Rede der Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung der "European Policy Debate" anlässlich des Kulturerbegipfels

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Im Wortlaut Rede der Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung der "European Policy Debate" anlässlich des Kulturerbegipfels

Unter dem Motto "Sharing Heritage–Sharing Values" haben Vertreter aus Politik und Kultur aus ganz Europa über den Wert des Kulturerbes für den Zusammenhalt diskutiert. Staatsministerin Grütters stellte in ihrer Rede klar: "Gerade in diesen Zeiten, in denen Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften." Zudem warnte Sie davor, in Konfliktsituationen den Glauben an europäische Lösungen preiszugeben. Wer das tut, "katapultiert Europa zurück in eine Zeit, in der das Recht des Stärkeren regiert."

Freitag, 22. Juni 2018 in Berlin

"Der Krieg dauert schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Frieden gesehen haben. Dass nur die Alten sich noch an Frieden erinnern." Diese Worte über den 30jährigen Krieg - den europäischen Glaubenskrieg, der vor 400 Jahren begann und unermessliches Leid über Europa brachte – diese Worte über den 30jährigen Krieg hat der international gefeierte, deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman Tyll dem Botschafter des Kaisers in den Mund gelegt – in einem Gespräch am Rande eines Gesandtenkongresses, der den Krieg beenden soll. "Ich und meine Kollegen", fährt der Botschafter fort, "sind die Einzigen die ihn beenden können. Jeder will Gebiete, die der andere auf keinen Fall hergeben möchte, jeder verlangt Subsidien, jeder will, dass Beistandsverträge gekündigt werden, die andere für unkündbar halten, damit stattdessen neue Verträge zustande kommen, von denen andere meinen, sie seien unannehmbar. Das hier geht über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen."

Im Europa unserer Zeit, meine Damen und Herren, dauert der Frieden schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Krieg gesehen haben. Dass nur wenige sich noch an Krieg erinnern: an Schlachtfelder, an in Schutt und Asche liegende Städte, an zügellose Gewalt, an Menschen auf der Flucht und Leichen auf den Straßen – an all die Verheerungen und Verwüstungen, die Kriege über Jahrhunderte immer wieder im Antlitz Europas und in den Seelen der Europäer hinterlassen haben. Ja, der Frieden ist hierzulande so selbstverständlich geworden, dass beinahe in Vergessenheit geraten ist, wie sehr - wie weit "über die Fähigkeiten jedes Menschen (...) hinaus"– auch heute immer wieder um Verständigung gerungen werden muss. Die Europäische Union befindet sich in einer schwierigen Lage– erschüttert vom "Brexit"“ Großbritanniens und vom Erstarken nationalistischer Strömungen, bedroht durch die Erosion demokratischer Grundwerte wie der Presse- und Kunstfreiheit in manchen europäischen Ländern und unter dem Eindruck zähen Ringens um gemeinsame Lösungen für globale Probleme, etwa um eine europäische Asylpolitik. So war es in der Geschichte der Europäischen Union vielleicht noch nie so wichtig wie heute zu vergegenwärtigen, worauf die europäische Einheit in Vielfalt gebaut ist. In diesem Sinne heiße ich sie im Namen der deutschen Bundesregierung herzlich zum European Cultural Heritage Summit willkommen, zu einem der glanzvollen Höhepunkte des europäischen Kulturerbejahres, das wir – dank Ihrer Initiativen und Projekte, meine Damen und Herren – europaweit als Jahr der Verständigung über unsere europäischen Wurzeln und Werte feiern. Ich freue mich sehr, so viele leidenschaftliche Europäerinnen und Europäer aus Politik und Zivilgesellschaft in Berlin begrüßen zu dürfen – einen vielstimmigen und vielsprachigen Chor aus Europa-Enthusiasten, der Menschen mit der Kraft unseres europäischen Kulturerbes für unsere gemeinsame geistige Heimat, für unsere Heimat Europa begeistert!

Zu den rund 40 Projekten hier in Deutschland, die die Bundesregierung bisher aus meinem Kulturetat finanziell unterstützt, zählt die Ausstellung "Frieden. Von der Antike bis heute“ in Münster. Sie erzählt vom Ringen um Frieden in Europa, und ich erwähne sie nicht nur deshalb beispielhaft, weil Münster meine Heimatstadt ist, sondern auch weil Münster als Schauplatz des Westfälischen Friedens Zeugnis ablegt von der Kraft Europas zur Verständigung. In Münster haben erbitterte Feinde sich 1648 die Hand gereicht. In Münster ist am Verhandlungstisch nach 30 Jahren Krieg eine europäische Einigung gelungen, die beinahe unmöglich schien – aus jenem "Und dennoch müssen wir es schaffen" heraus, das Daniel Kehlmann in seinem Roman Tyll einem Vertreter der Kriegsparteien in den Mund gelegt hat.

