Sommer-Pressekonferenz des Kanzlers 2024
Wachstumsinitiative, Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Migration: Bei der Sommer-Pressekonferenz in Berlin hat Bundeskanzler Scholz über viele Themen gesprochen, die die Menschen in Deutschland bewegen.
- Mitschrift Pressekonferenz
- Mittwoch, 24. Juli 2024
Bundeskanzler Olaf Scholz eröffnete die Sommer-Pressekonferenz mit einem kurzen Eingangsstatement. Darin verwies er auf die letzte Sitzung des Bundeskabinetts vor der Sommerpause. Alle Beschlüsse dienten dazu, mit mehr Tempo das Land zu modernisieren. Die Steuererleichterungen seien gut für Unternehmen, für die Forschung und auch für Familien. Sein Resümee zur Sitzung des Bundeskabinetts: „Ganz produktiv – ein guter Start in die Sommerpause.“
Im Anschluss hatten die Journalistinnen und Journalisten fast zwei Stunden Zeit, dem Kanzler ihre Fragen zu stellen.
Deutschland modernisieren
Der Haushaltsentwurf wurde gemeinsam beschlossen, so der Bundeskanzler. Nun gehe man mit der Wachstumsinitiative gemeinsam die zentralen Themen an: „Modernisierung, technischer Fortschritt, Wachstum und gesellschaftlicher Zusammenhalt.“
Mehr als 49 Einzelmaßnahmen werden dafür umgesetzt. Dazu gehören der Ausbau der Infrastruktur, die Stabilisierung des Sozialstaats, mehr Geld für die Bundeswehr und die weitere Unterstützung der Ukraine. „Und das ist schon was – in sehr rauen Zeiten“, betonte Scholz.
„Deshalb bin ich Mr. Mindestlohn“
„Wir haben die höchste Zahl von Erwerbstätigen in der Geschichte Deutschlands“, stellte Scholz klar. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, soll der Arbeitsmarkt weiter gestärkt werden. Der Kanzler stehe voll und ganz hinter dem gesetzlichen Mindestlohn. Gegen Lohndumping müsse die Politik vorgehen.
Das Bürgergeld wird weiterentwickelt, dazu gehört auch eine engmaschigere Betreuung der Leistungsempfängerinnen und -empfänger. Deutschland leidet unter einem Fachkräftemangel. Deshalb ist es auch wichtig, Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger, wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Der Bundeskanzler betonte, dass er zur Rente nach 45 Beitragsjahren ohne Abzüge steht: Es kann doch nicht sein, dass „lauter Leute, die wie ich studiert haben politisch daherreden und beschließen, dass Leute, die mit 16 angefangen haben zu arbeiten, ein Privileg besäßen.“
Stationierung von weitreichenden US -Waffen in Deutschland
In Deutschland sollen ab 2026 wieder US-Mittelstreckenwaffen stationiert werden. Die Entscheidung diene dazu, dass Deutschland und die NATO-Staaten nicht angegriffen werden und kein Krieg stattfindet, so Scholz. „Wir brauchen auch Abschreckungsmöglichkeiten über das, was wir an Marschflugkörpern zum Beispiel heute schon haben und zwar auch mit konventionellen, langreichenden Wirkmitteln.“
Der Grund sei, dass sich Russland massiv über alle Rüstungskontrollvereinbarungen der letzten Jahrzehnte hinweggesetzt habe, erläuterte Scholz. „Wir alle wünschen uns, dass wir mal wieder in einer Welt leben, in der Rüstungskontrolle eine große Bedeutung hat.“
„Wir dürfen uns aussuchen, wer nach Deutschland kommt“
„Dürfen wir uns aussuchen, wer nach Deutschland kommt? Die Antwort lautet: Ja." Dies betonte Kanzler Scholz. Die Bundesregierung arbeite daran, insbesondere Straftäter auch nach Syrien und Afghanistan abzuschieben. Irreguläre Migration solle weiter begrenzt werden.
Die Rückführungen seien um 30 Prozent gestiegen. Zudem habe die Bundesregierung irreguläre Migration eingeschränkt. So seien unter anderem Grenzkontrollen eingeführt worden und die Regierung plane die Asylverfahren zu beschleunigen, sagte Scholz. Gleichzeitig betonte er, damit Deutschland „ein wohlhabendes und reiches Land“ bleibe, brauche es genug Arbeitskräfte, auch aus dem außereuropäischen Ausland.
Klare Position zum Konflikt im Nahen Osten
„Nach dem brutalen, menschenverachtenden Angriff der Hamas auf israelische Bürgerinnen und Bürger im Oktober letzten Jahres, Israel das Recht hat, sich gegen die Hamas zur Wehr zu setzen und sie auch zu bekämpfen“, betonte der Kanzler. Wichtig sei aber auch, dass die Kriegsführung den Kriterien des internationalen Völkerrechts entspreche und humanitäre Hilfe in sehr großem Umfang nach Gaza gelange. Es brauche „auch eine Perspektive für ein friedliches Miteinander von Israel und einem palästinensischen Staat als Perspektive der zwei Staatenlösung.“
Lesen Sie hier die Mitschrift der Pressekonferenz:
Bundeskanzler Scholz: Schönen Dank für die Einladung. Ich will am Anfang nicht viele Worte sagen. Wir waren heute bei der Kabinettssitzung noch einmal fleißig. Wir haben sehr viele Gesetze beschlossen, die dazu beitragen sollen, dass in Deutschland alles schneller geht und wir mehr Tempo haben, etwa wenn es um unser Mobilfunknetz geht, etwa wenn es um die Frage geht: Wie kommen wir mit den Wasserstoffimporten und den Strukturen voran, die dazu notwendig sind? Wir haben auch steuerrechtlich etwas getan und Steuererleichterungen für die Bürgerinnen und Bürger beschlossen. Wir haben dafür gesorgt, dass es mit der Forschungsförderung von Unternehmen und den Abschreibungsbedingungen für Unternehmen im Rahmen der von uns auf den Weg gebrachten Wachstumsinitiative klappt. Familien kriegen auch mit einem höheren Kindergeld und mit den Möglichkeiten, die sich über die Freibeträge ergeben, mehr Geld. – Insofern waren wir also ganz produktiv - ein guter Start in die Sommerpause.
Mehr Vorbemerkungen will ich nicht machen. Ich freue mich auf Ihre Fragen.
Frage: Herr Scholz, viele in der SPD und viele Menschen fragen sich gerade, ob Sie der richtige Kandidat für die Bundestagswahl 2025 sind. Wollen Sie möglicherweise dem Vorbild von Herrn Biden folgen, oder wollen Sie sozusagen genauso sicher in die Wahl gehen, wie es Herr Biden vor einigen Wochen noch deutlich gemacht hat?
Bundeskanzler Scholz: Danke für die überaus nette und freundliche Frage. Nein, die SPD ist eine sehr geschlossene Partei. Wir sind alle fest entschlossen, gemeinsam in den nächsten Bundestagswahlkampf zu ziehen und ihn zu gewinnen. Ich werde als Kanzler antreten, um erneut Kanzler zu werden.
Frage: Herr Bundeskanzler, inwiefern bereiten Sie sich darauf vor, den Haushalt noch einmal an die Erwartungen der neuen US-Administration anzupassen? Die Verteidigung fällt ja schon jetzt unter die Erwartungen Ihres eigenen Ministers.
Ich habe noch eine zweite Frage in eigener Sache: Die russische Duma hat ja jetzt dem verschärften Gesetz in erster Lesung zugestimmt. Rechnen Sie eigentlich damit, dass das auch Folgen für deutsche Medien hat, wenn das Gesetz in Kraft tritt, und was empfehlen Sie?
Bundeskanzler Scholz: Der Wahlkampf in den USA wird sicherlich spannend – jetzt mit einer etwas neuen Aufstellung und einer neuen Konstellation. Ich will ausdrücklich sagen, dass es für uns hier in Deutschland allesamt wahrscheinlich eine Überforderung wäre, den Wahlausgang vorherzusagen. Ich halte es für sehr gut möglich, dass Kamala Harris die Wahl gewinnt. Aber das entscheiden die amerikanischen Wählerinnen und Wähler. Wie in den letzten Jahrzehnten, in denen wir uns in Deutschland um eine gute transatlantische Zusammenarbeit bemüht haben, wird es auch in den nächsten Jahrzehnten so sein. Es wird auch eine solche geben. Davon bin ich fest überzeugt.
Ansonsten ist Deutschland das führende Land, wenn es um Sicherheit und Verteidigung in Europa geht. Wir wenden jetzt regelmäßig und dauerhaft zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für Verteidigung entlang der Nato-Kriterien auf. Der Bundeswehrhaushalt ist gestiegen. 2017, bevor ich Bundesminister der Finanzen wurde, lag er bei 37 Milliarden Euro. Wenn man heute die Mittel zusammen betrachtet, die wir aus dem Bundeshaushalt direkt und über das Sondervermögen einsetzen, kommen wir auf 76 Milliarden Euro. Das ist also eine Verdopplung, was doch eine beachtliche Leistung in sehr kurzer Zeit ist. Schon für 2028 planen wir mit 80 Milliarden Euro, sodass sich die Bundeswehr dauerhaft darauf verlassen kann – auch bei den jetzigen Bestellungen –, dass sie so gut ausgestattet sein wird.
Zusatzfrage: Können Sie zu der Frage zu dem russischen Duma-Gesetz, der Verschärfung des Gesetzes zu ausländischen Organisationen, noch sagen, wann und mit welchen Folgen Sie für die Medien aus Deutschland rechnen?
Bundeskanzler Scholz: Es macht gar keinen großen Sinn, viel über die verschiedenen diktatorischen Maßnahmen der russischen Regierung zu spekulieren. Das wird nicht die letzte sein, und es wird auch noch welche geben. Wir stehen immer für freie Medien und freie Presse ein und setzen uns dafür auch ein mit den Möglichkeiten, die wir außerhalb Deutschlands manchmal nur sehr begrenzt haben.
Frage: Sie haben eben die Reformen, die im Kabinett beschlossen wurden, erwähnt. Dazu würde mich interessieren: Haben Sie mit den Ländern gesprochen, ob sie den Teil, den sie mitfinanzieren müssen, auch wirklich übernehmen? Wir haben beim Wachstumschancengesetz gesehen, dass das nicht der Fall war, also wurde das Paket danach im Bundesrat wieder abgespeckt. Erwarten Sie wirklich, dass diese Reformen jetzt einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen werden? Sie hatten ja schon mehrmals einen Aufschwung angekündigt, der dann aber nicht eintrat.
