Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 40-jährigen Bestehen des Amtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

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Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 40-jährigen Bestehen des Amtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

Mittwoch, 12. Dezember 2018 in Berlin

Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Annette Widmann-Mauz,
liebe Frau Berger,
Frau Schmalz-Jacobsen,
Frau Beck,
Maria Böhmer,
Frau Özoğuz,
werte Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Parlamenten,
meine Damen und Herren,

damit nichts Falsches berichtet wird: Es war mein Großvater, der Kazmierczak hieß; und mein Vater hatte dann schon den eingedeutschten Namen Kasner. Aber nichtsdestotrotz bleibt es ein Migrationshintergrund.

Seit 40 Jahren gibt es nun das Amt der Integrationsbeauftragten. Sieben Frauen und ein Mann haben in diesen vier Jahrzehnten das Amt ausgefüllt. Und ich freue mich außerordentlich, dass die allermeisten heute hier sind. Sehr schön. Wir hatten hier ein reines Frauenbild, obwohl wir gar nicht das Frauenwahlrechtsjubiläum feiern. Das gibt es also auch noch woanders.

Sich für Chancen für alle und ein respektvolles Miteinander stark zu machen – das ist ja, wie wir wissen, eine wirklich umfassende Aufgabe. Marieluise Beck hatte Recht, als sie damals forderte, Integration nicht als Minderheitenpolitik, sondern als Gesellschaftspolitik und als Querschnittsaufgabe zu verstehen. Deswegen habe ich 2005, als ich Bundeskanzlerin wurde, das Amt im Bundeskanzleramt angesiedelt. Und deshalb haben wir heute einen schlag- und tatkräftigen Stab der Integrationsbeauftragten mit rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Heinz Kühn hatte als erster Ausländerbeauftragter 1978 gerade einmal zwei Mitarbeiter. Man kann also sagen: Das Amt wächst auch mit und an der Aufgabe.

Nun haben sich in den vergangenen vier Jahrzehnten unser Land und unser Kontinent stark verändert – vor allem durch die Überwindung der Ost-West-Konfrontation und natürlich auch durch die fortschreitende Globalisierung. Dem wiedervereinigten Deutschland und dem zusammengewachsenen Europa kommen sehr viel mehr Verantwortung zu – in der Außenpolitik, in der Welt. Unsere Gesellschaft, aber auch unser Blick auf die Welt haben sich deutlich gewandelt. Wir dürfen mit Stolz sagen, dass Deutschland weltoffener geworden ist. Und das zeigt sich eben auch am Umgang mit Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen.

Wir haben lange gebraucht – ich stehe hier für eine Partei, die besonders lange gebraucht hat –, um anzuerkennen, dass wir ein Einwanderungsland sind, auch wenn sich noch immer viele schwer damit tun, auch und gerade im Kontext der Globalisierung gesellschaftliche Vielfalt als Stärke zu verstehen. Das liegt allerdings auch daran – dabei war wiederum die Partei, der ich angehöre, etwas vorneweg –, dass wir sehr lange gebraucht haben, offen und mit der nötigen Selbstkritik auch über Integration zu reden. Auch das ist notwendig, wenn ich zum Beispiel daran denke, dass wir lange von „Gastarbeitern“ gesprochen haben. Maria Böhmer war die Erste im Amt, die Menschen, die einst als Gastarbeiter in unser Land gekommen sind, in das Kanzleramt eingeladen hat. Es war eine unglaubliche Freude, gemeinsam mit ihnen darüber zu diskutieren, welchen Beitrag diese Menschen aus anderen Ländern für den Wohlstand hier bei uns in Deutschland geleistet haben.

Es war immer wichtig, dass die jeweiligen Amtsinhaber und Beauftragten den Diskurs zum Thema Integration vorangebracht haben; das gilt für alle. Aber ich vermute auch: diejenigen, die in diesem Amt gearbeitet haben, hatten oft den Eindruck, dass sie gegen Windmühlen anrennen und dass es viel Arbeit braucht, um überhaupt voranzukommen. Deshalb ist es auch an einem Tag wie heute wichtig zu betonen, dass sich nicht nur die Beauftragte oder der Beauftragte im Kabinett als Vertreter der Integration und der Belange der Menschen mit Migrationshintergrund versteht, sondern dass das im Grunde die Arbeitsbeschreibung für jeden Minister und jede Ministerin und natürlich auch für die Bundeskanzlerin ist. Ausdauer und langen Atem zu haben, war und ist wohl eine Eigenschaft, die in der Stellenbeschreibung der Integrationsbeauftragten nicht fehlen darf. Ich vermute, da heute auch viele aus den Ländern und Kommunen hier sind, dass das nicht nur auf der Bundesebene so ist, sondern dass das für Sie alle gilt. Deshalb ein herzliches Dankeschön für Ihre Arbeit.