Der European Cultural Heritage Summit vereint rund 70 solche Identität und Zusammenhalt stiftenden Projekte und Veranstaltungen von über 100 Institutionen aus ganz Europa. Sie alle zeigen, dass die Europäische Union viel mehr ist als eine Freihandelszone oder ein Zweckbündnis zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Sie alle setzen dem vielerorts – auch in Deutschland - wieder aufkeimenden Nationalismus den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegen. Und deshalb bin ich sicher: Der Austausch im Rahmen der Konferenz inspiriert Sie sicherlich in Ihrem Engagement für den Schutz und die Vermittlung des Kulturerbes, meine Damen und Herren, und beflügelt die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg – und damit jene Kultur der Verständigung, die wir uns für Europa wünschen!

Gerade in diesen Zeiten, in denen Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften. Es sind die Meisterwerke der Kunst und Architektur und die darin sichtbaren Spuren bereichernden Austauschs wie auch die darin eingebrannten Narben leidvoller Konflikte zwischen Nationen und Kulturräumen, die eindringlich vermitteln, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind. Vor allem aber führt uns das Europäische Kulturerbejahr vor Augen, dass Europa für eine zivilisatorische Errungenschaft steht, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Einheit in Vielfalt durch Verständigung macht Europa - und den Frieden im Europa - im Kern aus. Und deshalb muss allen, die politisch Verantwortung tragen, klar sein: Wer in Konfliktsituationen den Glauben an die Möglichkeit gemeinsamer europäischer Lösungen preisgibt, katapultiert Europa zurück in eine Zeit, in der das Recht des Stärkeren regierte – und ignoriert die Zeugnisse jener Jahrhunderte, in der dieses Prinzip brutale europäische Realität war. Einheit in Vielfalt durch Verständigung: Das ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; es ist vielmehr dessen Voraussetzung. Vor allem aber ist die Bereitschaft, der Verständigung Vorzug vor der Macht des Stärkeren zu geben, Ausdruck von Humanität. Daran zu erinnern und in der Vergegenwärtigung leidvollen Scheiterns wie auch hoffnungsvoll stimmender Erfolge europäischer Verständigung Ankerpunkte des Erinnerns sichtbar zu machen, auf die sich Menschen aus allen europäischen Ländern gemeinsam beziehen können, ist das Beste, was wir für ein starkes, demokratisches Europa und für starke Demokratien in Europa tun können.

Zur Verständigung, die ein friedliches Miteinander in der Vielfalt unterschiedlicher Interessen, Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen in einem geeinten Europa und in einer globalisierten Welt immer wieder aufs Neue erfordert, können heute – neben den baukulturellen Vermächtnissen europäischer Geschichte - nicht zuletzt auch Kunst und Kultur beitragen. Gerade die Kultur birgt ja die große Chance, Räume für kontroverse Debatten zu eröffnen und Orte zu schaffen, an denen das Unmögliche gedacht werden kann, um dann das Mögliche zu tun. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern - und damit auch die Grenzen der Empathie. Verständigung in Europa und in der Welt braucht deshalb nicht nur die Kunst der Diplomatie, sondern auch die Diplomatie der Kunst und Kultur. Eine Kulturpolitik, die neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität auch die künstlerische Avantgarde und den kulturellen Austausch fördert, und engagierte Botschafterinnen und Botschafter des kulturellen Erbes – so wie Sie, meine Damen und Herren –, sind Wegbereiter europäischer Verständigung.

Wege der Verständigung über die tiefe Kluft zwischen gegensätzlichen Interessen und Perspektiven zu finden, das geht vielleicht (um die eingangs zitierten Worte aus Daniel Kehlmanns Roman Tyll noch einmal aufzugreifen) auch heute "über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen." - In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende Konferenz und uns allen ein weiterhin erfolgreiches Europäisches Kulturerbejahr. Möge es über 2018 hinaus die Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer auf ein in Vielfalt geeintes, demokratisches Europa beflügeln - eine Hoffnung, die Europa Frieden, Freiheit und Wohlstand geschenkt hat und auf die Europa seine Zukunft bauen kann!