Bundeskanzler Scholz: Wir haben eine sehr umfassende Wachstumsinitiative sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr gemeinschaftlich in der Bundesregierung vorbereitet. Für mich war es sehr wichtig, dass es genau so gelingt. Das sind 49 Maßnahmen im Einzelnen. Darunter sind auch steuerliche Maßnahmen, die in unserem Gesamtstaat immer von Bund und Ländern gemeinsam beschlossen werden müssen. Ich habe alle öffentlichen Äußerungen der Vertreter der Länder so verstanden, dass sie sich auch für mehr Wachstum einsetzen. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass es gelingen wird, diese Dinge im Gesetzgebungsverfahren am Ende auch zu beschließen. Sie sind notwendig. Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde sich sehr umfassend vonseiten der deutschen Wirtschaft und auch den Gewerkschaften positiv auf diese Wachstumsinitiative bezogen. Das gibt noch einmal zusätzliche Unterstützung.
Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben eben die Geschlossenheit der SPD erwähnt. Ausgerechnet Ihr Fraktionschef Rolf Mützenich hat sich kritisch gegenüber der geplanten Stationierung von Langstreckenraketen in Deutschland geäußert, die Sie ausverhandelt haben. Er hat das mit einer möglichen Gefahr der Eskalation mit Russland begründet. Viele Menschen sehen das ähnlich. Was entgegnen Sie ihm?
Bundeskanzler Scholz: Zunächst einmal ist es so, dass Rolf Mützenich und ich sehr gemeinschaftlich handeln, auch in der Frage, was für die Sicherheit Deutschlands wichtig ist. Natürlich kann man solche Entscheidungen, wie wir sie in Deutschland lange vorbereitet und jetzt auch getroffen haben, aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Es bleiben aber die gleichen Entscheidungen. Trotzdem ist es richtig, dass man aus allen Richtungen einmal draufschaut, die dazugehören.
Ich will für mich sagen: Es war richtig, dass wir im Rahmen unserer Nationalen Sicherheitsstrategie gesagt haben, neben der besseren Ausstattung der Bundeswehr mit der Neuanschaffung von sehr umfassenden Möglichkeiten zur Luftverteidigung, die wir jetzt, nachdem sie jahrzehntelang abgeschafft und abgebaut worden sind, mit der European Sky Shield Initiative, mit dem Arrow-3-System, mit den Patriots, mit den IRIS-T aus Deutschland und dem Skyranger als unteres System wieder massiv aufbauen, brauchen wir auch Abschreckungsmöglichkeiten über das, was wir an Marschflugkörpern zum Beispiel heute schon haben, und zwar auch mit konventionellen, langreichenden Wirkmitteln. Das haben wir in der Nationalen Sicherheitsstrategie festgelegt. Ich habe das im Übrigen auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz sehr ausführlich dargelegt und zur Debatte gestellt. Da hinein passt die Entscheidung, die wir hier getroffen haben. Sie dient dazu, dass Abschreckung wirkt, und sie dient dazu, dass wir, die Nato-Staaten und Deutschland, nicht angegriffen werden. Sie dient dazu, dass kein Krieg stattfindet.
Wir alle – ich glaube, das kann ich für die Nato insgesamt, für Deutschland und auch für alle in der SPD sagen – bedauern sehr, dass sich Russland so intensiv und so massiv über all die Rüstungskontrollvereinbarungen der letzten Jahrzehnte hinweggesetzt hat und aus der Politik der Rüstungskontrolle ausgestiegen ist. Natürlich wünschen wir uns, dass wir mal wieder in einer Welt leben, in der Rüstungskontrolle eine große Bedeutung hat. Aber jetzt geht es darum, dass wir unsere Sicherheit auch durch die notwendige Abschreckung gewährleisten, damit es eben nicht zu einem Krieg kommt.
Frage: Würden Sie sich im nächsten Wahlkampf erneut mit dem Begriff „Frieden“ plakatieren lassen, oder ist das nicht ein Widerspruch, der sich nicht mehr auflösen lässt?
Bundeskanzler Scholz: Nein, ich würde mich gerne wieder damit plakatieren lassen, weil ich ja nicht der Polemik rechter und linker Populisten und einiger Scharfmacher folge, wonach man nur dann für Frieden ist, wenn man der Ukraine die bedingungslose Kapitulation empfiehlt. Ich weiß nicht, ob das Ihr Vorschlag ist. Meiner ist es jedenfalls nicht. Wir müssen die Ukraine sehr umfassend unterstützen. Das machen wir als diejenigen, die der Ukraine in Europa am meisten mit Waffen helfen und geholfen haben.
Wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass Prozesse unterstützt werden, die einen Friedensprozess möglich machen, wie das zum Beispiel mit den vielen Treffen der außen- und sicherheitspolitischen Berater der Fall war, wie das zum Beispiel auch der Fall war, als wir jetzt in der Schweiz die größere Friedenskonferenz hatten, und wie es auch sein wird, wenn wir jetzt – auch dem Vorschlag von Präsident Selenskyj folgend – dafür werben, dass eine Anschlusskonferenz stattfindet, an der auch Russland teilnimmt und in der diese Fragen diskutiert werden. Es ist nicht sicher, dass es kommt, aber jede Mühe wert. Wir bemühen uns in jedem Fall.
Ansonsten – das will ich bei der Gelegenheit sagen – sind unsere Entscheidungen auch sehr klar. Wir unterstützen die Ukraine so umfassend, wie das jetzt erforderlich und auch notwendig ist. Gleichzeitig sind alle unsere Entscheidungen so abgewogen und so getroffen, dass es nicht zu einer Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato kommt. Deshalb zum Beispiel die klare Aussage, welche Waffen wir liefern und welche wir nicht liefern, und deshalb die klare Aussage, dass wir gesagt haben, weitreichend in das Hinterland kann mit den von uns gelieferten Waffen nicht gewirkt werden. Es war notwendig, im Umfeld von Charkiw etwas zu entscheiden, damit die Grenze nicht als Schutzschild für massive Angriffe gegen diese Großstadt missbraucht werden kann. Natürlich gehört dazu auch, dass wir sehr klar gesagt haben: Wir werden mit unseren Soldaten und Flugzeugen nicht Raketen oder Flugzeuge Russlands abschießen. Wir werden auch nicht Soldaten dorthin schicken. – Das ist insgesamt also eine sehr abgewogene und sehr präzise Position in einer Lage, in der ein ganz bedrohlicher Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet.
Frage: Herr Scholz, zuletzt gab es einige Rückzugsankündigungen von ostdeutschen Politikern – Bundestagsabgeordnete, die sagen, sie treten nicht mehr an, der Landrat von Mittelsachsen, der gestern seinen Rücktritt erklärt hat –, alle mit der gleichen oder einer ähnlichen Begründung: Sie wollen sich diesen Hass und diese Hetze nicht mehr antun. Sie sehen nicht, wie ihre Regionen, also insbesondere auch Sachsen, angesichts des massiven Widerstands gegen Themen wie Energiewende, Fachkräftezuwanderung etc. zukunftsfähig werden sollen. – Wie stark macht Sie das besorgt? Haben Sie irgendeine Fantasie, was man tun kann, wenn es in den Regionen selbst immer weniger Leute gibt, die sich engagieren wollen?
Bundeskanzler Scholz: Ich bin sehr dankbar für die Frage. Wir müssen alles dafür tun, dass die Spaltungsunternehmer, die Polarisierungsunternehmer nicht den Ton in unserer Gesellschaft angeben. Sie gibt es auch. […]. Deshalb ist es ganz, ganz wichtig, dass wir alles dafür tun, dass unsere Gesellschaft zusammenhält, und dass wir darauf setzen, dass wir gemeinsam eine gute Zukunft gewinnen können. Das halte ich im Übrigen für das entscheidende Instrument. Wir werden nur dann zusammenbleiben, wenn man sich gemeinsam vorstellen kann, dass wir eine gute Zukunft erreichen können.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir vom Sprücheklopfen, das die letzten Jahrzehnte so sehr geprägt hat, weggekommen sind und mit - ich habe gerade eine Liste gesehen – über 50 Maßnahmen zur Planungsbeschleunigung, von denen bis auf acht jetzt alle auf dem Weg oder schon Gesetz geworden sind, dazu beitragen, dass alles gelingt, was wir an technologischer Modernisierung unserer Volkswirtschaft brauchen. Dazu zählt übrigens auch die Wachstumsinitiative, alles das, was wir zur Mobilisierung unseres Arbeitsmarktes tun, und dazu zählt, dass wir ganz konkret sicherstellen, dass in dieser kommenden Welt jeder einen guten Platz und ein gutes Auskommen hat, auch diejenigen, die zum Beispiel nicht studiert haben. Das ist die Antwort, Modernisierung, technischer Fortschritt, Wachstum und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Dafür muss man werben. Man muss es beharrlich mit ganz konkreten Argumenten und nicht mit Sprücheklopfereien tun.
Zusatzfrage: Eine Nachfrage noch: Wer soll denn vor Ort werben, wenn die Leute, die es könnten, sagen, ihnen reiche es?
Bundeskanzler Scholz: Ich bin davon überzeugt, dass es in den demokratischen Parteien genügend Menschen gibt, die sich dieser Aufgabe stellen. Das tue ich im Wissen, dass Ihre Frage so berechtigt ist, dass viele Schwierigkeiten sehen, wenn sie sich vor Ort aggressiven Bedrohungen ausgesetzt sehen, ob durch Worte oder manchmal darüber hinaus. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Ton unserer gesellschaftlichen Debatte nicht von den Spaltern bestimmen lassen, sondern von denen, die über alle Parteigrenzen und auch die Parteien hinweg auf Zusammenhalt und Zusammenarbeit setzen.
Frage: Herr Scholz, vor einigen Monaten sagten Sie, es dürfe keinen Zweifel daran geben, dass sich Israel an das internationale Recht hält. Würden Sie aus heutiger Sicht sagen, da haben Sie sich vielleicht in Ihrer Einschätzung geirrt, und, falls ja, welche Schlüsse ziehen Sie daraus in Bezug auf Ihre Israel-Politik und die genaue Auslegung der Staatsräson?
