Rede der Kulturstaatsministerin bei der Eröffnung der Ausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt: Der NS-Kunstraub und die Folgen" in Bonn

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Anrede,

im Jahr 1903 erwarb der jüdische Kunstsammler Albert Martin Wolffson eine Handzeichnung Adolph von Menzels mit dem Titel "Inneres einer gotischen Kirche" - eines von 32 Blättern, für die er insgesamt 50.000 Reichsmark bezahlte. 35 Jahre später, im Jahr 1938 musste seine Tochter Elsa Cohen diese Zeichnung verkaufen, um ihre Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA finanzieren zu können. Der Käufer war Hildebrand Gurlitt. Sein Geschäftsbuch verzeichnet einen Preis von 150 Reichsmark – eine dem damaligen Wert einer Menzel-Handzeichnung absolut nicht angemessene Summe. Knapp 80 Jahre später, im Jahr 2017 endlich bekam die Familie Wolffson ihr Eigentum zurück: Dank der Arbeit der Taskforce "Schwabinger Kunstfund" konnte ich die Zeichnung im Februar an die Erben Elsa Cohens übergeben.
Mit ihrer Biographie steht Elsa Cohen beispielhaft für eben die Opferschicksale, denen die Ausstellung "Der NS-Kunstraub und die Folgen" gewidmet ist.

Gestern haben wir in Bern den Teil der Ausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt" eröffnet, der die so genannte "Entartete Kunst" betrifft. Die Aktion "Entartete Kunst", die uns das Kunstmuseum Bern mit rund 200, größtenteils in den 1930er Jahren in deutschen Museen und Sammlungen beschlagnahmten Werken aus dem "Kunstfund Gurlitt" vor Augen führt, steht für die Verhöhnung, Verfolgung und Entrechtung der Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht für die nationalsozialistische Ideologie in Dienst nehmen ließen. Sie steht damit auch für den Tod der Kunstfreiheit, ablesbar schon auf der Titelseite des Katalogs zur Diffamierungsausstellung Entartete "Kunst": Es war die Kunst, die hier in Anführungszeichen stand, um der diktatorischen Definitions- und Deutungshoheit Ausdruck zu verleihen. 

Die Aufarbeitung dieses Teils der schändlichen Kunstpolitik der National-sozialisten sowie des beispiellosen Kunstraubs, verübt an meist jüdischen Kunsthändlern und -sammlern, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands. Bei der Raubkunst geht es vor allem um die Anerkennung der Opferbiographien, des unermesslichen Leids unzähliger Menschen - insbesondere jüdischer Bürger in Deutschland und den besetzten Gebieten - unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Deshalb hat der Umgang mit dem Kunstbestand Gurlitts nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem auch eine moralische Dimension.

Den menschlichen Schicksalen gerecht zu werden, die hinter den geraubten und entzogenen Kunstwerken stehen, dazu haben wir – die Bundesregierung, der Freistaat Bayern und das Kunstmuseum Bern als Erbe der Sammlung – uns vor drei Jahren gemeinsam verpflichtet. Unzählige, meist jüdische Sammler von Kunst- und Kulturgütern haben während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Eigentum verloren: Sie wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, sie wurden beraubt, sie wurden enteignet. Andere mussten ihren Besitz, wie Elsa Cohen, weit unter Wert veräußern oder bei Flucht und Emigration zurücklassen.

Dieses Leid, dieses Unrecht lässt sich nicht wieder gutmachen. Dennoch – oder gerade deshalb - habe ich es als wichtige und bedeutsame Geste empfunden, mit der Rückgabe der Menzel-Zeichnung an die Erben Elsa Cohens wenigstens ein wenig zu historischer Gerechtigkeit beitragen zu können. Das hat mich auch persönlich sehr bewegt. Ich danke Ihnen und Ihrer Familie herzlich, verehrter Herr Wolffson, dass Sie als Vertreter der in den USA lebenden Erben der Bundeskunsthalle die Zeichnung für den "Bonner Teil" der Doppelausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt" zur Verfügung gestellt haben und heute auch hier sind. Die Ausstellung zeigt einmal mehr, dass hinter jedem entzogenen, geraubten Kunstwerk das individuelle Schicksal eines Menschen steht: Dies anzuerkennen und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und deren Nachfahren schuldig.

Die Ausstellung sensibilisiert aber auch dafür, wie mühsam, langwierig und ungeheuer schwierig es ist, die Herkunft eines Kulturguts über Jahrzehnte zurück zu verfolgen und zweifelsfrei zu klären.

Die insbesondere mit Blick auf die noch lebenden, hochbetagten Opfer und ihre Nachkommen nur allzu verständliche Erwartung, dass sich 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft die Geschichte der knapp 1.600 Werke unklarer Provenienz im Gurlitt-Konvolut innerhalb kürzester Zeit zurück verfolgen lässt, erwies sich deshalb aus wissenschaftlicher Sicht leider als unerfüllbare Hoffnung.

Zu den Zahlen: Knapp 900 Werke konnten nach erster Forschung dem Familienbesitz Gurlitts oder der sogenannten "Entarteten Kunst" zugeordnet werden, bei denen in der Regel nicht von Raubkunst auszugehen ist. Daher wurden rund 700 Werke unter möglichem Raubkunstverdacht in den Fokus genommen: Deren Vergangenheit und die von Unrecht und Krieg geprägten Umstände ihrer Besitzerwechsel wurden in akribischer Arbeit erforscht. Nur ein geringer Teil ließ sich hier eindeutig als Raubkunst oder als unbelastet identifizieren. Trotz Ausschöpfung aller Quellen besteht aktuell bei über 100 Werken nach wie vor ein gesteigerter Raubkunstverdacht. Bei zwei Werken, bei denen die Forschungsergebnisse gegenwärtig von den internationalen Experten im Reviewverfahren überprüft werden, ist damit zu rechnen, dass sich ein Raubkunstverdacht bestätigen wird.

