Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Handelskongress am 19. November 2015

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Sehr geehrter Herr Präsident Sanktjohanser,
lieber Günther Oettinger,
meine Damen und Herren,

der Kongress, den Sie hier durchführen, dient dazu, Entwicklungen im Handel näher zu beleuchten und sich über aktuelle Herausforderungen Ihrer Branche auszutauschen. Ich denke, man kann sagen, dass der deutsche Einzelhandel insgesamt gut aufgestellt ist. Herr Sanktjohanser, Sie haben eben auch eine Zahl genannt. Dass die Zahl der Beschäftigten gestiegen ist, ist eine Entwicklung, die mich sehr freut. Sie zeigen mit dem Thema Ihres Kongresses zudem, dass Sie immer auch eine Runde weiter, an die Zukunft denken.

Auch wenn der deutsche Einzelhandel und die deutsche Wirtschaft insgesamt gut aufgestellt sind, muss ich dennoch sagen: Dieser Kongress wird wie auch andere Veranstaltungen in diesen Tagen von den barbarischen Anschlägen in Paris überschattet. Wir verweilen in unseren Gedanken immer wieder bei den Opfern, bei den Verletzten, bei den Angehörigen. Wir stehen in diesen Tagen eng an der Seite unserer französischen Freunde. Denn dieser Akt der Menschenverachtung zielt auf alle, denen ein Leben und Zusammenleben in Würde, in Freiheit, in Toleranz am Herzen liegt.

Wir wissen aber auch: Freiheit lässt sich nicht unterdrücken – weder von Terroristen noch von diktatorischen Regimen. Immer wieder – so hat es die Geschichte gezeigt – bricht sich Freiheit Bahn. Diese Erfahrung haben auch wir Deutschen gemacht. Denn so unfassbar wie die wiederholten Anschläge in Paris oder auch in Kopenhagen in diesem Jahr waren, so wenig wollen wir vergessen, dass wir in diesem Jahr auch auf etwas sehr Schönes zurückblicken konnten: auf 25 Jahre Deutsche Einheit. Von der Grenzöffnung am 9. November 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hat es nicht einmal ein Jahr gedauert. Das war eine unglaublich kurze Zeitspanne, gemessen an der Bedeutung des historischen Schritts. Wenn man sich überlegt, was in dieser Zeit in Europa noch alles parallel stattgefunden hat, dann weiß man, dass das eine enorm dichte Phase wirklich positiver geschichtlicher Entwicklung war.

Für den zügigen Vollzug der Deutschen Einheit sprachen viele Argumente. Sie resultierten auch aus vielen Facetten, die die Freiheit kennt. Dazu zählten auch – sie wurden damals manchmal verunglimpft – ökonomische Freiheiten. Ich erinnere mich noch gut an die Faszination, mit der viele aus dem Osten – ich auch – durch Geschäfte im Westen gingen. Die Vielfalt hochwertiger Produkte sprach für sich. Sie war geradezu Sinnbild für wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand.

Aber weder wirtschaftlicher Erfolg noch Wohlstand fallen vom Himmel. Beides muss immer wieder hart erarbeitet werden. Aber um sich Wohlstand überhaupt erarbeiten zu können, braucht es wesentliche Voraussetzungen. Eines war klar: Die Zentrale Planwirtschaft war offensichtlich nicht geeignet, Wohlstand und Erfolg herbeizuführen. Die jahrzehntelange Misswirtschaft hatte in der ehemaligen DDR tiefe Spuren hinterlassen. Deshalb waren riesige Anstrengungen erforderlich, um – heute sehen wir sie – blühende Landschaften zu realisieren.

Es lohnt sich, so denke ich, sich vor Augen zu führen, unter welchen Ausgangsbedingungen die neuen Bundesländer in die Einheit gestartet sind. So wird uns auch bewusst, was wir in diesem Vierteljahrhundert geschafft haben. So zeigt sich, was sich mit Mut und Weitsicht bewegen lässt. Deshalb habe ich auch die berechtigte Hoffnung und Zuversicht, dass ebenso gegenwärtige Herausforderungen bewältigt werden können, gerade auch weil wir wirtschaftlich gut dastehen.