Wenn man über Ausdauer und langen Atem spricht, dann trifft es sehr häufig auf Frauen zu, dass sie das haben. Deshalb lag dieses Amt vielleicht auch nicht von ungefähr 38 Jahre von diesen 40 Jahren in Frauenhand. Beharrlichkeit als weibliche Eigenschaft zeigt sich ja gerade auch in diesem Jahr – ich habe es schon angedeutet –, in dem wir auch an 100 Jahre Frauenwahlrecht erinnern. Es hat lange gedauert, ehe dieses Grundrecht erkämpft wurde.

Es zeigt sich, dass Frauen nicht nur in diesem Amt häufig vertreten sind, sondern auch in der ehrenamtlichen Arbeit vieles erledigen. Wenn ich einmal an die Flüchtlingshilfe und an die Integrationsbeauftragten insgesamt denke, an soziale Berufe und an Lehrkräfte, dann sehe ich, dass das sehr häufig eine Domäne von Frauen ist. Frauen spielen auch unter Einwanderern und Flüchtlingen selbst eine entscheidende Rolle. Denn vor allem sie sind es ja, die in den Familien Sprachkenntnisse weitergeben, Werte und Erfahrungen an ihre Kinder weitergeben. Frauen und Mütter tragen viel dazu bei, dass ihre Familien in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kultur ankommen.

Das heißt also, Investitionen in Bildung und Integration von Frauen haben insofern Multiplikatoreneffekte. Daher ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, Frauen aus Zuwandererfamilien und Frauen, die als Geflüchtete zu uns kommen, gezielt anzusprechen. Ich sage das, weil die jetzige Beauftragte für Integration auch eine lange politische Geschichte in der Förderung von Frauen hat. Deshalb achtest Du darauf, dass Verbände oder Vereine, mit denen Du Dich triffst, mit mindestens einer Frau vertreten sind. Das ist richtig und wichtig.

Jetzt will ich aber die Männer nicht etwa aus der Verantwortung entlassen. Vor allem Väter haben eine riesige Verantwortung. Und ich werde später im Zusammenhang mit dem Ehrenamt natürlich auch noch einmal darauf zu sprechen kommen, dass Männer im Ehrenamt genauso wichtig wie Frauen sind.

Wir dürfen jedenfalls nicht darüber hinwegsehen, dass die Zahl weiblicher Flüchtlinge und Einwanderer gestiegen ist. Ihre Situation kann man nicht immer mit der Situation männlicher Flüchtlinge und Einwanderer gleichsetzen. Denn als Menschen mit Migrationshintergrund und eben auch als Frauen kämpfen sie nicht selten in doppelter Hinsicht gegen Ausgrenzung an. Das hat insbesondere auch damit zu tun, dass die Verantwortung für die Familien- und Hausarbeit in der Regel vor allem auf Frauen lastet. Dadurch ist es für sie oft schwieriger, zum Beispiel Integrationskurse zu besuchen und sich beruflich zu bilden. Und deshalb müssen wir darauf ein ganz besonderes Augenmerk legen.

Deshalb ist auch die Frage der Kinderbetreuung, die auch schon immer – gerade auch von Frau Özoğuz und jetzt auch von Annette Widmann-Mauz – in den Mittelpunkt gestellt wurde, ganz wichtig. Es geht natürlich um die Kinder, um ihre Förderung und ihre Perspektiven, aber es geht gleichzeitig – wie wir es ja auch aus der Realität derjenigen kennen, die schon sehr lange in Deutschland leben – eben auch immer um berufliche Chancen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die wir nur dann verbessern können, wenn auch Väter ihre Familienverantwortung verstärkt wahrnehmen.

Meine Damen und Herren, es geht also bei Integration im Grunde um Fragen der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft – nicht mehr und nicht weniger. Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Vernunft. Das ist auch eine Frage, die Auswirkungen auf unseren Wohlstand hat. Wir wissen, wenn es um unsere wirtschaftlichen Perspektiven geht, dass jedes Talent zählt und dass wir auch Fachkräfte aus dem Ausland brauchen. Wir arbeiten derzeit an einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz – wir haben lange darüber gesprochen, ob wir es Zuwanderungs- oder Einwanderungsgesetz nennen; wir nennen es jetzt Einwanderungsgesetz –, da wirtschaftliche Prosperität für Deutschland eben auch mit ausländischen Fachkräften zusammenhängt, meine Damen und Herren.

