Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch des Wissenschaftszentrums Polo Científico Tecnológico am 8. Juni 2017 in Buenos Aires

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Sehr geehrter Herr Minister Barañao,
sehr geehrter Herr Professor Arzt,
meine Damen und Herren,
liebe Studierende,

ich möchte mich ganz herzlich für den Empfang bedanken. Die Gastfreundschaft Ihres Landes, mit der Sie mich hier so freundlich willkommen heißen, freut mich sehr. Es ist mein erster Besuch in Argentinien. Leider kann ich viel zu wenig von Ihrem Land sehen und erleben, aber schon der kurze Aufenthalt macht deutlich, was für ein spannendes Land Argentinien ist.

Deutschland und Argentinien sind enge und wichtige Partner. Präsident Mauricio Macri hat dies mit seinem Besuch in Deutschland gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit untermauert. Und umgekehrt wollen auch wir Deutschen sehr gerne noch viel enger als ohnehin schon mit Argentinien zusammenarbeiten. Das möchte ich mit meinem Besuch hier in Ihrem Land betonen.

Der Minister hat es eben schon gesagt: Der Austausch zwischen Argentinien und Deutschland hat eine gute Tradition. Er nahm institutionalisierte Formen an, lange bevor es die Argentinische Republik und erst recht bevor es die Bundesrepublik Deutschland gab. Bereits im Jahre 1829 ernannten die deutschen Städte Hamburg und Frankfurt Honorarkonsuln hier in Buenos Aires. Darauf bauten weitere Kontakte auf. Damit nahmen auch Handel und Investitionen ihren Lauf. Als 1857 die erste Eisenbahnstrecke Argentiniens gebaut wurde, kamen die Zeigertelegraphen dafür aus Deutschland, nämlich von der Firma Siemens. Das Unternehmen errichtete 1914 seine erste Fabrik außerhalb Europas; und zwar hier in Buenos Aires. Wenig später nahm die deutsch-argentinische Auslandshandelskammer ihre Arbeit auf. Letztes Jahr hat sie ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Damit zählt sie zu den ältesten deutschen Auslandshandelskammern.

Heute sind etwa 200 deutsche Firmen in Argentinien aktiv. Mehr als 20.000 Arbeitsplätze sind damit verbunden. Damit trägt die deutsche Wirtschaft schon heute zur Entwicklung Argentiniens bei. Allerdings möchten wir – in meiner Delegation ist auch eine Gruppe von Unternehmern – das Potenzial unserer Zusammenarbeit gerne noch deutlich ausbauen.

Ein Schlüssel für die Entwicklung jedes Landes sind Innovationen. Wir befinden uns hier ja in einem Wissenschafts- und Technologiezentrum. Unsere Max-Planck-Gesellschaft hat ein Partnerinstitut in diesem modernen Komplex. In Argentinien ist auch die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft aktiv. Als Präsident Macri im letzten Jahr in Berlin war, wurde die Basis dafür gelegt, dass in Zukunft auch die Fraunhofer-Gesellschaft in Fragen nachhaltiger Stadtentwicklung mit Argentinien zusammenarbeiten wird.

Wir haben auch sehr enge kulturelle Verbindungslinien. Allerdings ist damit auch das dunkelste Kapitel in der Geschichte meines Landes verbunden. Ich erinnere an die deutschen Einwanderer in Argentinien. So kamen nach 1933 40.000 Deutsche in Ihr Land – alles Menschen, die aus Deutschland fliehen mussten, nachdem ihnen als Juden während des Nationalsozialismus in Deutschland Verfolgung und Ermordung gedroht haben. Sie mussten ihrer Heimat den Rücken kehren, um dem von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa zu entgehen. Nach dem Ende dieses Schreckens und dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Deutschland politisch, wirtschaftlich und moralisch wieder aufgebaut werden. Deutschland ist sich seiner immerwährenden Verantwortung für die Schrecken der Vergangenheit bewusst. Wir sind davon überzeugt: Nur so können wir auch eine gute Zukunft gestalten.