Die vielen Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen, gehen davon aus, dass wir ihnen helfen können. Sie sehen in Deutschland ein Land, das Kraft hat, Schutz und Perspektiven auf ein besseres Leben zu bieten. Angesichts der Dimension der Flüchtlingsproblematik müssen wir aber auch klar sagen: Wer allein aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommt, wird in sein Heimatland zurückkehren müssen. Wir brauchen unsere Kraft, um denjenigen Schutz gewähren zu können, die ihn wirklich brauchen, die vor Terror, vor Krieg und vor Verfolgung geflohen sind.

Deshalb – das ist eine der großen Aufgaben, die uns im Augenblick beschäftigen – brauchen wir rasch Klarheit darüber, wer denn nun eine Bleibeperspektive hat und wer nicht. Dazu werden jetzt viele Schritte gegangen. Herr Weise als Chef der Bundesagentur für Arbeit und zugleich des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sieht die Aufgabe darin, eine schnelle Integration derer mit Bleibeperspektive zu schaffen, aber eben auch auf eine schnelle Rückführung derer ohne Bleibeperspektive zu bestehen.

Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie bereit sind, Flüchtlingen, die eine Bleibeperspektive haben, Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen. Dafür braucht man aber auch sprachliche Voraussetzungen. Jeder Flüchtling, der eine Bleibeperspektive hat, wird sehr schnell einen Integrationskurs, einen Sprachkurs bekommen. BAMF und Bundesagentur werden auch aufeinander abgestimmte Kurse anbieten. Dabei spielt also die Orientierung an der Erwerbsfähigkeit eine Rolle. Man kann ja vieles lernen, aber es muss auch konzentriert sein, sodass man Menschen dorthin führt, wo Arbeitsmöglichkeiten für sie bestehen. Wir werden sehr offen sein für Praktika und Hospitationen jeder Art. Wir haben einen besseren Zugang zur Leiharbeit geschaffen. Und wir geben im Zusammenhang mit jenen, die eine Ausbildung beginnen, weitgehend Rechtssicherheit, damit sie die Ausbildung dann auch beenden können. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren sehr intensiv im Gespräch bleiben müssen: Was klappt, was klappt nicht, wo gibt es Probleme? Insofern werden wir auch sehr stark auf die Wirtschaft hören.

Wir haben eine Menge zu regeln. Wir müssen feststellen, dass die derzeitigen Rechtsetzungen zum europäischen Asyl- und Grenzsystem, dem sogenannten Dublin-System, nicht funktionieren. Wir haben einerseits freie Bewegungsmöglichkeiten durch das Schengen-Abkommen, aber wir haben andererseits keinen ausreichenden Schutz der Außengrenzen. So haben wir im Augenblick insbesondere an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland in hohem Maße Illegalität zu verzeichnen. Diese Illegalität muss durch Legalität ersetzt werden. Es kann nicht sein, dass die Ägäis, eine schmale Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland, von Schmugglern und Schleppern beherrscht wird, aber nicht von einem vernünftigen Grenzregime. Das muss sich ändern. Deshalb brauchen wir an den Außengrenzen mehr Schutz, deshalb brauchen wir Absprachen mit der Türkei, deshalb brauchen wir eine Registrierung von ankommenden Flüchtlingen gleich an der Außengrenze; und zwar so, dass sie nach europäischen Maßstäben stattfindet. Wir arbeiten im Augenblick auf einen EU-Türkei-Gipfel hin, um sehr schnell über Lastenteilung, über Legalität zu sprechen und gegebenenfalls auch bestimmte Zahlen von Flüchtlingen mit der Türkei vereinbaren zu können, die wir dann in der Europäischen Union aufnehmen. Und wir arbeiten an einer fairen Verteilung innerhalb Europas, die leider auch noch nicht gewährleistet ist.

Es geht aber nicht nur darum, ein ordentliches Grenzregime an den Außengrenzen der Europäischen Union zu haben, sondern wir müssen immer auch das Ziel im Auge haben, dass es auch darum geht, die Ursachen zu bekämpfen, derentwegen Flüchtlinge überhaupt erst ihre Heimat verlassen. Es geht um die politische Arbeit an einer Lösung des Syrien-Konflikts, um eine Verbesserung der Lebenssituation der Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon und auch um eine Verbesserung der Situation der Flüchtlinge in der Türkei. Gerade dazu vereinbaren wir mit der Türkei europäische Hilfeleistungen, um zum Beispiel die 900.000 Kinder, die in der Türkei noch nicht alle zur Schule gehen können, besser beschulen zu können und ihnen dann Perspektiven für ihr Leben zum Beispiel in der Nähe Syriens zu eröffnen.