Eigentlich ist es etwas ganz Einfaches und auch etwas ganz Selbstverständliches: Diversität ist etwas, das uns stark macht; und zwar mit Blick auf die Geschlechter, mit Blick auf die Altersgruppen und mit Blick auf Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Wir brauchen neben Diversität auch Parität, was die Geschlechter anbelangt. Wenn wir das immer besser schaffen, dann werden wir in der Bundesrepublik Deutschland auch noch stärker sein. Wir wissen aber, dass wir davon in den Vorstandsetagen der Wirtschaftsunternehmen, aber auch im öffentlichen Dienst leider noch sehr weit entfernt sind.

Aydan Özoğuz hat immer wieder gemahnt, dass eine vielfältige Gesellschaft gleiche Chancen auf Teilhabe braucht. Jede Frau und jeder Mann soll bei uns ihren oder seinen Weg gehen können. Da müssen wir ehrlich sein und sagen, dass wir das noch nicht in gleichem Maße geschafft haben. Das ist unabhängig von der Integrationsfrage ein Sachverhalt, der sich zum Beispiel auch schon bei der Berufsauswahl widerspiegelt. Wir werben als Bundesregierung dafür, dass mehr Mädchen und Frauen in die sogenannten MINT-Berufe gehen – also Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik. Dazu haben wir zum Beispiel den Girls‘ Day.

Auch im Bereich Integration müssen wir einfach sagen: Teilhabe hängt sehr viel mit Bildung zusammen; und da müssen wir früh ansetzen. Deshalb gibt es den Kita-Ausbau und das Recht auf Betreuung für unter Dreijährige. Diese Woche geht es im Deutschen Bundestag um das Gute-Kita-Gesetz. Es freut mich, dass uns die UNESCO in ihrem jüngsten Weltbildungsbericht bescheinigt, dass junge Menschen aus Flüchtlings- und Einwandererfamilien in deutschen Kindergärten, Schulen und Universitäten überdurchschnittlich gut unterstützt werden. Die Studie hebt zum Beispiel hervor, dass unsere Investitionen in die Sprachförderung gut sind, dass die Anerkennung beruflicher Qualifikationen etwas ist, das wir gut auf den Weg gebracht haben, und dass wir auch eine Vielzahl positiver Unterstützungsprogramme haben.

Wir haben vieles auf den Weg gebracht. Aber das darf den Blick nicht vor der Tatsache verschließen, dass es immer noch viel zu tun gibt. So hat sich Annette Widmann-Mauz mit ganzer Kraft für eine Qualitätsoffensive bei der Integration eingesetzt – sei es mit der Stärkung der Integrationskurse, beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz, bei dem Du Deine Handschrift hinterlassen hast, oder eben auch beim Nationalen Aktionsplan Integration.

Wir können als Regierung helfen, den schwierigen Weg der Integration zu ebnen. Aber natürlich muss jeder Einzelne selbst diesen Weg gehen. Das muss aber keineswegs heißen, dass Menschen auf sich allein gestellt sind. Wir können unterstützen. Integration ist eine Gemeinschaftsleistung – eine Gemeinschaftsleistung von denen, die zu uns gekommen sind, und denen, die schon länger oder immer hier sind. Es ist eine Gemeinschaftsleistung von Familienangehörigen, von Freunden, von Arbeitskollegen, Vereinskameraden, Lehrern und auch von Behördenmitarbeitern. Integration braucht und bedeutet Gemeinsinn statt Eigensinn, Weitblick statt Scheuklappendenken, Offenheit füreinander statt Abgrenzung voneinander.

Deshalb möchte ich sagen: Es ist ein großes Glück – und darauf können wir wirklich stolz sein –, dass sich in unserem Land so viele Menschen ehrenamtlich engagieren. Sie übernehmen Patenschaften für Flüchtlingskinder, bieten Kurse an, sammeln Kleidung, organisieren Veranstaltungen. Sie schaffen Raum für Begegnung, für gegenseitiges Kennen-, Verstehen- und Schätzenlernen. Das sind Millionen von Menschen, ob im Sport oder in anderen Bereichen. Deshalb kann ich nur sagen: Danke all denen, die ehrenamtlich tätig sind und die so vieles leisten.

Meine Damen und Herren, die Aufgabe der Integrationsbeauftragten wird weiterhin wichtig sein für unser Land. Sie wird sich auch in den nächsten 40 Jahren verändern. Aber – Annette Widmann-Mauz hat sozusagen schon auf das 50. Jubiläum hingewiesen – wir müssen auch vorankommen. Es gibt immer noch Unterschiede in den Bildungsabschlüssen. Wir können immer noch sagen, dass Namen bei Berufsbewerbungen leider eine Rolle spielen. Deshalb heißt es an einem solchen Jubiläumstag nicht etwa, die Hände in den Schoß zu legen, sondern die Ärmel hochzukrempeln und weiterzumachen, damit wir alle ein noch besseres Deutschland werden – zusammen. Herzlichen Dank.

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