Bundeskanzler Scholz: Für uns ist ganz klar, dass Israel nach dem brutalen, menschenverachtenden Angriff der Hamas auf israelische Bürgerinnen und Bürger im Oktober letzten Jahres das Recht hat, sich gegen die Hamas zur Wehr zu setzen und sie auch zu bekämpfen. Gleichzeitig haben wir immer sehr genau unsere Prinzipien betont, zum Beispiel, dass humanitäre Hilfe in sehr großem Umfang nach Gaza gelangen muss. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass sie stetig ausgeweitet wird. Unverändert tun wir das, weil wir immer noch nicht überzeugt sind, dass es genug ist.
Deshalb haben wir sehr klar gesagt: Die Kriegsführung muss den Kriterien des internationalen Völkerrechts entsprechen. Dem folgen wir auch unverändert. Deshalb haben wir sehr präzise gesagt, dass wir zum Beispiel nicht mit der Siedlergewalt im Westjordanland einverstanden sind. Wir haben die auch gemeinsam mit vielen europäischen Freunden und den USA angeprangert, aber wir haben als Europäische Union gegen konkrete Personen auch Sanktionen verhängt. Deshalb haben wir aber auch immer gesagt: Es braucht auch eine Perspektive für ein friedliches Miteinander von Israel und einem palästinensischen Staat als Zweistaatenlösung. Genau dieser Linie folgen wir unverändert. Auch das jüngste Gutachten, auf das Sie anspielen, hat nichts an unserer Einschätzung geändert. Denn wir sind der Überzeugung, dass es eine Zweistaatenlösung geben muss und dass man daran arbeiten muss, dass sie eine realistische Perspektive ist.
Zusatzfrage: Sie sprechen jetzt an, dass Sie mit der israelischen Regierung immer wieder in Gesprächen sind. Das machen Sie seit Monaten. Dann bleibt trotzdem die Frage: Wie handelt Deutschland über Gespräche und Lippenbekenntnisse hinaus tatsächlich, um auf der einen Seite auf Israel einzuwirken, eine Zweistaatenlösung zu bewirken, aber auf der anderen Seite auch Israel dazu zu bewegen, dass sie sich tatsächlich an internationales Recht im Gazastreifen halten?
Bundeskanzler Scholz: Wir handeln unter anderem, indem wir sprechen und unsere Positionen sehr klar und deutlich formulieren – öffentlich genauso wie hinter verschlossenen Türen. Das ist ja ganz wichtig. Das, was ich hier sage, sage ich auch öffentlich in Israel. Das habe ich auch gemacht und dort sehr klar formuliert. Dieser Politik werden wir auch weiter folgen. Entlang dieser Maßgaben, die ich eben beschrieben habe, werden wir auch in Zukunft unsere Politik ausrichten.
Frage: Herr Bundeskanzler, die Ausgaben für das Bürgergeld könnten nach verschiedenen Prognosen am Ende des Jahres bei rund 50 Milliarden Euro liegen. Das wären zehn Prozent des gesamten Etats, das für Bürgergeld ausgegeben wird, trotz zwei Millionen offener Stellen, die es gibt. Auch wenn es einen Erwerbstätigenrekord gibt, gibt es zwei Millionen offene Stellen. Haben Sie nicht die Sorge, dass am Ende Ihrer Amtszeit aus einem aktivierenden Sozialstaat ein alimentierender geworden ist?
Bundeskanzler Scholz: Nein, weil wir aktiv das Gegenteil bewirken. In der Tat – Sie haben es eben schon gesagt –, wir haben die höchste Zahl von Erwerbstätigen in der Geschichte Deutschlands. Das ist ein sehr beeindruckender Wert. Die größte Herausforderung für die Zukunft, vor der wir stehen, wird das sein, was mit diesem schönen Bestseller zur Arbeiterlosigkeit bestimmt worden ist. Während wir um die Jahrtausendwende noch fünf Millionen Arbeitslose hatten und während wir uns in den Neunzigerjahren Sorgen über große Arbeitslosigkeit gemacht haben, ist es heute und jetzt so, dass wir wissen, die nächsten zwei, drei Jahrzehnte werden von einem Mangel an Arbeitskräften und Fachkräften bestimmt sein. Es wird also ganz zentral sein, dass wir mit allem, was wir tun, dazu beitragen, dass die Erwerbstätigkeit in Deutschland sehr, sehr hoch bleibt. Das ist wichtig für die Staatsfinanzen. Das ist wichtig für das Wachstum. Das ist für die ökonomische und technologische Zukunftsfähigkeit Deutschlands und natürlich auch im Hinblick auf den Zusammenhalt wichtig.
Was machen wir dazu? – Das Erste ist: Wir haben auch mit der Wachstumsinitiative verbunden sehr konkrete Schritte auf den Weg gebracht, die an den Themen sehr konkret arbeiten, um die es geht, wenn wir das Beschäftigungspotenzial in Deutschland maximal ausnutzen wollen. Dazu zählt erstens, dass wir gesagt haben, wir wollen sicherstellen, dass diejenigen, die fleißig sind und deshalb Mehrarbeitszuschläge bekommen, diese vergünstigt erhalten. Zweitens haben wir gesagt, dass wir angesichts der unglaublich hohen Teilzeitquote in Deutschland Anreize unterstützen wollen, Teilzeitarbeit zu verändern und mehr Stunden zu arbeiten. Wenn Arbeitgeber an ihre Beschäftigten Prämien dafür zahlen, dass sie den Vertrag ändern, dann wollen wir das steuerlich und sozialversicherungsrechtlich begünstigen. Wir haben uns gleichzeitig ganz genau angeschaut: Welche Hürden existieren, die verhindern, dass Frauen und Männer, die das gerne wollen, über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus weiterarbeiten können? Deshalb werden wir das mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen begleiten, die es für Arbeitgeber einfacher machen, Leute länger zu beschäftigen oder auch Rentnerinnen und Rentner neu einzustellen. Deshalb werden wir das machen, indem wir das für die Beschäftigten, die oberhalb des Renteneintrittsalters sind, attraktiver machen. Zum Beispiel haben wir uns auch überlegt: Wie kann man es für Witwen attraktiver machen, zu arbeiten?
Dann wissen wir, dass das alles nur gelingt, wenn wir auch Arbeitskräfte nicht nur aus der Europäischen Union im Rahmen der Freizügigkeit in Deutschland in den Arbeitsmarkt bekommen, wie in den letzten Jahren, was uns gerettet hat, sondern wenn das auch darüber hinaus der Fall ist. Deshalb haben wir unsere Arbeitskräfte-Zuwanderungsstrategie entwickelt, die dazu beitragen kann, dass Deutschland vielleicht eines der Länder in Europa sein wird, in dem die prognostizierte Gefahr, dass der Wohlstand durch den Rückgang der Erwerbstätigen gefährdet ist, vermieden werden kann. Die Gesetze sind da. Wir arbeiten jetzt an einer möglichst umfassenden, einfachen, unbürokratischen Umsetzung. Wir haben auch im Wachstumspaket noch einmal vorgesehen, dass wir deshalb zum Beispiel auch über Leiharbeitsfirmen, wenn es tariflich gebundene Strukturen sind, die Möglichkeit der Anwerbung solcher Arbeitskräfte erleichtern, damit das unserem Arbeitsmarkt nützt.
Dazu gehört natürlich auch immer, dass man durch aktive Arbeitsmarktpolitik diejenigen, die arbeitslos sind und Bürgergeld beziehen, aktiviert. Deshalb haben wir sehr viele konkrete Maßnahmen in unserer Wachstumsinitiative vorgesehen, die ermuntern, eine Beschäftigung aufzunehmen, um es etwas freundlicher zu sagen. Das kann man auch anders formulieren. Letztendlich werden zum Beispiel auch Sanktionen und Meldepflichten verschärft, sodass jeder auch ständig mit seinem Jobcenter in Berührung bleibt und man nachfragen kann: Was ist denn nun? Wo ist dein neuer Arbeitsplatz? Was hast du angenommen? - Das halte ich für richtig.
Wir haben gleichzeitig auch ganz konkret noch einmal weitere Schritte zur Verschärfung der Kontrolle von Schwarzarbeit vor. Denn man kann es ja nicht hinnehmen, dass jemand sowohl öffentliche Leistungen bezieht als auch ein Einkommen hat. Dagegen muss vorgegangen werden. Der erste große Schritt war die in der letzten Legislaturperiode von mir durchgesetzte Neuaufstellung des Zolls mit sehr harten Sanktionen, die damit verbunden sind, und mehr Handlungsmöglichkeiten. Der nächste Schritt wird das sein, was wir jetzt vorhaben, dass wir das noch einmal präziser fassen, sodass wir möglichst an alle herankommen, die so etwas machen.
Das ist also ein sehr umfassendes Programm, um sicherzustellen, dass Deutschland eine gute Zukunft hat, weil wir die hohe Zahl von Beschäftigten, die wir für unseren Wohlstand brauchen, aufrechterhalten können, wahrscheinlich dann im Gegensatz zu fast allen unserer Nachbarländer.
Frage: Herr Bundeskanzler, das Oberverwaltungsgericht Münster hat einem Syrer den Flüchtlingsstatus beziehungsweise den Status als subsidiärer Flüchtling verweigert mit einer Feststellung, mit der sich die Politik seit Jahren schwertut, dass es nämlich in Syrien durchaus Regionen gibt, in die man potenziell abschieben könnte. Was ändert dieses Urteil aus Ihrer Sicht an der bisherigen Praxis oder vielmehr Nicht-Praxis von Abschiebungen nach Syrien?
Bundeskanzler Scholz: Ich habe das Urteil mit Interesse gesehen. Das unterstützt die Haltung der Bundesregierung und auch die Haltung des Bundeskanzlers, die sehr klar ist. Ich habe öffentlich gesagt: Wir werden Abschiebungen insbesondere von Straftätern nach Afghanistan, aber auch in andere Länder wie Syrien durchführen und bereiten vor, dass das auch tatsächlich geschieht. Sie verstehen sicherlich, dass wir über diese nicht ganz unkomplizierten Vorgänge nicht jeden Tag öffentlich reden. Aber wir arbeiten ganz präzise daran, dass Sie zum Beispiel bald auch über Abschiebungen berichten können, die nach Afghanistan konkret durchgeführt worden sind.