Meine Damen und Herren, wir stehen vor gewaltigen Aufgaben, da wir nicht nur den Krieg gegen das Assad-Regime haben, nicht nur den Krieg gegen den Islamischen Staat, nicht nur eine fragile Situation in Afghanistan, sondern weil wir auch große Konflikte in Afrika zu verzeichnen haben. Vor wenigen Tagen haben wir auf einem EU-Afrika-Gipfel in Valletta auf Malta über Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen in Afrika gesprochen.

Wie kann man die Lage in den Heimatländern verbessern? Natürlich erst einmal durch Eigenanstrengungen der Länder für eine bessere Regierungsführung und für stärkere Zivilgesellschaften. In Zeiten des Internets, in Zeiten des Smartphones wissen Menschen überall auf der Welt, was man an Freiheiten haben könnte. Deshalb werden die Ansprüche an die eigenen Regierungen auch höher. Dabei können wir Unterstützung anbieten, wenn es um Konfliktvermeidung geht, wenn es um Armutsbekämpfung geht, wenn es um eine Stärkung des Bildungswesens geht.

Das Flüchtlingsdrama – so muss man es bei 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, nennen – kann nun wirklich nicht von einem Kontinent gelöst werden, sondern ist eine globale Aufgabe. Es zeigt uns aber auch: Vor der Globalisierung können wir uns nicht abschotten. Abschottung wird nicht funktionieren. Globale Fragen erfordern vielmehr globale Antworten. Das gilt nicht nur mit Blick auf die Flüchtlinge, das gilt auch mit Blick auf den Klimaschutz, auf die Weltgesundheit, auf Fragen der Wirtschaft und Finanzen und auch auf Fragen fairer Produktionsbedingungen.

Wir sehen auch, dass sich immer mehr Länder und Regionen vor ähnliche Herausforderungen gestellt sehen. Informationen wandern ja heute in Sekundenschnelle um den Globus. Es macht kaum mehr einen Unterschied, Kontakt auf der einen oder anderen Seite des Erdballs zu unterhalten. Man kann das alles in Sekundenschnelle schaffen.

Das heißt, Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche – ob in der Freizeit, in der Arbeit, in der Wirtschaft im Allgemeinen oder im Handel im Besonderen. „Handel 4.0“ – und dann noch mit dem kundenfreundlichen Slogan versetzt – „Vom Kunden inspiriert“; in Ihrem Kongressmotto spiegeln sich die Wandlungsfähigkeit des Handels wider, die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen, der Dienstleistungsgedanke des Einzelhandels, dem Kunden die Wege zu den Waren zu bereiten, die er wünscht. Die Anwesenheit des Digitalisierungskommissars Günther Oettinger auf Ihrem Kongress zeigt ja, dass Sie sich intensiv mit der Materie beschäftigen.

Immer mehr Menschen organisieren einen Großteil ihres Lebens über Smartphone, Tablet oder Laptop. Das gilt auch für den Einkauf. Studien zufolge sollen bereits 70 Prozent der Bevölkerung das Internet hierfür nutzen. Die Unternehmen Ihrer Branche haben natürlich längst darauf reagiert. Viele Händler sind nicht nur live vor Ort präsent, sondern eben auch als Online-Shop oder über Apps sehr nah am Kunden. Neue Geschäftsmodelle, um den Wünschen der Kunden entgegenzukommen und sich ihrem Konsumverhalten anzupassen, machen sich offensichtlich bezahlt. Die Zahlen sprechen für sich. Gut 300.000 Unternehmen mit mehr als drei Millionen Beschäftigten erwirtschaften rund 460 Milliarden Euro Umsatz. Das sind gewaltige, beeindruckende Zahlen. Das heißt, allem Wandel zum Trotz ist und bleibt der Einzelhandel eine bedeutsame Wirtschaftsgröße in unserem Land. Aber man darf, glaube ich, sagen: Wer nur auf das stationäre Geschäft setzt, der spürt den Strukturwandel immer deutlicher. Der Anteil des Onlineverkaufs wächst. Preisvergleiche im Internet erhöhen den Wettbewerbsdruck. Die lokalen Kundenfrequenzen sinken. Und in ländlichen Gebieten machen Abwanderung und demografischer Wandel den Ladenbesitzern das Leben schwer.