Ich habe mich gefreut, heute Morgen gleich als Erstes die jüdische Gemeinde besuchen zu können. Wir haben gemeinsam die renovierte deutsche Walcker-Orgel eingeweiht. In diesem Zusammenhang haben wir auch der Opfer gedacht, die die Anschläge auf die jüdische Gemeinde in Buenos Aires vor 23 Jahren und auf die israelische Botschaft vor 25 Jahren gefordert haben. Die jüdische Gemeinde in Argentinien bildet eine Brücke zwischen unseren beiden Ländern. Sie macht zugleich deutlich, wie wichtig das Erinnern ist, um daraus die richtigen Lehren für heute und morgen zu ziehen und so eine gute Zukunft gestalten zu können. Ich war eben auch im Parque de la Memoria und muss sagen, dass es auch in Argentinien eine Notwendigkeit ist, sich an die dunklen Kapitel der eigenen Geschichte zu erinnern.

Eine gute Zukunft – was heißt das? Das bedeutet zuallererst die Wahrung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Deutschland und Argentinien setzen sich für diese Werte gemeinsam ein. Argentinien musste ebenfalls schmerzhaft erfahren, dass eine einmal errungene Demokratie alles andere als selbstverständlich ist. Demokratie kann verlorengehen, wenn ihr die bürgerschaftliche Unterstützung abhandenkommt und die Bereitschaft der Mehrheit fehlt, Demokratie entschlossen zu verteidigen. Das hat Argentinien in den Jahren nach dem Militärputsch 1976 erlebt. Wie ich schon sagte: Ich habe gerade, bevor ich hierher kam, den Erinnerungspark besucht. Es ist beeindruckend, wie sehr an diesem Ort zu spüren ist, dass nie wieder zugelassen werden soll, dass eine Regierung den Staat zur Verübung massiver Menschenrechtsverletzungen missbraucht.

Für Deutschland war nach seinem dunkelsten Kapitel der Geschichte eines ganz wichtig, nämlich unsere Zukunft in einem geeinten Europa aufzubauen. Die Deutsche Einheit war nur möglich, weil der Prozess der europäischen Einigung möglich und erfolgreich war. Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, ein Ehrenbürger Europas, hatte stets betont, dass die Deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Die europäische Integration war, ist und bleibt ein einzigartiges Projekt der Annäherung und der Verflechtung von Ländern, die über Jahrhunderte hinweg verfeindet waren. Sie sichert uns Europäern Frieden, sie bringt uns Freiheit und sie beschert uns Wohlstand.

Doch mit der Zeit beruht das Bewusstsein für diese Errungenschaften immer weniger auf der Erfahrung, wie es ohne das geeinte Europa war. Das bringt mit sich, dass wir es heute auch mit Skepsis zu tun haben, ob es mit Europa wirklich besser geht als ohne Europa. Diese Skepsis gipfelte vor einem Jahr in Großbritannien in der Entscheidung einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für einen Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union. Für die Europäische Union ist diese Entscheidung zweifellos eine herbe Zäsur. Aber wir verstehen sie auch als einen Weckruf: Wir müssen und wir wollen den Wert Europas sichtbarer machen. Darin sind sich die zukünftig 27 Mitgliedstaaten der EU einig. Wir wollen verstärkt unter Beweis stellen, dass es allemal besser und erfolgreicher ist, mit vereinten Kräften statt jeweils alleine die großen globalen Herausforderungen anzunehmen: die Globalisierung, die Digitalisierung und den Klimawandel ebenso wie den Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die Krisen in unserer europäischen Nachbarschaft.

Ein geeintes Europa kann weltweit seine Werte und Interessen behaupten; und dabei suchen wir natürlich den engen Schulterschluss mit anderen Nationen in der Welt. Ich bin zutiefst davon überzeugt: In einer globalisierten Welt gilt es, Brücken zu bauen, und nicht, Zugbrücken hochzuziehen. Wer sich abschottet, wird von der weltweiten Entwicklung abgeschnitten. Wer sich jedoch auf die Globalisierung einlässt, dem eröffnen sich auch die Chancen der Globalisierung.

