Im Wortlaut
Zum Startschuss des Europäischen Kulturerbejahres in Deutschland hat Kulturstaatsministerin Grütters ein Europa der gemeinsamen Werte und Wurzeln betont. "Es ist unser gemeinsames, europäisches Kulturerbe, es sind Bauwerke und Denkmäler, lebendige Bräuche und Traditionen, es sind materielle und immaterielle Schätze aus über 2.000 Jahren Geschichte, in denen sinnlich erfahrbar wird, was uns in Europa verbindet."
Schwarz auf weiß, so stehen die Grundlagen eines geeinten Europas in den Europäischen Verträgen. Live und in Farbe erlebt man das Fundament eines geeinten Europas in seinen Institutionen, in Brüssel, in Straßburg, in Luxemburg (EuGH oder Frankfurt (EZB). Worauf Europa aber im wahrsten Sinne des Wortes gebaut ist, offenbart sich weder zwischen den Zeilen des Vertrags von Maastricht noch auf den Fluren des Europäischen Parlaments. Es ist unser gemeinsames, europäisches Kulturerbe, es sind Bauwerke und Denkmäler, lebendige Bräuche und Traditionen, es sind materielle und immaterielle Schätze aus über 2.000 Jahren Geschichte, in denen sinnlich erfahrbar wird, was uns in Europa verbindet.
Ob in Deutschland oder Dänemark, Polen oder Portugal, Spanien oder Schweden: Die gemeinsame, bewegte Geschichte Europas ist überall sichtbar, gerade im baukulturellen Erbe. Das Europäische Kulturerbejahr lädt dazu ein, der Seele Europas in den allgegenwärtigen Zeugnissen vergangener Epochen nachzuspüren. Ich freue mich sehr, dass wir dieses Jahr der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte nach vielen Monaten intensiver Vorarbeit heute in Deutschland eröffnen können! Dafür habe ich in den vergangenen Jahren in den Brüsseler Gremien und in zahlreichen Gesprächen mit meinen Amtskolleginnen und Amtskollegen intensiv geworben, und ich bin dankbar, dass die Europäische Kommission, das Parlament und europäische Mitgliedsstaaten diese gemeinsame Initiative in großer Einigkeit unterstützen. Einige von ihnen sind heute ebenso vertreten wie zahlreiche Mitwirkende aus Bund, Ländern und Zivilgesellschaft in Deutschland – darunter insbesondere die Geschäftsstelle des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, die eine Koordinierungsaufgabe übernommen hat und mit Unterstützung des Bundes und der Länder finanziell und personell gut für das Europäische Kulturerbejahr gerüstet ist. Vielen Dank, lieber Herr Dr. Koch, Ihnen und Ihrem Team für Ihr großes Engagement! Wie schön, dass auch viele Projektträger bundesgeförderter Vorhaben heute mitfeiern, deren Ideen und Initiativen dieses europäische Themenjahr mit Leben füllen – auch Ihnen ein herzliches Willkommen und ein ebenso herzliches Dankeschön!
Fast 40 bundesbedeutsame Projekte werden bislang aus unserem Kulturetat gefördert und tragen zu einem ebenso vielfältigen wie eindrucksvollen Programm bei. Ihre Einladung, in historischen Stadtkernen, in Schlössern, Burgen, Klöstern und Kirchen, in Museen und Gedenkorten, Theatern und Bibliotheken, sowie rund um Baudenkmäler aller Epochen der verbindenden Kraft des europäischen Kulturerbes nachzuspüren, wird nicht nur die Herzen bekennender Kunst- und Kulturliebhaber höher schlagen lassen. Über das klassische Kulturpublikum hinaus wollen wir möglichst viele und insbesondere junge Menschen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte einladen. Sie sollen erfahren und erspüren, dass die historischen Kaufhäuser der Hansestadt Lübeck, die Silhouette der Kaiserpfalz in Ingelheim, die Hallenhäuser an der Via Regia oder auch die Zeugnisse der Nachkriegsmoderne im Ruhrgebiet viel mehr sind als eindrucksvolle Kulissen für Selfies oder für Fotos zum Hashtag "Sonnenuntergang" auf Instagram.