Insoweit ist zu fragen: Welche Perspektiven kann man angesichts solcher Trends entwickeln? Wie kann man die Versorgung strukturschwacher Regionen sicherstellen? Wie kann man der Verwaisung von Innenstädten vorbeugen? Um Antworten darauf zu finden, haben wir als Bundesregierung die Dialogplattform Einzelhandel aufgelegt. Ich möchte Sie alle ermuntern, sich an diesem Dialog zu beteiligen. Es gibt fünf Workshop-Reihen: zum Thema lebendige Städte, zu Fragen des ländlichen Raums, zu Perspektiven für Arbeit und Berufe, zur Wettbewerbspolitik und zu technologischen Fragen, die mit der Digitalisierung verbunden sind.

Die modernen Möglichkeiten, zu kommunizieren, zu arbeiten, zu produzieren und zu verkaufen bergen auch für die Zukunft Potenziale, die wir heute allenfalls erahnen können. Deshalb müssen rechtzeitig die Weichen gestellt werden. Und deshalb setzt die Bundesregierung auf eine Bündelung von Kompetenzen und auf Kooperation, also auf Vernetzung.

Ein Beispiel ist der IT-Gipfel, der heute wieder stattfindet und ein bewährtes Forum für den Austausch zwischen Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft darstellt. Er findet seit 2006 regelmäßig statt. Heute ist es wieder soweit. Ich darf darauf hinweisen, dass wir dort eine neue Form der Kooperation pflegen. Es ist nicht so, wie es manchmal ist – bei uns natürlich nicht, Herr Sanktjohanser; Sie sind ein höflicher Mensch –: Die Wirtschaft hat ihre Forderungen und sagt der Politik, sie soll sie erfüllen; die Politik tut es oder tut es nicht, und so pflegt man eine bestimmte Dialogform. Aber da, wo man rechtliches Neuland betritt, da wo man in der digitalen Welt erst einmal geeignete Rahmenbedingungen suchen muss, gibt es vielmehr einen gleichwertigen Austausch, ein sachorientiertes Ringen um die beste Lösung, um die beste Verwirklichung dessen, was gemacht werden muss. Deshalb ist es sehr interessant zu sehen, wie auf diesem IT-Gipfel Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten.

Der IT-Gipfel ist mittlerweile stark auf die Handlungsfelder der Digitalen Agenda, die wir uns als Bundesregierung vorgenommen haben, ausgerichtet. Wir haben im September den ersten Fortschrittsbericht zur Umsetzung der Digitalen Agenda verabschieden können. Einiges ist vorangekommen. Wir haben durch die Versteigerung von Frequenzen die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir den Ausbau mit schnellem Internet mit bis zu 50 Megabit pro Sekunde bis 2018 für alle Haushalte schaffen. Die Frequenzversteigerung hat uns auch die Möglichkeit gegeben, den Ausbau zu fördern. Denn in ländlichen Regionen wird das allein in wirtschaftlicher Hinsicht sonst nicht klappen. Wir haben die Plattform Industrie 4.0, die sich der völlig neuen Gestaltung von Produktionsketten in der industriellen Wertschöpfung durch Digitalisierung widmet. Wir haben neben dem IT-Sicherheitsgesetz auch das Telemediengesetz beschlossen. Hierbei geht es um einen verlässlichen und sicheren Rechtsrahmen für ein öffentliches WLAN. Wir stärken damit die Möglichkeit in Hotels, in Restaurants oder auch für Einzelhändler, den Kunden einen Internetzugang anzubieten.