Im Übrigen ist es ja in solchen Fällen wie denen, über die das Gericht jetzt geurteilt hat, auch ganz offensichtlich: Da hat sich jemand als Schleuser betätigt. Der kann hier keinen Schutz haben. Wer als Schleuser tätig ist, kann selbstverständlich auch nach Syrien zurück.
Zusatzfrage: Etliche EU-Staaten setzen sich für diplomatische Beziehungen zu Syrien, also auch zum Regime von Assad, ein. Sie haben sich dieser Initiative nicht angeschlossen. Passt das nicht? Ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Sie sagen, dass Sie Abschiebungen durchführen wollen?
Bundeskanzler Scholz: Ich finde, man sollte sich niemals kompromittieren. Das schlagen Sie ja offensichtlich auch nicht vor. Jedenfalls schätze ich Sie nicht so ein, dass Sie solch ein Mensch sind, der gerne auch unmoralische Dinge tut. Wir haben uns fest vorgenommen, dass wir solche Abschiebungen und Rückführungen durchführen. Das ist die Klarheit in der Frage, die wir im Bereich von irregulärer Migration und in der Umsetzung unserer geltenden Gesetze brauchen. Wie die Europäische Union ihre Beziehungen zu anderen Staaten in Bezug auf internationale Politik aufstellt, kann sich nicht an dieser konkreten Teilfrage entscheiden. Aber das hält uns ja auch nicht davon ab, das Richtige zu tun und zum Beispiel zu sagen: Wir wollen solche Rückführungen auch tatsächlich durchführen können.
Vielleicht darf ich das bei dieser Gelegenheit und wegen Ihrer Frage auch noch kurz ausführen. Ich habe es eben schon gesagt: Deutschland wird nur dann ein wohlhabendes, reiches Land bleiben, wenn es genügend Arbeitskräfte hat. Dazu müssen wir alle mobilisieren, die hierzulande erwerbstätig sein wollen, und dürfen auch niemand damit durchkommen lassen, dass er sich einen bequemen Lenz macht. Aber gleichzeitig ist es so, dass wir selbstverständlich Arbeitskräfte aus anderen Staaten brauchen, die hier gut hineinpassen, die etwas können, die anpacken wollen und die fleißig sein wollen. Das hat uns die letzten Jahrzehnte gerettet. Das kann uns auch in der Zukunft, anders als andere Länder, stabilisieren. Aber das alles setzt immer voraus, dass man überhaupt keine Zweifel daran lässt, dass die irreguläre Migration begrenzt werden muss, dass die Zahl derjenigen, die auf diese Weise hierherkommen, reduziert werden muss und dass wir die Verfahren in Deutschland massiv beschleunigen müssen.
Deshalb habe ich entschieden, dass wir mit dem Schlendrian und dem Aufgeben, das die letzten Jahrzehnte geprägt hat, Schluss machen. Denn dass so viele unterschiedliche Ebenen für die Fragen zuständig sind, die sich zum Beispiel mit der irregulären Migration verbinden, hat ja ein bisschen dazu geführt, dass alle gedacht haben: Wenn ich jetzt etwas mache, ändert das an der Gesamtlage eigentlich gar nichts. - Das haben wir überwunden. Es wird - jedenfalls überwiegend - nicht mehr mit dem Finger aufeinander gezeigt – von ein paar Sonntagsinterviews einmal abgesehen -, sondern es geht ganz konkret um die Frage Digitalisierung der Ausländerbehörden. Es sind ganz harte Prozesse mit den, ich glaube, über 600 Ausländerbehörden und den Ländern im Gange. Es geht darum, dass wir die Dauer der Verwaltungsgerichtsverfahren reduzieren. Rheinland-Pfalz ist bei unter sechs Monaten, einige Länder bei 30 – dabei kann es nicht bleiben. Alle müssen unter sechs Monate kommen. Es geht darum, dass wir das BAMF gut ausstatten, die Prozesse digitalisieren und schnelle, zügige Entscheidungen möglich machen. Es geht darum, dass wir in Europa anders zusammenarbeiten, zum Beispiel mit der GEAS-Reform. Es geht darum, dass wir mit Ländern vereinbaren, dass sie ihre Bürger zurücknehmen, indem wir einerseits legale Wege der Zuwanderung in unseren Arbeitsmarkt, die wir brauchen, für die Leute, die wir haben wollen, möglich machen. Vielleicht darf ich diese Frage, die gestellt wird, auch einmal beantworten: Dürfen wir uns aussuchen, wer nach Deutschland kommt? – Die Antwort lautet: Ja. Gleichzeitig sagen wir aber: Wer nicht bleiben kann, muss gehen. – Offenheit und Klarheit, das gehört zusammen.
Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben die Beschlüsse der Ampel aufgeführt und sie für gut befunden. Wie erklären Sie sich, dass die SPD als Volkspartei im Moment bei Wahlen und in Umfragen so schlecht dasteht, obwohl sie den Bundeskanzler stellt? Wie sehr schmerzt Sie das auch?
Bundeskanzler Scholz: Umfrageergebnisse, die nicht gut sind, sind ein Ansporn, bessere Umfrageergebnisse erreichen zu wollen. Deshalb ist es für mich ganz klar: Wir müssen durch Taten überzeugen, durch das, was wir machen und was wir gemacht haben, und durch Klarheit: zum Beispiel die Klarheit, die wir gezeigt haben, als es darum ging, in Deutschland einen Mindestlohn einzuführen und ihn auf zwölf Euro zu erhöhen und dafür zu sorgen, dass er auch weiter steigt; die Klarheit, die wir gezeigt haben, um möglich zu machen, dass Leute mit geringem Einkommen, die fleißig sind, mehr vom Netto behalten, nicht nur durch steuerliche Maßnahmen, sondern auch im Sozialversicherungsrecht; und die Klarheit, die man braucht, wenn wir sagen, wir garantieren allen eine stabile Rente und wenden uns auch gegen diejenigen, die zum Beispiel die Rente für langjährig Versicherte madig machen wollen. Das ist für mich ein Punkt, über den in Deutschland sehr hart diskutiert werden muss. Ich lade auch alle ein, das zu tun. Das ist nämlich die Rente für langjährig Versicherte. 45 Jahre muss man dafür gearbeitet haben. Einer wie ich, der studiert hat, kann diese 45 Jahre vor der gesetzlichen Regelaltersgrenze gar nicht erreichen. Deshalb kann es doch nicht sein, dass lauter Leute, die wie ich studiert haben, politisch daherreden und beschließen, dass Leute, die mit 16 angefangen haben zu arbeiten, ein Privileg besäßen, wenn sie nach 45 Versicherungsjahren zwei Jahre früher ohne Abschläge in Rente gehen wollen. Ich finde, das steht denen nach so vielen fleißigen Lebensjahren auch zu.
Zusatzfrage: Ich hatte ja gefragt, wie Sie sich erklären, dass die SPD so schlecht dasteht, obwohl ja alles, was Sie gesagt haben, bekannt ist. Warum wählen die Menschen die Volkspartei SPD sehr viel weniger - bei der Europawahl, wie es Umfragen vorhersagen oder wie Sie und Ihre Partei in Umfragen taxiert werden? Wie erklären Sie sich, dass die Sympathie für die Partei und ihren Bundeskanzler sinkt?
Bundeskanzler Scholz: Meine Überzeugung ist, dass wir die Sache, wenn es wieder zu Wahlen für den Deutschen Bundestag kommt, gedreht bekommen haben. Das wird auch das sein, was ich die ganze Zeit vorantreibe. Das hat natürlich etwas damit zu tun, glaube ich, dass man sagen kann und sagen wird können: Wir haben in Zeiten, in denen es viel Unsicherheit gegeben hat und in denen es große Gefahren gab, die auf Deutschland zugekommen sind, die richtigen Entscheidungen getroffen. Damit Deutschland eine gute Zukunft hat, muss man den Kurs, der auf Modernisierung und Zusammenhalt gerichtet ist, auch entsprechend weiterführen. Ich hoffe, dass es gelingt, alle davon zu überzeugen. Das ist in der Demokratie so, dass man darauf hoffen darf und darum werben kann und damit auch Erfolg haben kann, wie bei der letzten Bundestagswahl.
Frage: Herr Bundeskanzler, ich habe zwei Nachfragen. Eine ist zu der Frage der Kanzlerkandidatur, die eben schon so gut bei Ihnen angekommen ist. In dieser Woche hat es eine Umfrage gegeben, nach der nur noch ein Drittel der SPD-Mitglieder finden, dass Sie der beste Kanzlerkandidat der SPD sind. Wie erklären Sie sich das?
Die andere Nachfrage ist zur US-Wahl. Sie haben sich ja schon lobend zu Kamala Harris geäußert. Mich würde interessieren, ob es auch etwas gibt, das Sie an Donald Trump schätzen oder vielleicht sogar bewundern.
Bundeskanzler Scholz: Zunächst einmal habe ich Umfragen eigentlich noch nie kommentiert, weder die guten noch die anderen. Ich weiß aber, dass die SPD sehr geschlossen hinter dem steht, was ich mache, und dass wir auch als Führung sehr eng zusammenhalten. Es hat wahrscheinlich noch nie eine so geschlossene SPD gegeben wie die, die wir schon vor der Bundestagswahl miteinander aufgestellt haben. Sie hat es geschafft, in einer schwierigen Ausgangslage die letzte Bundestagswahl zu gewinnen. Deshalb ist auch die Lehre und die Einsicht in der ganzen SPD: Wir bleiben geschlossen und verfolgen unseren Kurs. – Darauf kann auch jeder festsetzen, wenn er Prognosen darüber abgeben will, was wir machen und wie wir vorangehen.
Was die Frage der amerikanischen Präsidentschaftswahl betrifft, habe ich eingangs schon gesagt: Ich finde, wir sollten uns hier ein bisschen zurückhalten. Das entscheiden die Amerikanerinnen und Amerikaner. Wir sind natürlich total am Ausgang dieser Wahlen interessiert. Das ist die Supermacht. Das ist das mächtigste Land der Welt. Was da geschieht, ist von größter Bedeutung für alle Länder der Welt und natürlich ganz besonders für die engsten Verbündeten der USA in Europa und in Deutschland. Deshalb ist für mich klar, dass wir den transatlantischen Kurs fortsetzen müssen, wie wir das in der Vergangenheit gemacht haben, und dass das nicht davon abhängen kann, wer Präsident der Vereinigten Staaten ist. Unsere Position muss da klar sein.