Gründe dafür, dass nur ein geringer Teil sich eindeutig als Raubkunst oder als unbelastet identifizieren ließ, sind beispielsweise im Krieg ja oft ebenfalls verlorengegangene Dokumente, unzugängliche Privatarchive – auch zum Teil die des Kunsthandels - oder Schwierigkeiten bei der Identifikation eines Werks, weil keine Stempel oder Aufschriften angebracht wurden. Angesichts dieser Probleme ist die Ausschöpfung aller Forschungsmöglichkeiten zur Provenienzklärung das Bestmögliche, was wir erreichen können - und in diesem Sinne sind wir durch die Arbeit der Taskforce und des so genannten "Projekts Provenienzrecherche Gurlitt" schon ziemlich weit gekommen.

Zur "Bestandsaufnahme Gurlitt" gehören aber nicht nur die Ergebnisse der Untersuchung des "Kunstfunds Gurlitt", sondern auch und insbesondere die weit über dessen Aufklärung hinausgehenden Fortschritte bei der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs. Ein großer Fortschritt ist allein schon, dass die Taskforce international einheitliche Standards und Darstellungsformen für die Provenienzforschung und deren Ergebnisse geschaffen hat. All das gab es zuvor nicht! Das ist auch einer der Gründe, warum die Veröffentlichung der Zwischenergebnisse sich so mühsam hinzog. Hier hat die Taskforce dann am Ende großartige Pionierarbeit geleistet.

Ein großer Fortschritt ist zweitens die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, die die Provenienzforschung mit der Aufarbeitung des "Kunstfunds Gurlitt" erfahren hat. Als ich im Dezember 2013 mit dem Amt der Kulturstaatsministerin gewissermaßen auch den Fall Gurlitt "übernommen" habe, war mir vor allem eines wichtig: ein politisches Signal der Transparenz gegenüber den Nachkommen der Opfer zu setzen. 

Mir war deshalb sehr daran gelegen, dass die Taskforce mit internationalen Experten besetzt wurde, die nicht zuletzt auch Anerkennung bei jüdischen Organisationen und in Israel finden konnten. Ihre Beiträge erwiesen sich fachlich als außerordentlich wertvoll und halfen auch dabei, die Perspektive der Leidtragenden im Blick zu behalten. Deshalb bedeutet mir der regelmäßige, hilfreiche Austausch mit Herrn Lauder, der heute leider nicht anwesend sein kann, sehr viel. Wir haben einander mehrmals besucht – in Berlin und New York.

Als Erfolg dürfen wir drittens auch werten, dass die Aufarbeitung des "Kunstfunds Gurlitt" das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der Provenienzforschung deutlich gestärkt hat. Mit dem auf meine Initiative gegründeten Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg gibt es nun einen zentralen Ansprechpartner für Provenienzforschung. Die Bundesmittel für Provenienzforschung konnte ich in meinem Kulturetat von 2 auf 6,5 Millionen Euro erhöhen. Auch viele Museen engagieren sich inzwischen viel stärker als bisher. Sie werden eben nicht mehr nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen, sondern auch und vor allem daran, wie sie ihre Geschichte und die ihrer Sammlungen aufarbeiten. Ich werde die öffentlichen Einrichtungen auch weiterhin, wo immer sich die Gelegenheit bietet, an ihre Verantwortung erinnern und appelliere immer wieder auch an private Kunstsammler (davon wird es ja einige unter uns geben) und auch an den Kunsthandel, ihre Bestände zu untersuchen und - den Washingtoner Prinzipien folgend - zu gerechten und fairen Lösungen beizutragen.

Last but not least hat eben die Arbeit der Taskforce und des jetzigen Projektteams beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste eine Fülle an Erkenntnissen zum Umgang mit Kunst in der NS-Zeit zutage gefördert, von der die künftige Forschung profitieren wird. Und auch diese Ausstellung eröffnet mit der Präsentation vieler Werke ungeklärter Herkunft Chancen auf neue Erkenntnisse durch neue Hinweise.

So ist die "Bestandsaufnahme Gurlitt" denn auch kein Schlusspunkt der Aufarbeitung, sondern ganz im Gegenteil: ein Ausgangspunkt, von dem aus mehr Forschende als bisher mit besserem Rüstzeug als bisher der Wahrheit auf den Grund gehen können. Ich danke all jenen, deren unermüdliches Engagement dazu beigetragen hat - sei es im Rahmen der Aufklärung des "Kunstfunds Gurlitt", sei es im Rahmen der Vorbereitung der Ausstellung, die wir heute eröffnen. Mag Wiedergutmachung auch jenseits unserer Möglichkeiten liegen, meine Damen und Herren, so verdient doch auf jeden Fall die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs jede nur mögliche Anstrengung. Denn jedes einzelne Werk, dessen Provenienz geklärt und das vielleicht sogar restituiert werden kann, ist ein Mosaikstein des immer noch unvollständigen Bilds von der historischen Wahrheit. Es - wo immer möglich - zu ergänzen und die Wahrheit anzuerkennen, das sind und bleiben wir den ihres Eigentums und ihrer Rechte beraubten, von den Nationalsozialisten verfolgten und vielfach ermordeten Menschen schuldig - und ich bin froh und dankbar, dass die Ausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt" eben dies sehr eindringlich vermittelt.

Ich wünsche ihr deshalb ein aufmerksames Publikum - auf dass Schicksale wie das Elsa Cohens die Beachtung erfahren, die ihnen viel zu lange verwehrt blieb!

-Bitte Sendesperrfrist beachten! Es gilt das gesprochene Wort.-