Aber – deshalb ist ja die Anwesenheit von Günther Oettinger heute so wichtig – beim Thema Digitalisierung kann man sich nicht an nationalen Grenzen orientieren. Wir müssen vielmehr den europäischen Binnenmarkt nutzen, um für die Digitalisierung die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir müssen einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Deshalb unterstützen wir alle Schritte, die die Europäische Kommission geht, um einen digitalen Binnenmarkt zu realisieren. Wir brauchen Reformen zum EU-Urheberrecht, zur Vereinfachung des E-Commerce sowie eine Analyse der Rolle von Plattformen.

Wir unterstützen die Anstrengungen der Europäischen Kommission, aber wir haben natürlich auch unsere eigenen Vorstellungen. Wir brauchen auf der einen Seite einen geeigneten Rechtsrahmen, der sowohl die Sicherheit des Kunden als auch die des Einzelhändlers garantiert sowie Freiraum für neue datenbasierte Geschäftsmodelle lässt. In diesen Tagen gibt es ein sehr intensives Gespräch im sogenannten Trilog zwischen dem Europäischen Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament über die sogenannte Datenschutzgrundverordnung, die – natürlich mit Übergangsbestimmungen – unmittelbar geltendes europäisches Recht wird und nicht national umgesetzt werden muss. Mit der Verordnung werden die gesamten Grundlagen dafür gelegt, wie Datenmanagement, wie Datenverarbeitung, Data-Mining, wie man so schön sagt, also wie auf der Basis von Daten die Schaffung neuer Produkte und neue Wertschöpfung in Europa stattfinden kann. Davon hängt sehr viel ab. Denn wenn wir uns zu sehr reglementieren, wenn wir zu sehr den Schutz sensibler Daten in den Vordergrund stellen und zu wenig Freiraum lassen, dann werden wir sehen, dass bestimmte Produkte, die der einzelne Kunde sehr gerne möchte, bei uns nicht hergestellt werden können. Das würde zu einer Abwanderung von Kunden führen.

Das heißt also: Bewährte Schutzstandards können sich einerseits als Plus für den europäischen Standort erweisen; wenn sie aber zu rigide gestaltet werden, können sie in Zukunft auch als Schwachstelle europäischer Wertschöpfung gelten. Hierbei die Balance zu finden, ist in diesen Tagen die wichtige Aufgabe.

Ein Themenfeld, bei dem wir auch Standards erhalten wollen, ihnen auch vermehrt weltweit Geltung verschaffen wollen, sind die Verhandlungen über ein Transatlantisches Handels- und Investitionspartnerschaftsabkommen. Wir haben dabei auch Ihre Einzelhandelskunden im Blick. Denn zum einen können mit dem Abbau kostenintensiver Handelshürden viele Produktpreise sinken und die Sortimente wachsen, zum anderen sollen und werden unsere europäischen Verbraucherschutzstandards unangetastet bleiben – darin sehen wir uns mit unseren Partnern in Europa und in den USA einig. Das heißt, ein transatlantisches Handelsabkommen lässt nicht nur neue Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung erwarten, sondern es bietet auch die große Chance, dass unsere im Weltvergleich relativ hohen Standards weltweit mehr Vorbildwirkung entfalten können. Angesichts des riesigen transatlantischen Wirtschaftsraums wird man dann diese Standards weltweit nicht mehr einfach ignorieren.

Sie wissen, dass Standards auch bei unserem G7-Gipfel in Elmau ein Thema waren. Herr Sanktjohanser hat darauf hingewiesen: Je mehr solche Standards global durchgesetzt werden, umso besser ist es natürlich für Sie hier in Deutschland. Deshalb arbeiten wir dafür, dass sich anerkannte Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards besser durchsetzen können, und zwar an allen Stellen der globalen Wertschöpfungs- und Handelsketten. Dabei kann es aber nicht darum gehen, dass der Handel die Verantwortung für die gesamte Wertschöpfungskette übernimmt. Das ist nicht unsere Absicht. Wir werden versuchen, die Arbeiten, die wir im Rahmen der G7 gemacht haben, jetzt auch in den G20-Prozess einzubringen, für den wir im Jahr 2017 die Gastgeber sein werden, um das Thema auf einer noch viel breiteren Plattform anzusiedeln.