Frage: Herr Scholz, vor zwei Monaten sagten Sie: Ohne Pressefreiheit gibt es keine Demokratie. – Innenministerin Faeser hat nun das rechtsextreme Medium „COMPACT“ durch das Vereinsrecht verboten. Viele Juristen und Journalisten in Deutschland aus jeglichen Lagern sehen dies als Zensur oder Gefahr für die Pressefreiheit. Der renommierte Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler meint sogar, Nancy Faeser umgeht mit diesem Trick die Pressefreiheit bei einem regierungskritischen Medium. Geehrter Herr Bundeskanzler, deshalb die Frage: Sind extreme Meinungen in Deutschland nun etwa nicht mehr erlaubt?
Bundeskanzler Scholz: Zunächst einmal unterstreiche ich, was Sie eingangs gesagt haben: Die Pressefreiheit ist für die Demokratie in Deutschland von allergrößter Bedeutung. Sie werden mich immer als großen Vorkämpfer für die Pressefreiheit finden, und zwar ganz unabhängig davon, wie die Berichterstattung gerade so ist. Allen hier im Raum und allen in der Öffentlichkeit steht zu, dass man sich für sie einsetzt, unabhängig davon, wie man zueinandersteht. Ich glaube, das ist für unsere Demokratie ganz zentral.
Das Zweite ist: Es gibt natürlich Meinungen, die in Deutschland verboten sind, zum Beispiel die Verherrlichung des Nationalsozialismus und antisemitische Aktivitäten. Es gibt auch strafbare Äußerungen. Das ist das eine Feld. Dann gibt es natürlich rechtsstaatliche Verfahren, in denen geprüft wird, ob Organisationen mit den Gesetzen, die in Deutschland gelten, im Einklang handeln. Das Schöne in Deutschland ist ja: Es ist ein Rechtsstaat. Wer anderer Meinung ist, kann vor Gericht gehen. Aber wir alle können davon ausgehen, dass die Behörden, wenn sie solche Entscheidungen wie in diesem konkreten Fall treffen, das sehr sorgfältig vorbereitet haben, alle möglichen rechtlichen Fragen geprüft haben und deshalb die Entscheidung nicht mal so eben getroffen haben, sondern aus Gründen und für sie guten Gründen.
Zusatzfrage: Ich habe dazu eine Nachfrage. Denn im Presserecht gibt es ja per se keine Schließung von Redaktionshäusern - deswegen ja dieses Verbot durch ein Vereinsrecht. In diesem Argumentationspapier von Frau Faeser befindet sich eben nicht, dass von „COMPACT“ Gewalt ausgeht. Stattdessen reiche demnach eine kämpferische, aggressive Haltung. Deswegen möchte ich Sie bitte noch einmal fragen: Werden nun also schon extreme Haltungen statt extremer Taten verboten? Ist es nicht eine Gefahr für die Meinungs- und Pressefreiheit, die ja in Deutschland tatsächlich sehr weit reicht?
Bundeskanzler Scholz: Richtig, die Pressefreiheit reicht sehr weit in Deutschland. Deshalb kann man sich auch auf das ganze rechtliche System in Deutschland, den Rechtsstaat und seine Funktionsfähigkeit, verlassen. Gleichzeitig gibt es, wie ich eben schon gesagt habe, Straftaten, die man nicht begehen darf. Das ist etwas, was auch zu berücksichtigen ist. Ich will das noch einmal sagen: Zur Pressefreiheit gehört, dass man aus Sicht aller anderen viel Quatsch sagen kann und dadurch nicht beeinträchtigt wird. Aber es gibt Grenzen, über die man nicht hinweggehen kann. Wie gesagt, es gibt sehr gute rechtsstaatliche Verfahren, die all diese Fragen verhandeln.
Frage: Herr Bundeskanzler, ich werde es noch einmal mit Frau Vizepräsidentin Harris probieren. Sie haben sie in den letzten Monaten, glaube ich, ein paar Mal erlebt. Können Sie einfach wertfrei sagen, wie Sie sie als Politikerin erlebt haben, die sozusagen im internationalen Raum tätig ist?
Bundeskanzler Scholz: Ich habe mich, wie Sie zu Recht erwähnen, mehrfach mit Frau Harris getroffen und mit ihr bei verschiedenen Gelegenheiten auch sehr ausführlich gesprochen. Ich will deshalb gern wiederholen, was ich auch schon gesagt habe: Das ist eine kompetente und erfahrene Politikerin, die genau weiß, was sie tut, und die sehr klare Vorstellungen von der Rolle ihres Landes, von den Entwicklungen in der Welt und auch von den Herausforderungen, vor denen wir stehen, hat. Sie macht das auch sehr aus sich heraus. Ich führe ja auch viele vertrauliche Gespräche. Für mich ist es immer wichtig, einen Eindruck zu bekommen, ob jemand das sagt, was ihm vorbereitet worden ist, oder ob es ein Gespräch gibt, in dem man eigenständig seine Ansichten vorträgt und das auch in einem gewissen Austausch miteinander vorangetrieben werden kann. Diesen Eindruck hatte ich. Sie weiß, was sie will und was sie kann.
Frage: Herr Bundeskanzler, das ist ja hier traditionell sozusagen auch eine Bilanzierung eines – Ihres dritten – Regierungsjahres. Was würden Sie im Rückblick sagen, was war Ihr größter Erfolg und Ihr größter Misserfolg in dem zurückliegenden Jahr?
Bundeskanzler Scholz: Zum Jahreswechsel sind wir durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herausgefordert worden, in der, wie jetzt alle in allen 16 Ländern nach und nach merken, weitreichende Aussagen über das konkrete Thema hinaus, das öffentlich verhandelt wurde, getroffen worden sind. Ich bin ganz froh darüber, dass wir es aber geschafft haben – ich denke, für viele fast unerwartet –, einen Haushalt auf den Weg zu bringen und ihn zu beschließen, und dass wir das mit dem Haushaltsentwurf fortgesetzt haben.
Noch mehr bin ich darüber froh, dass wir mit dem Entwurf des Haushaltes, den die Bundesregierung an das Parlament geleitet hat, im Prinzip vermieden haben, einen schlimmen Fehler zu begehen, Dinge gegeneinander auszuspielen. Ich habe das Gefühl, dass wir in Zeiten leben, in denen Diskussionen um sich greifen, die man als Nullsummendenken begreifen kann, nicht nur in Deutschland. Auch in Europa und den USA ist das ein zentrales Thema. Alle denken: Wenn der andere etwas bekommt und man dafür etwas ausgibt, dann gibt es weniger für die Sache, die mir wichtig ist. – Natürlich muss man mit seinem Geld auskommen. Das ist richtig. Aber eine im Prinzip so wenig zuversichtliche Haltung darf nicht die Politik bestimmen. Wir müssen davon ausgehen, dass wir Wachstumsprozesse initiieren können. Wir müssen davon ausgehen, dass wir ein besseres Leben erreichen können und darüber gemeinsam mehr bekommen und dass wir nicht alle nur einen Kuchen haben, der immer gleich groß bleibt, egal wie die Jahre weitergehen, sondern dass wir es durch das, was wir tun, besser hinbekommen können.
Das ist mit den Entscheidungen jetzt verbunden. Wir haben es geschafft, eine Wachstumsinitiative für mehr Arbeitsplätze und für technologische Modernisierung auf den Weg zu bringen. Wir haben es geschafft, dass wir in unsere Infrastruktur investieren können, und zwar in umfassendem Maße. Wir haben es geschafft, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter vorangebracht werden kann und der Sozialstaat die Demokratie in Deutschland weiterhin stabil hält und die Lebensperspektiven so vieler Bürgerinnen und Bürger sichert, die - das muss man ausdrücklich sagen - dafür auch eingezahlt haben, und dass wir gleichzeitig neue Aufgaben bewältigen können: mehr Geld für die Bundeswehr, Unterstützung der Ukraine. Das ist schon etwas in sehr rauen Zeiten.
Zusatzfrage: Was sagen Sie zum zweiten Teil der Frage, zu Ihrem größten Fehler in diesem Jahr? Was hätte man besser - - -
Bundeskanzler Scholz: Ich dachte, ich hätte damit begonnen, als Problem, das uns als erstes begegnet ist.
Zusatzfrage: Das lag ja noch weiter zurück, als sozusagen der Fehler gemacht wurde.
Meine Nachfrage passt zum wichtigsten Bündnispartner, der Supermacht USA. Kolleginnen und Kollegen von Ihnen, Herr Bundeskanzler, haben sich direkt bei Donald Trump gemeldet. Von Ihnen ist das nicht bekannt. Sie haben auf X gepostet, dass Sie von dieser erschüttern Tat seien, von dem Attentat. Haben Sie sich bei Donald Trump gemeldet? Wenn nicht, warum nicht?
Bundeskanzler Scholz: Ich habe als Regierungschef immer Beziehungen zu den Ländern, mit denen wir Kontakte haben. Ansonsten pflegen wir natürlich sehr viele umfassende Kontakte in andere Länder, immer im gebotenen Rahmen. Zum Beispiel war ich auf meinem jüngsten Besuch in den Vereinigten Staaten zusammen mit dem neuen britischen Premierminister und den beiden neuen Nato-Staaten Finnland und Schweden beim Senat eingeladen und habe mit Vertretern beider Parteien noch einmal sehr ausführlich gesprochen. Das ist übrigens eine Sache, die einen konstanten Dialog beinhaltet.
Selbstverständlich gibt es im Rahmen der Tatsache, dass man als Regierungschef mit Regierungen zu kommunizieren hat, immer auch die Möglichkeit für Kontakte, die daneben stattfinden. Diese dürfen nur die Tatsache, dass ich mit Regierungen zu handeln habe, nicht infrage stellen. Aber es gibt immer die Möglichkeit, das fortzusetzen.
Im Übrigen kenne ich den früheren Präsidenten Trump auch aus anderen Begegnungen in der Vergangenheit. Das werden wir fortsetzen, übrigens egal wie es in den USA weitergeht.
Frage: Herr Bundeskanzler, zur Migrationspolitik. Sie haben eben gesagt: Wir müssen uns aussuchen können, wer zu uns kommt. – Die Realität ist eine andere. Sie haben im Oktober 2023 auch gesagt: Wir müssen endlich im großen Stil abschieben. – Auch diesbezüglich ist die Realität offenkundig noch eine andere.
