen anderer Völker Teil einer europäischen Beziehungsgeschichte. Diese vielfältige Geschichte zu vermitteln, hilft, das Bewusstsein für die gemeinsamen Wurzeln, die wir in Europa haben, zu schärfen und so die Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn zu festigen. Das ist eine fortwährende Aufgabe. Ich freue mich, dass auch auf der bevorstehenden Reise der Staatsministerin für Kultur und Medien nach Rumänien das Thema Vertreibung eine Rolle spielen wird und der Blick von der Gegenwart sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gewandt wird.

In diesem Sinne wirkt auch die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Auch die Stiftungsarbeit wurde konzeptionell und inhaltlich weiterentwickelt – auch ein permanenter Weg, der aber, wie ich mich gerade eben wieder erkundigt habe, doch erfolgreich gegangen wird. Für die Eröffnung des Dokumentationszentrums sind natürlich die Fertigstellung und Übergabe des Gebäudes von Bedeutung. Ich habe mich gerade einmal erkundigt – bei den Bautempi sind wir ja sozusagen nicht immer weltmeisterverdächtig –: Laut baubegleitender Behörde könnte es im Februar 2020 so weit sein. Dann kann die Stiftung als deutschlandweit einzigartiger, gesamteuropäisch verankerter und international sichtbarer Lern- und Erinnerungsort endlich seiner Bestimmung zugeführt werden. Ich habe mich an diesen Diskussionen sehr intensiv beteiligt. Es würde mich unendlich freuen, wenn wir endlich einmal einfach die Türen öffnen und Menschen hineinbringen könnten.

Meine Damen und Herren, mit Blick auf die Vergangenheit Verantwortung für Gegenwart und Zukunft zu übernehmen, kann ganz unterschiedliche Ausprägungen haben. Dazu gehört etwa auch – und darauf bezog sich ja ein breiter Teil der Ansprache des Präsidenten –, eine angemessene soziale Absicherung im Alter für Spätaussiedler zu gewährleisten. Sie haben uns noch einmal deutlich gemacht, Herr Fabritius, dass Ihnen dieses Thema ein besonderes Anliegen ist. Es ist ein Anliegen, das die Bundesregierung mit Ihnen teilt.

Wir haben Anfang 2019 ja das „Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung“ in Kraft gesetzt. Von den Regelungen etwa zur Rentenniveausicherung, zu den Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten profitieren auch die Spätaussiedler. Dennoch habe ich Ihren Punkt verstanden; und auch Ihre Zahlenangaben waren nicht ohne jede logische Relevanz, würde ich einmal sagen, was den demografischen Aufbau der Gruppe der Spätaussiedler anbelangt. Ich werde mir das daher noch einmal sehr genau anschauen.

Wir haben uns außerdem vorgenommen, für Härtefälle in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess einen Ausgleich durch eine Fondslösung zu schaffen. Auch hierbei wollen wir Spätaussiedler mit einbeziehen. Ich hoffe, dass die Koalition hierzu eine vernünftige Lösung finden wird. Aber ich habe schon verstanden: Mit all dem kann ich Sie noch nicht beruhigen. Wir müssen also weiterarbeiten.

Meine Damen und Herren, es gibt viele Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Bund der Vertriebenen. Das Spektrum reicht von einer umfassenden Pflege der Erinnerungskultur bis hin zu gesetzlicher Detailarbeit. Deshalb freue ich mich auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit.

Ich möchte aber vor allen Dingen auch danke sagen: danke Ihnen allen, die Sie – jeder und jede Einzelne hier – Ihren Beitrag dazu leisten, dass das, was wir tun können – finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, Museen bauen, soziale Gesetze machen –, mit Leben erfüllt wird. Denn das können wir ja nicht so einfach. Wir können die Rahmenbedingungen setzen, aber sie müssen dann auch genutzt werden. Das ist oft eine sehr aufwändige Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes. Lange Reisezeiten auf sich zu nehmen, sich immer wieder auch auf andere Befindlichkeiten einzustellen, immer wieder auf veränderte politische Situationen zu reagieren – ob in Polen, in Rumänien oder anderswo –, den deutschen Minderheiten außerhalb Deutschlands Mut zu machen und sie bei der Stange zu halten, die nächste Generation mit einzubeziehen – all das ist Arbeit, die nur durch einen Verband wie Ihren überhaupt geleistet werden kann.

Da wir ja alle wissen, dass im 21. Jahrhundert die Zeit ein immer wertvolleres Gut wird – wer gibt für wen Zeit? –, möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie Zeit für unsere gemeinsame Geschichte, für unser gemeinsames Land geben und dass Sie – nicht nur die, die vor Ihnen gearbeitet haben – damit auch weiter zum Zusammenhalt in unserem Land und zur erfolgreichen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beitragen. Danke dafür im Namen der ganzen Bundesregierung.