Nach unserem Verständnis brauchen wir ein sachgerechtes Verbraucherbild von Freiheit und Selbstbestimmung. Das heißt, Nachfrager sollten sich im Klaren darüber sein, unter welchen Bedingungen ein Produkt hergestellt wird, welche Inhaltsstoffe es hat. Auf der Grundlage von Informationen sollen dann die Kaufentscheidungen ganz bewusst gefällt werden können. Ob und inwieweit Konsumenten tatsächlich daran interessiert sind, Informationen einzuholen und zu berücksichtigen, ist die eine Seite. Die andere Seite ist aber, dass wir versuchen, den Kunden diese Möglichkeit überhaupt erst zu schaffen. Da kommt auch die Politik ins Spiel, wenn es darum geht, mehr Transparenz zu schaffen.

Ein Beispiel dafür ist unser „Bündnis für nachhaltige Textilien“. Es zeigt, wie sich Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam für bessere soziale und ökologische Standards stark machen können. Ich freue mich, dass das Textilbündnis inzwischen über 160 Mitglieder zählt und weite Teile des deutschen Einzelhandelsmarkts repräsentiert. Ich möchte mich bei allen bedanken, die an dieser Initiative teilhaben, und ganz besonders auch dafür, dass Sie einen Beitrag dazu geleistet haben, den Rana-Plaza-Fonds aufzufüllen, obwohl die Unternehmen, die das gemacht haben, gar nicht an den schrecklichen Ereignissen in Bangladesch beteiligt waren. Ein Dankeschön für das verantwortungsbewusste Engagement. Aber das kann natürlich nicht die Normalität werden, sondern wir müssen schon noch etwas mehr beim Verursacherprinzip ansetzen.

Die Bundesregierung selbst bringt sich in die Ziele des Textilbündnisses mit ein, und zwar durch nachhaltige öffentliche Beschaffung, durch Regierungsverhandlungen sowie durch Entwicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit und in den Produktionsländern. Natürlich sind wir uns bewusst, dass in einigen Ländern höhere Standards wegen der damit verbundenen Zusatzkosten eher als Standortnachteil und weniger als Standortvorteil gesehen werden. Umso wichtiger ist es, dass wir international ein möglichst gleiches Wettbewerbsfeld erzeugen. Deshalb war auch der Schritt von G7 zu G20 ein wichtiger Schritt.

Wir brauchen ebenso – davon sind auch Sie abhängig – Standards für eine faire Unternehmensbesteuerung. Daran haben wir jetzt sehr intensiv gearbeitet; vor allem Wolfgang Schäuble als Finanzminister. Es gibt jetzt sehr viel bessere internationale Rahmenbedingungen, auch einen besseren Informationsaustausch. Faire Wettbewerbschancen zwischen Unternehmen, und zwar unabhängig davon, ob sie international oder vornehmlich auf nationalen Märkten tätig sind – das ist ganz wichtig. Die international Agierenden haben wir jetzt schon ein Stück weit in ihren Versuchen eingeengt, Steuersparmodelle durchzusetzen, die den allein inländisch operierenden Unternehmen letztlich riesige Schwierigkeiten machen könnten. Durch solche Beschlüsse werden wir eine größere Rechtssicherheit und eine bessere Wettbewerbssituation erzeugen.

In Deutschland wollen wir unsere solide Finanzpolitik fortführen. Wir haben durch Beschlüsse für höhere steuerliche Freibeträge und mehr Kindergeld nicht zuletzt die Kundschaft des Einzelhandels gestärkt. Ich bleibe dabei: Auch wenn es jetzt durch die Flüchtlinge neue Herausforderungen gibt, brauchen wir keine Steuererhöhungen.

Ich weiß, dass ein Thema, das einige umtreibt, die Erbschaftsteuer ist. Hier wollen wir uns auf die vom Verfassungsgericht vorgegebenen Korrekturen beschränken. Allerdings ist die Diskussion zum Teil sehr hart. Wir werden versuchen, alles zu tun, um die Wünsche der Unternehmerschaft nicht aus dem Blick geraten zu lassen. Es ist für Familienunternehmen von großer sachlicher Bedeutung, aber eben auch von großer psychologischer Bedeutung, ob es gewünscht wird, dass Unternehmen – manchmal kann man sagen – über Jahrhunderte in Deutschland gehalten werden und die Verantwortung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das heißt, wir sind uns der Notwendigkeit, aber auch der Wichtigkeit der Aufgabe sehr bewusst.