Wann wird es in diesen beiden Fällen soweit sein? Wann wird Deutschland soweit sein, dass man sich tatsächlich aussuchen kann, wer zu uns kommt, und zwar in der Mehrheit, und wann wird es soweit sein, dass wir im großen Stil abschieben, und was bedeutet das dann zahlenmäßig?
Bundeskanzler Scholz: Ausdrücklich schönen Dank für die Frage! Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was ich vorhin gesagt habe. Ich meine es sehr parteiübergreifend. Bevor ich Kanzler wurde, wurde über die Frage, wie man mit dem Management der irregulären Migration umgeht, überwiegend öffentlich geredet und wenig praktisch gehandelt. Das, was wir jetzt geändert haben und worauf ich bestanden habe, ist, dass etwas praktisch getan wird.
Dazu muss man Gesetze ändern. Wir haben zum Beispiel ein Jahr lang mit den Ländern sehr viele konkrete Gesetzesveränderungen verhandelt, die zum Beispiel Rückführungen erleichtern, und setzen sie jetzt um. Deshalb sehen wir bei den Rückführungen, bei den Abschiebungen, jetzt eine Steigerung um 30 Prozent. Das ist gewollt, und das soll auch so weitergehen. Deshalb haben wir zum Beispiel ganz praktisch entschieden, Grenzkontrollen zu machen. Deshalb haben wir uns ganz praktisch dafür eingesetzt, dass die Verwaltungsabläufe in den über 600 Ausländerbehörden, die ja für die Abschiebung zuständig sind, digitalisiert werden. Deshalb unterstützen wir sie mit den Möglichkeiten, die wir haben.
Deshalb haben wir mit der Idee aufgeräumt, dass das alles gar nichts nutzen würde, weil das, egal was man macht, am Ende immer eine unlösbare Aufgabe bleiben würde. Das ist die eigentliche Veränderung, und an der werden wir weitermachen. Denn ich bin überzeugt: Wenn die Verfahren schneller sind und es schneller durch ist, dann gibt es weniger Verfestigung, bei denen man nicht mehr weiß, wie es geht.
Wenn wir mit anderen Regierungen immer wieder ganz offen über alle Fragen reden, dann ist das möglich. Das haben wir getan, die Ministerin und auch ich. Wir haben mit Regierungen über die Frage gesprochen, wie ihr Visaregime ist, wenn bei ihnen Menschen ganz legal im Flughafen einreisen und sich dann, nachdem sie den Flughafen verlassen haben, irgendwo bei einem Schleuser melden um sich über irgendeine Route nach Deutschland zu begeben.
Das sind die Punkte. Deshalb können Sie sicher sein: Anders als früher haben wir diese Aufgabe angepackt und werden damit auch nicht wieder aufhören. – Deshalb werden wir konstant bessere Ergebnisse erzielen. Das ist für unser Land notwendig, und dazu bekenne ich mich.
Das gilt für das Thema der Planungsbeschleunigung, über das zu reden wir vielleicht nachher noch Gelegenheit haben werden, aber auch für diese Sache: Dadurch, dass es im föderalen Staat so viele gibt, die zuständig sind, gibt es im Realen irgendwann gar keinen mehr, der zuständig ist. – Das muss man ändern, indem man sich unterhakt. Diesen Prozess haben wir, denke ich, erreicht, und deshalb werden die Fortschritte auch größer sein.
Ich schaue mir jeden Tag an, wie viele Ukrainer nacherfasst worden sind. Ich schaue mir ständig an, wie es mit den Rückführungen ist. Ich schaue mir an, wie die Zuflusszahlen für verschiedene Länder sind. Ich schaue mir an, wie sich die Verfahren beim BAMF und in den verschiedenen Ländern beschleunigen. Gibt es genug Abschiebehaftplätze? Welche Länder müssen noch einige bauen? Was können wir machen, damit das alles funktioniert? Ich denke, das ist genau das Richtige. Nicht nur übereinander meckern, sondern handeln, das soll meine Devise sein.
Frage: Herr Bundeskanzler, die BMZ-Ministerin Svenja Schulze ist in diesem Moment in Brasilien, in Rio de Janeiro, bei dem Treffen der G20-Entwicklungsministerinnen. Als Vertreter der G20-Präsidentschaft von Brasilien hat Lula da Silva eben die Agenda gegen Hunger und gegen Armut direkt als Agendapunkt gesetzt. Unter diesen Themenkomplex fällt auch der Vorschlag des brasilianischen Finanzministers, Superreiche zu besteuern. Wie viel Überzeugungsarbeit werden Sie in Ihrem Bundeskabinett bei dem Finanzminister leisten, um ihn davon zu überzeugen, dass dieses Vorhaben der globalen Allianz eine gute Sache ist? Er ist ja bekannt dafür, dass er eine Aversion gegen Steuererhöhungen hat.
Bundeskanzler Scholz: Klar ist er dafür bekannt. Auch manche Steuerpflichtige finden es nicht jeden Tag super. Aber unabhängig von dieser Frage ist das, was die brasilianische Politik dort ins Gespräch gebracht hat, die Thematisierung einer großen Herausforderung, vor der die Weltgemeinschaft steht. Allerdings, denke ich, vermutet wahrscheinlich auch in Brasilien niemand, dass es darüber in der nächsten Zeit eine internationale Verständigung geben wird.
Zusatzfrage: Was werden Sie bei dem G20-Staatscheftreffen im November in Rio de Janeiro im Gepäck haben? Was bringen Sie aus deutscher Sicht im Gepäck mit?
Bundeskanzler Scholz: Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass wir eine neue Politik entwickeln, eine neue Nord-Süd-Politik, dass wir versuchen, auf Augenhöhe mit den Staaten auch des globalen Südens zu reden. Das hat gut funktioniert, und das werden wir kontinuierlich fortsetzen. Im Augenblick sind sie alle noch sehr auf die USA, auf China, auf Russland und irgendwie die EU fixiert. Aber das wird sich ändern. Es gibt jetzt schon mächtige Staaten, die neu auf die Weltbühne treten. Deshalb ist es richtig, dass wir jetzt gut miteinander kooperieren. Brasilien ist solch ein Land, auch Südafrika. Nigeria wird es sicherlich sein. Wir sehen Indonesien und Indien. Man könnte noch viele, viele weitere Staaten nennen, die Player sein werden, Mitspieler in dem, wo über die Zukunft der Welt beredet wird.
Wenn Deutschland und Europa jetzt einen Beitrag dazu leisten können, dass das fairer zugeht, dann werden wir davon auch dann profitieren, wenn viele dieser Länder noch an Bedeutung gewonnen haben werden, in zehn oder 20 Jahren, weil wir das lange und auch mit einer gewissen Konsistenz vorangetrieben haben. Das ist unsere Politik.
Frage: Herr Bundeskanzler, wie weit beschäftigt Sie die Frage, dass im Bundeshaushalt 2025 noch ein milliardenschweres Loch klafft? Was passiert, wenn die Prüfung, ob die vom Kanzleramt vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich verfassungsrechtlich umsetzbar sind, die Ihr Finanzminister angeregt hat, zu einem negativen Ergebnis kommt?
Bundeskanzler Scholz: Der Haushalt ist gemeinsam von der Regierung beschlossen und natürlich besonders vom Bundeskanzler, vom Finanzminister und auch vom Wirtschaftsminister getragen worden. Dazu zählt auch, dass wir bestimmte Aufträge gemeinsam formuliert haben, um zusätzliche Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir es schaffen werden, die Probleme, die sich uns stellen, entlang dem zu lösen.
Erst einmal ist es bemerkenswert, dass wir überhaupt so weit gekommen sind. Deshalb habe ich darauf bestanden, dass wir uns so lange unterhalten, bis es ein Ergebnis gibt. Dieses Ergebnis ist erzielt worden. Das war mein Ziel als Kanzler, und das hat geklappt.
Zusatz: Aber noch gibt es ja Löcher.
Bundeskanzler Scholz: Erst einmal ist das ein Haushalt, den die Bundesregierung beschlossen hat und in dem alle Positionen ordentlich verbucht sind. Wir haben weitere Aufgaben, die wir lösen wollen. Das haben wir nicht aus Daffke getan, sondern weil wir sie für lösbar halten, gemeinsam, alle.
Frage: Herr Scholz, Sie sagten, Sie wollten es schaffen, die Stimmung zu drehen. Müssten Sie dazu Ihre Politik nicht auch besser erklären? Ich will auf das Beispiel der Mittelstreckenraketen zurückkommen. Offenbar hat Herr Mützenich nicht ganz nachvollziehen können, was Ihre Gründe waren. Er sagte, die Nato verfüge bereits über eine umfassende gestufte Abschreckungsfähigkeit, und sieht keine Gründe dafür, sie noch weiter aufzustocken. Sie haben jetzt die Gelegenheit, noch einmal zu erklären, warum Sie diesbezüglich anderer Meinung sind und warum solche Waffen allein in Deutschland stationiert werden sollen.
Bundeskanzler Scholz: Ich habe, wie einige von Ihnen schon öfter einmal geschrieben oder berichtet haben, die Politik, die ich mache, doch schon sehr viel öffentlich vertreten. Jetzt, da man sieht, dass wir bestimmte Entscheidungen auf den Weg gebracht haben, was die Modernisierung unserer Volkswirtschaft, das Tempo und Ähnliches betrifft, wird das, denke ich, auch einfacher gelingen. Denn wenn alles noch offen und nicht bereits das Meiste entschieden ist, ist das viel komplizierter.
Ansonsten setze ich mich gern oft hierhin und erkläre alle Dinge. Ich bin deshalb auch noch einmal dankbar für die Frage. Wir brauchen mehr Schutz durch eine ausreichend ausgerüstete Bundeswehr und eine gut aufgestellte Nato. Dabei werden Landes- und Bündnisverteidigung eine neue Rolle spielen, anders als in den vielen Jahren nach 1990, als viele dachten, das Wichtigste, was man können müsse, seien Out-of-area-Einsätze irgendwo weit weg von Europa, aus Gründen. Auch das müssen wir unverändert können, aber wir müssen - das lehrt uns spätestens der Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat – immer in der Lage sein, unser Territorium, das der Nato, das Deutschlands, zu verteidigen. So stellen wir die Bundeswehr auf.