Offen aufeinander zuzugehen und fair zusammenzuarbeiten – das ist ein Anliegen, das Deutschland mit Argentinien verbindet. Vom Austausch profitieren beide Seiten. Das reicht vom Handel über Wissenschaft und Kultur bis hin zu vielfältigen freundschaftlichen, persönlichen Kontakten. Es geht darum, alle zu Gewinnern der Entwicklung zu machen. Aber ich bin mir sehr wohl bewusst, vor welch großen wirtschaftlichen Herausforderungen Argentinien steht. Anspruchsvolle Reformen stehen bei Ihnen auf der Tagesordnung. Auf dem manchmal steinigen, letztlich aber lohnenden Weg hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit können natürlich auch deutsche Unternehmen helfen. Denn sie können mit viel Know-how überzeugen – zum Beispiel bei der Modernisierung der Infrastrukturen, bei effizienten Technologien oder beim Ausbau erneuerbarer Energien.

In Deutschland erschien vor 60 Jahren das Buch „Wohlstand für alle“. Sein Autor war Ludwig Erhard. Er war damals deutscher Wirtschaftsminister, später Bundeskanzler. Er war der politische Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Diese Soziale Marktwirtschaft verknüpft unternehmerische Freiheiten und Erfolge mit sozialer Verantwortung. Die Soziale Marktwirtschaft steht für eine einzigartige wirtschaftliche und soziale Erfolgsgeschichte Deutschlands in den letzten Jahrzehnten. Das ist eine Erfolgsgeschichte, weil sie vom Gedanken geleitet wird, dass eine Teilhabe aller am Aufschwung den Zusammenhalt einer Gesellschaft stärkt. Sie wird von der Überzeugung getragen, dass Starke den Schwächeren helfen können und sollen und dass sozialer Friede möglich ist. Das ist ein überaus hohes Gut unserer Gesellschaft und damit auch unserer Demokratie. Das ermöglicht immer wieder neu eine friedliche Auseinandersetzung über den richtigen Weg zur Lösung von Problemen und Herausforderungen.

Ich glaube, man kann auch in Lateinamerika Ähnliches feststellen. Es gibt ermutigende Beispiele dafür, wie selbst tiefe Zerrissenheit und gewaltsame Konflikte über demokratische Entwicklungsprozesse gelöst werden können. Denken wir zum Beispiel nur an Kolumbien. Der jüngste Friedensnobelpreis ging an den kolumbianischen Staatspräsidenten Juan Manuel Santos. Er wurde ausgezeichnet für sein Engagement, einen jahrzehntelangen blutigen Bürgerkrieg in seinem Land zu beenden. Die öffentliche Debatte über einen solchen Friedensschluss war ja alles andere als leicht. Es gab ein Referendum – ein Rückschlag; denn mit der Abstimmung war die Vereinbarung erst einmal hinfällig. Aber auf diese Weise konnte den Bedenken der Gegner noch besser Rechnung getragen werden. Und dies hat die Chancen auf einen anhaltenden Frieden erhöht. Wir alle haben jetzt die Hoffnung, dass der Verhandlungsfrieden vollständig umgesetzt wird und dass auch die Gespräche mit der ELN fruchten.

Es gibt in Lateinamerika aber auch Beispiele dafür, was passiert, wenn Staaten den Spielraum der Opposition beschneiden, wenn sie das Interesse weniger über das Interesse einer breiten Mehrheit stellen und wenn am Ende der demokratische Rechtsstaat völlig ausgehöhlt wird. Dies müssen wir leider in Venezuela beobachten. Dort leiden viele Menschen unter einer katastrophalen Versorgungslage, obwohl das Land eigentlich reich an Rohstoffen ist. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen sind bereits Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Die Staaten der Region kann ich nur dazu ermuntern, dass sie nicht nachlassen, sich für eine friedliche Lösung der Lage in Venezuela einzusetzen. Es ist gut, wenn sie dabei im engen Schulterschluss handeln, wie zum Beispiel im Rahmen von Mercosur und UNASUR – beide derzeit unter argentinischem Vorsitz.

Weltweit müssen wir leider immer wieder erleben, dass politische Kräfte wirken, die rigide auf Eigeninteressen zielen und vielfältige gegenseitige Wechselwirkungen ausblenden. Zum Glück erleben wir aber auch immer wieder, dass langwierige und scheinbar aussichtslose Unterfangen doch noch erfolgreich sein können – gerade auch deshalb, weil gemeinsame Interessen und nicht Partikularinteressen im Vordergrund stehen.