Neben Steuern spielen auch bürokratische Lasten als Kosten- und Standortfaktoren eine wichtige Rolle. Herr Sanktjohanser hat auf die Gesetzentwürfe zu Leiharbeit und Werkverträgen hingewiesen, die aber erst noch in die Ressortabstimmung gehen. Wir müssen darauf achten, dass wir bestimmte Lücken füllen. Bei der Leiharbeit gab es auch Missbrauch; das weiß jeder. Auch bei Werkverträgen gibt es das. Aber wir dürfen nicht solch hohe Hürden aufbauen, dass die Flexibilität des Arbeitsmarkts darunter leidet.

Wir haben, was die Bürokratiekosten anbelangt, gute Nachrichten. Sie sind im ersten Halbjahr 2015 weiter gesunken. Das haben nicht etwa wir uns als Regierung ausgedacht – dann würden Sie mir sowieso kein Wort glauben –, sondern das hat der Nationale Normenkontrollrat mit Herrn Ludewig an der Spitze herausgefunden, der nicht dafür bekannt ist, dass er die Politik schont. Wir haben im Übrigen zum 1. Juli eine Neuerung, eine Bürokratiebremse, eingeführt. Das Motto heißt: One in, one out. Wo immer also bürokratische Erfüllungspflichten für Unternehmen durch Neuregelungen entstehen, muss an anderer Stelle ein Weg gefunden werden, irgendetwas, das sie heute belastet, abzubauen. Dieser Prozess wird sicherlich nicht immer einfach sein, aber es ist ein richtiger Prozess.

Für Sie des Weiteren von Bedeutung sind die Energiekosten. Wir haben eine grundlegende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes durchgeführt, haben dadurch mit Sicherheit den Anstieg der Energiekosten gedämpft. Aber wir werden in dieser Legislaturperiode im Zusammenhang mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz noch einen qualitativ neuen Schritt gehen müssen, und das ist die Ausschreibung von Projekten für den Bau von Anlagen erneuerbarer Energien; ganz gleich, ob im Wind- oder im Solarbereich oder anderswo. Damit wird man kosteneffizienter vorgehen können. Denn man kann sozusagen einen Umfang, ein Kontingent von Anlagen vorgeben, für das sich dann alle bewerben können. Dieses mehr marktwirtschaftlich orientierte Ausschreibungsprinzip wird noch einmal kostendämpfend wirken. Wir müssen ja die erneuerbaren Energien angesichts des großen Anteils, den sie jetzt schon an der Energieversorgung haben, Schritt für Schritt in die Marktfähigkeit hineinführen und aus der Subventionierung herausbringen.

Ich will noch das für den Handel wichtige Thema Verkehr ansprechen. Sie sind darauf angewiesen, Ihre Produkte von A nach B zu bekommen. Auch in Zeiten des Internets muss irgendwann die Flasche Wasser oder das Textilpaket an irgendeiner Haustür abgeliefert werden. Insofern sind und bleiben leistungsfähige Verkehrswege sehr wichtig. Der Bundesverkehrswegeplan wird derzeit überarbeitet. Die Investitionen in den Verkehrsbereich sind deutlich höher als in der letzten Legislaturperiode.

Meine Damen und Herren, wir stehen im Augenblick wirtschaftlich gut da, aber wir wissen: Das ist immer nur eine Momentaufnahme. Reisen nach Asien, Reisen in die Vereinigten Staaten von Amerika zeigen uns, dass andere auf der Welt auch nicht schlafen. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie sich das Thema Handel 4.0 vorgenommen haben. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie in die Zukunft schauen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir notwendige rechtliche Voraussetzungen schaffen. Deshalb werden wir auch in Zukunft in einem sehr engen Gespräch miteinander bleiben.

Ich möchte allen, die Handel treiben, allen in den Handelsunternehmen ein ganz herzliches Dankeschön sagen. Vielen Millionen Menschen wird es gerade in der kommenden Adventszeit wieder eine besondere Freude sein, bei Ihnen einzukaufen. Dementsprechend wünsche ich Ihnen noch ein gutes Geschäftsjahr. Lassen Sie uns in Kontakt bleiben. Vielen Dank.