Neben dem, was wir an Panzern machen, mit einer besseren Logistik, mit der Frage der Entwicklung von Infrastrukturen, die man braucht, um die Verteidigung auch wirklich organisieren zu können, neben der Brigade in Litauen, neben dem höheren Schutz der Ostflanke, neben mehr Aktivitäten, die wir in der Ostsee entfalten, und der Koordinierung von Nato-Aktivitäten, gehört dazu die Luftverteidigung. Diese ist, wie man am Ausmustern des Flakpanzers Gepard vor vielen Jahrzehnten gesehen hat, sträflich vernachlässigt worden. Wir bauen sie mit der European Sky Shield Initiative neu auf, an der wir viele beteiligen. Arrow 3, das Patriot-System, IRIS-T und die Skyranger, das tun wir nicht nur für uns, sondern mit anderen zusammen.
Aber ganz klar ist: Man kann nicht alles durch Verteidigung machen, sondern man muss andere davon abhalten, dass sie einen angreifen. Ich bin ein entschiedener Gegner der Auffassung, dass Deutschland Atomwaffen brauche. Das ist mit mir nicht zu machen, und das halte ich für völlig absurd. Aber das bedeutet natürlich, dass wir dann erst recht in der Lage sein müssen, über konventionelle Wirkmittel zu verfügen, die andere davon abhalten, uns anzugreifen.
Zusatzfrage: Hat Herr Mützenich also unrecht, wenn er sagt, dass die Nato bereits über umfassende und gestufte Abschreckungsmöglichkeiten verfüge?
Bundeskanzler Scholz: Gott sei Dank, verfügt die Nato bereits über eine sehr umfassende Fähigkeit, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Wenn man es richtig rechnet, stellt man, denke ich, fest, dass wir, alles zusammengenommen, mehr für Verteidigung aufwenden als zum Beispiel Russland. Wir kommen aber jetzt in die Notwendigkeit, das neu auszurichten und neu aufzustellen, damit es der veränderten Bedrohungslage gerecht wird.
Ich habe von einer Zeitenwende gesprochen. Die Zeitenwende liegt aus meiner Sicht darin, dass Russland einen Vertrag gekündigt hat, mehrere übrigens. Aber ich meine jetzt gar nicht die schriftlichen, sondern eine Verständigung, die existiert hat, dass zum Beispiel Grenzen mit Gewalt nicht verschoben werden. Das bedeutet für uns alle, dass wir uns auf gar nichts verlassen können und dass unsere eigene Kraft so groß sein muss, dass uns niemand angreift.
Deshalb werden wir mit dem, was wir haben, obwohl das schon ganz ordentlich ist – damit hat Rolf Mützenich völlig recht –, nicht auskommen, sondern müssen weitere Dinge tun. Ich komme gern auf das zurück, was ich vorhin gesagt habe. Man kann diese Frage von vielen Seiten beleuchten und muss das auch tun, aber am Ende bleibt im Kern die Notwendigkeit bestehen, das insgesamt stimmig zu machen, und dazu gehören sie mit dazu.
Vorsitzende Wolf: Unsere Türen sind offen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sich öfter hier hinsetzen und Ihr Regierungshandeln erklären wollen.
Frage: Herr Bundeskanzler, in der letzten Zeit gab es sehr viele Spekulationen über einen Austausch des sogenannten Tiergartenmörders, im letzten Fall auch in Bezug auf den in Belarus verurteilten Deutschen, unter meinen Kollegen auch auf einen amerikanischen Journalisten in Russland. Unter welchen rechtlichen und politischen Voraussetzungen würden Sie im Allgemeinen, nicht auf den Einzelfall bezogen, einen Austausch eines verurteilten Mörders befürworten, oder lehnen Sie dies grundsätzlich ab?
Bundeskanzler Scholz: Das ist in der Tat eine sehr schwierige Frage. Deshalb will ich Ihnen amtsbedingt antworten: Die Staatsräson verbietet es, über solche Fragen zu räsonieren.
Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben es schon gesagt. Der Haushaltsentwurf ist von den drei Ampelspitzen gemeinsam be- und entschieden worden. Ich möchte Sie trotzdem gern noch konkret fragen. Stimmt es, dass die Ideen für das Darlehen an Bahn und Autobahngesellschaft von Ihnen kamen?
Bundeskanzler Scholz: Wir haben gemeinsam Entscheidungen getroffen, und wir haben diese Fragen erörtert. Dabei sind viele, viele Themen miteinander besprochen worden. Ich stehe hinter jeder Entscheidung, die wir gemeinsam getroffen haben, und ich gehe davon aus, dass Ihnen das jeder andere in jedem Hintergrundgespräch bestätigen wird.
Zusatzfrage: Teilen Sie Herrn Mützenichs Einschätzung, dass es ungewöhnlich sei, dass sich ein Bundeskanzler so stark in die Aufstellung eines Haushaltes einbringen müsse, der ja eigentlich die Aufgabe des Finanzministers sei, oder sagen Sie: „In einer solchen Koalitionskonstellation geht das gar nicht anders“?
Bundeskanzler Scholz: Die Zeiten sind auch ungewöhnlich. Wir müssen die Dinge hinbekommen. Vielleicht darf ich das sagen: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.
Frage: Ich würde auch gern noch mal etwas zu den US-Mittelstreckenraketen wissen. Da gibt es eine interessante Parallele in der Historie. Anfang der 80er waren Sie ja selbst dabei, Nato-Doppelbeschluss. Die Stationierung ist am Ende dann doch nicht passiert, weil die Russen ihre SS-20 nicht stationiert haben. Nach dieser historischen Erfahrung frage ich mich: Was müssten die Russen denn diesmal tun, damit es nicht zu einer Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland kommt?
Bundeskanzler Scholz: Das finde ich eine sehr wichtige Frage; das will ich ausdrücklich unterstreichen. Deshalb habe ich vorhin schon darüber gesprochen. Das, was uns heute und schon seit langer Zeit passiert, ist der Ausstieg Russlands aus den Rüstungskontrollregimen, die wir im Rahmen der Entspannungspolitik mühselig entwickelt und aufgebaut haben, bei der Willy Brandt und Helmut Schmidt für uns in Deutschland eine ganz zentrale Rolle gespielt haben.
Natürlich ist das auch das große Problem, mit dem wir hier etwas zu tun haben. Als ich in Moskau war und an dem ellenlangen Tisch mit Putin gesprochen habe, habe ich gesagt, was ihm vorher auch schon der amerikanische Präsident gesagt hatte: Wir sind gern bereit, über Rüstungskontrolle zu reden. – Genauso wäre die Frage, wo welche Raketen stehen und was passiert, beredbar gewesen. Aber das alles hat ihn nicht interessiert. Es ist kein Geheimnis, das ich jetzt ausplaudern würde. Das hat Präsident Biden öffentlich gesagt, ich auch. Es hat ihn nicht interessiert, weil er unbedingt seinen lange vorbereiteten Krieg führen wollte. Das ist die Wahrheit. Das ist auch das Bedrückende, weil es in Wahrheit ganz klassisch um Landeroberung geht, um Vergrößerung des Territoriums.
Deshalb tun wir jetzt natürlich viel und beschaffen uns auch Stärken, Waffen, um uns verteidigen zu können. Aber die Perspektive, dass die Welt auch über Rüstungskontrolle redet, darf nie aufgegeben werden, übrigens nicht nur in Europa, wo uns das unmittelbar interessiert, sondern auch an vielen anderen Stellen. Aber gegenwärtig fehlen dazu die Gegenüber. Das ist die Wahrheit. Sie haben sich vielleicht einmal angeschaut, was alles in Kaliningrad herumsteht oder was jenseits der östlichen Grenze der Nato in Russland aufgestellt worden ist. Diese Dinge darf man nicht übersehen. Deshalb brauchen wir die Möglichkeit der Abschreckung auch, um in einer anderen Zeit wieder über Rüstungskontrolle reden zu können.
Zusatzfrage: Aber das war ja nicht die Frage. Ich hatte mich ja auf die Situation damals bezogen. Damals hat Kanzler Schmidt den Amerikanern ja den Doppelbeschluss abgerungen, dass es auch ein Verhandlungsangebot an die Sowjets gibt. Wie ist das denn jetzt diesmal? Was müssten die Russen tun – das wollen ja auch die Deutschen hier wissen – damit es nicht zu einer Stationierung von US-Mittelstreckenraketen kommt? Das haben Sie nicht beantwortet.
Bundeskanzler Scholz: Die Frage habe ich beantwortet. Aber ich will sie gern noch einmal beantworten. Das Erste, was Russland tun müsste, wäre es, den furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine einzustellen und den Versuch aufzugeben, das ganze Land erobern zu wollen. Das ist ja unveränderter Fall. Wie zynisch der russische Präsident agiert, kann man an dem Waffenstillstandsangebot sehen, das er vor einiger Zeit unterbreitet hat, sehen. Dabei hat er nicht nur gesagt „Waffenstillstand“, sondern auch noch: „Gib noch etwas ab!“, und zwar etwas, was noch gar nicht von seinen Truppen erobert worden ist. Das alles ist nicht ernst gemeint. Aber wir brauchen eine Situation, in der Russland diesen Krieg nicht mehr fortführt. In dem Zusammenhang wäre es das Allerbeste, wenn man auch gleich noch darüber spräche, wie man Sicherheit in Europa gewährleisten kann. Aber das alles ist ja zurückgewiesen worden.
Noch einmal: Vor dem Krieg war das ein Angebot, das die Nato, das der amerikanische Präsident, der deutsche Bundeskanzler und, wie ich weiß, auch der französische Präsident gemacht haben. Es ist aber alles zurückgewiesen worden, weil man unbedingt Krieg führen wollte.
Frage: Herr Bundeskanzler, meine Frage bezieht sich auf den Nahostkonflikt. Sie haben eben – korrigieren Sie mich, wenn ich Sie falsch verstanden habe – gesagt, dass das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs an der Haltung der Bundesregierung nichts ändere, dass es keinen Anlass gebe, Änderungen daran vorzunehmen. Gilt das auch für die militärische Unterstützung Israels? Konkret: Wird die Bundesregierung im Licht dieses Gutachtens und im Schatten des Krieges in Gaza weiterhin Waffen wie im letzten Jahr, unter anderem Munition, Panzerabwehrwaffen, an Israel liefern?