Ich denke zum Beispiel an das historisch bedeutsame Klimaabkommen von Paris, dem sich heute die allermeisten Staaten verpflichtet sehen. Denn sie eint das Wissen darum, dass es beim Klimaschutz auch um eine wesentliche Voraussetzung dafür geht, überhaupt langfristig erfolgreich wirtschaften zu können. Aber genau das ist in immer mehr Regionen dieser Erde nur noch schwer möglich, weil sie immer öfter von Stürmen, Dürren oder Überschwemmungen heimgesucht werden. Um die Erderwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen und damit wenigstens die schlimmsten Folgen des Klimawandels einzudämmen, muss der Ausstoß an Treibhausgasen deutlich reduziert werden. Das kann gelingen, wenn jedes Land seinen Beitrag leistet. Die Verpflichtung dazu, das war der große Erfolg in Paris.

Das Abkommen ist in der überwältigenden Mehrheit der Staaten Lateinamerikas und der Karibik bereits in Kraft getreten. Es geht aber auch weltweit um eine entschlossene Umsetzung. Nach der Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, aus dem Klimaprotokoll von Paris auszusteigen, geht es darum mehr denn je. Es gilt, sich die Verantwortung für sich und für andere immer wieder bewusst zu machen und auch entsprechend zu handeln. Es gilt, Skeptiker daran zu erinnern, dass das Bemühen, die Erderwärmung zu begrenzen, mit dem Bemühen einhergeht, die Wirtschaft effizienter, wettbewerbsfähiger und innovativer zu machen.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem freien Handel. Es mag ja verführerisch sein, durch Abschottung heimischen Unternehmen kurzfristig das Leben erleichtern zu wollen. Doch mittel- und langfristig werden die Innovationsfähigkeit und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit leiden. Dann werden sich negative Konsequenzen für Wohlstand, Arbeitsplätze und die soziale Sicherheit einstellen. Die vergangenen Jahrzehnte sind Jahrzehnte zunehmender internationaler Wirtschaftsbeziehungen gewesen, die unter dem Strich deutlichen Fortschritt und Wohlstandsgewinn mit sich gebracht haben. Auf die Globalisierung mit Protektionismus zu antworten, wäre deshalb nichts anderes als ein gravierender Rückschritt.

Argentinien ist Gastgeber der diesjährigen Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation. Argentinien leistet damit seinen eigenen Beitrag, das regelbasierte multilaterale Handelssystem der WTO weiterzuentwickeln. Ich freue mich über diese Unterstützung, freie Handelswege als das zu sehen, was sie sind: nämlich nichts anderes als gemeinsame Lebensadern unserer Wirtschaft zum Wohle der Menschen.

Wichtig sind natürlich auch bilaterale und regionale Abkommen. Daher freue ich mich, dass die Verhandlungen zwischen dem Mercosur und der EU über ein Assoziierungsabkommen mit einem umfassenden Freihandelsteil jetzt nach vielen Jahren wieder Fahrt aufgenommen haben. Das ist auch und besonders Argentinien zu verdanken. Ich hoffe, dass wir bald einen Durchbruch erzielen können und damit ein starkes Signal für einen freien und fairen Handel setzen können. Mit Chile und Mexiko verhandelt die EU darüber, die bestehenden Freihandelsabkommen zu erneuern. Mit Zentralamerika, mit Ecuador, Kolumbien und Peru haben wir in den vergangenen Jahren ebenfalls Vereinbarungen zur Liberalisierung des Handels abgeschlossen.

Meine Damen und Herren, der Gewinn der Kooperation liegt um ein Vielfaches höher als der Reibungsverlust auf dem Weg dahin. Dies ist und bleibt ein Leitgedanke der Politik, die ich vertrete. Deshalb hat Deutschland die G20-Präsidentschaft, die wir derzeit innehaben, unter die Überschrift gestellt: „Eine vernetzte Welt gestalten.“ Am Ende dieses Jahres werden wir den Vorsitz der G20 an Argentinien übergeben. Das ist ein großartiges Symbol dafür, was Ihr Land und unser Land, was Lateinamerika und Europa füreinander sein können: Partner, die gemeinsam die Welt von morgen zum Wohle der Menschen gestalten.

Herzlichen Dank.