In den vielversprechenden Angeboten, die das DNK auf seiner Internet-Plattform SHARING HERITAGE präsentiert (www.sharing-heritage.de), begegnet uns Europa nicht als bürgerferne Brüsseler EU-Zentrale, sondern als eine gewachsene Gemeinschaft mit einer gemeinsamen, wechselvollen Geschichte. Es sind die Meisterwerke der Kunst und Architektur und die darin sichtbaren Spuren bereichernden Austauschs wie auch die darin eingebrannten Narben leidvoller Konflikte, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. In dieser Weise zu vergegenwärtigen, worauf Europa gebaut ist und was uns ausmacht als Europäerinnen und Europäer, das ist wichtiger denn je angesichts der vielerorts zu beobachtenden Erosion der Europäischen Einigung – angesichts des Brexits in Großbritannien, angesichts der Einschränkungen demokratischer Grundrechte in manchen EU-Ländern, angesichts des Erstarkens populistischer, europafeindlicher Strömungen auch hierzulande. Weder allein als florierende Freihandelszone noch als reines Zweckbündnis für Frieden und Sicherheit aber weckt das europäische Projekt jenen Enthusiasmus der Bürgerinnen und Bürger, der Europa vor dem Rückfall in eine von Abschottung, Gewalt und Unfreiheit geprägte Vergangenheit bewahren kann. Nur als Wertegemeinschaft hat die Europäische Union eine Zukunft. Nur als Wertegemeinschaft ist Europa ein Sehnsuchtsort, für den Menschen außerhalb der Europäischen Union unter europäischer Flagge auf die Barrikaden gehen, wie zum Beispiel 2013 und 2014 auf dem Kiewer Majdan.
Das Europäische Kulturerbejahr führt uns - 400 Jahre nach Beginn des 30jährigen Krieges und 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges - vor Augen, wie hart errungen, mit wie viel Krieg, Leid und Gewalt bezahlt Demokratie, Toleranz und Freiheit in Europa doch sind. Es erinnert uns daran, dass Europa für eine zivilisatorische Errungenschaft steht, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt, die ja gerade in der Hansestadt Hamburg besonders augenfällig ist und mit der Hamburg sich als perfekte Bühne für den Auftakt des Kulturerbejahres erweist, macht die Wertegemeinschaft Europa im Kern aus: Sie ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein und auch nicht primär ein Standortfaktor, sondern sie ist vor allem eines: Sie ist Ausdruck von Humanität. Dieses Europa mit seiner Offenheit für Vielfalt zu verteidigen und dem wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im kulturellen Austausch gewachsene europäische Kultur entgegenzusetzen, ist das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa tun können. Denn Europas Puls schlägt laut und kräftig, wo die Herzen für Europa schlagen. Und das wird letztlich nicht von der Höhe der Agrarsubventionen abhängen, und auch nicht allein von der Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Es ist vielmehr unsere gemeinsame Kultur, die Herzen höher schlagen lässt - eine Kultur, zu der die großen humanistischen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung ebenso gehören wie das Christen- und Judentum und auch die gemeinsamen, leidvollen Erfahrungen von Krieg und Grausamkeit in der Geschichte der europäischen Staaten.
"Hoffnung sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfassbare und erzielt das Unerklärbare", hat der polnische Ordensmann Maximilian Kolbe einmal gesagt, der während des Zweiten Weltkriegs Flüchtlingen Zuflucht in seinem Kloster bot, der 1941 in Auschwitz sein Leben gab, um einen Familienvater vor dem Tod zu bewahren, und der heute seinen 124. Geburtstag feiern würde. "Hoffnung sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfassbare und erzielt das Unerklärbare": In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein erfolgreiches Europäisches Kulturerbejahr. Möge es über 2018 hinaus die Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer auf ein in Vielfalt geeintes, demokratisches Europa beflügeln - eine Hoffnung, die Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand geschenkt hat und auf die Europa seine Zukunft bauen kann.