Bundeskanzler Scholz: Wir haben Israel Waffen geliefert, und wir haben keine Entscheidung getroffen, das nicht mehr zu tun. Aber wir entscheiden natürlich jedes Mal im Einzelfall.
Zusatzfrage: Heißt das, dass es weiterhin möglich bleibt? Heißt das, dass Israel damit rechnen kann, weiterhin Waffen von Deutschland zu bekommen?
Bundeskanzler Scholz: Um das dazuzusagen: Wir haben nicht immer all das, was man von uns gern hätte. - Aber unabhängig von dieser Frage: Wir haben keine andere Entscheidung getroffen.
Zuruf: Keine andere Entscheidung, als … (ohne Mikrofon, akustisch unverständlich)
Bundeskanzler Scholz: Wir haben nicht entschieden, dass wir keine Waffen liefern. Also werden wir und haben wir.
Frage: Herr Bundeskanzler, bei der Bilanzfrage eben ist mir der selbstkritische Teil in Ihrer Antwort ein bisschen zu kurz gekommen. Deswegen wollte ich Ihnen noch einmal die Chance geben - - -
Bundeskanzler Scholz: Ich bin echt verwundert!
Zusatz: Aber Sie wünschen sich zum Beispiel von uns Medien, dass wir ab und zu konstruktiv über Ihre Politik berichten. Deswegen würde ich den Wunsch spiegeln und sagen: Vielleicht geben Sie uns die Chance und einen Einblick, was Sie Ihrer Ansicht nach in den vergangenen Jahren hätten anders machen sollen.
Bundeskanzler Scholz: Ich glaube, dass es richtig war, eine Regierung zu bilden, die sich darum kümmert, die Zukunft Deutschlands in Angriff zu nehmen und den Schlendrian und den Stillstand der letzten Jahrzehnte zu überwinden. Ich glaube, dass es auch richtig war, dass wir nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine unser Land so aufgestellt haben, dass es die Ukraine unterstützt, und dass wir im Rahmen unseres Bündnisses gleichzeitig unsere eigene Verteidigungsfähigkeit stärken. Und ich glaube, dass es richtig war, dass wir deswegen nicht von der Agenda gelassen haben, dass Deutschland zusammenhalten muss und dass diejenigen, die hart arbeiten und oft nicht genug verdienen, unterstützt werden müssen, sondern diese Agenda, dass das in unserem Land besser werden muss, weiterverfolgen.
Dann gibt es eine ganze Reihe von Entscheidungen, die schwierig gewesen sind. Das Schwierigste an ihnen waren die langen Diskussionen, bis man dazu gekommen ist. Aber manche Diskussionen früherer Legislaturperioden haben vier Jahre gedauert. Manche haben dazu geführt, dass die meisten Entscheidungen nicht getroffen worden sind, die hätten getroffen werden müssen. Insofern haben wir jetzt Tempo gemacht. Das ist das Wichtigste, was wahrscheinlich noch ein, zwei Jahrzehnte weiter wirksam sein wird.
Zusatzfrage: Vielleicht einmal nach vorn gedreht: Wir nähern uns dem Wahlkampf. Gibt es noch ein großes gemeinsames Projekt, das Sie in dieser Ampel umsetzen wollen, und wollen Sie das einmal mit uns teilen?
Bundeskanzler Scholz: Das Wichtigste ist, dass wir dafür sorgen, dass Deutschland technologisch vornan bleibt. Das haben mit der Wachstumsinitiative vorbereitet. Es wird auch noch viel folgen. Es kommen noch ein paar weitere Entscheidungen, die wir treffen werden. Alles dient dazu, zu ermöglichen, dass wir es durch die Angebotspolitik, die wir entwickeln, hinbekommen, dass Unternehmensansiedlungen in Deutschland stattfinden, Modernisierungen, die wir für unsere Zukunftsfähigkeit brauchen.
Wir haben mit dem Haushalt auch sichergestellt, dass die starke Halbleiterindustrie in Deutschland die größte Halbleiterindustrie Europas werden wird, mit all den Ansiedlungen, die stattfinden. Es ist nicht nur eine, es sind sehr viele. Wenn ich es richtig im Kopf habe, sind von 19 Projekten in Europa 13 in Deutschland. Das Gleiche gilt für die unglaublich vielen, übrigens weitgehend ohne Fördermittel erfolgenden Ansiedlungsentscheidungen der Pharmaindustrie, nachdem wir sie mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, mit dem Medizinforschungsgesetz, mit unserer Pharmastrategie geradezu angelockt haben. Sie alle sagen mir: Wir kommen, weil ihr das gemacht habt. Das ist der Grund, warum wir jetzt in Deutschland so viele Milliarden investieren.
In der Richtung, dass wir dafür sorgen, dass die Dinge klappen, soll es weitergehen. Wir haben noch ein paar Dinge beim Bürokratieabbau vor uns. Ein ganz großes Thema ist zum Beispiel das Baugesetzbuch. Wir wollen viele Vorschriften abschaffen, die billigem und schnellerem Bauen im Wege stehen. Das ist kurz vor der Vollendung und kommt noch. Es wird zum Beispiel für das wichtige Thema des Wohnens eine zentrale Rolle spielen. Ein weiteres großes gemeinsames Projekt ist die stabile Rente.
Vorsitzende Wolf: Wir haben noch eine gute Viertelstunde, und ich habe noch mehr als 20 Fragen auf meiner Liste. Ich wage die Prognose, dass wir das nicht schaffen werden und bitte schon vorweg um Verständnis.
Bundeskanzler Scholz: Ich wollte gerade sagen, wir können auch noch ein bisschen weitermachen. Ich stehe nicht gleich auf.
Frage: Herr Bundeskanzler, nach vorn geschaut, das Thema Kindergrundsicherung. Sie haben bei der Einigung über den Bundeshaushalt in Aussicht gestellt: Es gibt einen Kinderfreibetrag, es gibt mehr Kindergeld, es gibt mehr Geld für die Kitaqualität, einen Kindersofortzuschlag. – Aber gleichzeitig hat der Finanzminister auch klargestellt, dass die Kindergrundsicherung im Etat nicht vorgesehen und auch die Behörde eigentlich kein Thema mehr ist. Ist damit die ursprüngliche Idee von der Kindergrundsicherung vom Tisch, und kommt es in der Legislatur gar nicht mehr?
Bundeskanzler Scholz: Die Regierung, aber auch die Koalitionsparteien diskutieren gegenwärtig über erste Schritte zur Einführung der Kindergrundsicherung und dann auch darüber, wie man den Weg zum zweiten Schritt formuliert, der sich vermutlich nicht mehr in dieser Legislaturperiode ereignen wird. Das findet auch im Parlament intensiv statt, und zwar, wie ich glaube, mit ganz gutem Fortschritt.
Gleichzeitig haben wir mit dem Haushaltsentwurf die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass das gut funktionieren kann, indem wir die von Ihnen beschriebenen Maßnahmen ergriffen haben: Kindergelderhöhung, Erhöhung des Kinderzuschlages. – Das ist – vielleicht darf ich das hier noch einmal sagen – eine meiner liebsten gesetzlichen Regelungen. Den Kinderzuschlag bekommen ja Familien, in denen die Eltern arbeiten, aber wenig Geld verdienen, damit die Familie nicht wegen der Kinder arm ist. Das finde ich ziemlich gut. Das baut auf der höchsten Anhebung des Kindergeldes in den letzten Jahrzehnten auf, die in dieser Legislaturperiode stattgefunden hat. Es geht also entsprechend weiter. Wir ergänzen das auch dadurch, dass wir es offenbar geschafft haben, mit kleinen und großen Maßnahmen die Inanspruchnahme dieses Kinderzuschlages durch erwerbstätige Eltern auszuweiten. Das ist eines der wichtigsten Ziele hinter der Kindergrundsicherung gewesen. Wir haben gesagt: Wir müssen etwas tun. Da gibt es eine ganz tolle Regelung. Aber diejenigen, die so fleißig sind und arbeiten und nicht genug Geld haben, weil das Familieneinkommen mit den Kindern zusammen nicht reicht, nehmen das gar nicht in dem Ausmaße in Anspruch. – Das haben wir geändert, und zwar so, dass wir mit der Erhöhung, die auch beim Kinderzuschlag kommt, über eine Milliarde Euro an zusätzlichen Ausgaben dafür veranschlagen müssen. Ich finde, das ist ein guter Erfolg bei fleißigen Familien.
Zusatzfrage: Aber die Idee „alles aus einer Hand, von einer Stelle“, das ist jetzt vom Tisch, richtig?
Bundeskanzler Scholz: Wir machen jetzt den ersten Schritt, auch weitere Digitalisierungsmaßnahmen und die Verbesserung, über die ich eben geredet habe, einschließlich der höheren Inanspruchnahme. Das ist die Grundlage dafür, den Weg zu finden, wie man einen zweiten Schritt geht. Alle haben natürlich genau mitbekommen, wie die öffentliche Diskussion gelaufen ist. Alle haben gefordert: Aus einer Hand! - Aber dann haben auch die, die das gefordert haben, gesagt: Aber nicht so aus einer Hand! – Ich kenne keine Stellungnahme, die gelautet hätte: Genau so! – Das muss man zur Kenntnis nehmen. Darüber kann man nicht hinweggehen. Deshalb lassen wir uns ein bisschen mehr Zeit und nutzen erst einmal die Tatsache, dass wir die vorhandenen Systeme effizienter und nutzbarer machen, um dann, darauf aufbauend, den ersten Schritt zu gehen und den zweiten Schritt vorzubereiten.
Frage: Ich komme auf die Frage der Kollegin Jäckels nach Nahost zurück, spiegelbildlich versetzt nach Deutschland, zu der Demoszene hier. Halten Sie, Herr Bundeskanzler, es für angebracht, zunehmend Menschen den Stempel „Antisemit“ oder „antisemitisch“ aufzudrücken oder sie sogar strafrechtlich zu verfolgen, die – sagen wir mal auf den Punkt gebracht – dafür demonstrieren, dass das internationale Völkerrecht in der Westbank eingehalten wird, dass also die Blockade aufhört, die Besetzung aufhört, oder dass die Menschen im Gazastreifen versorgt werden - diesbezüglich gibt es zunehmend Übergriffe und sogar Strafverfolgung, wenn so etwas mit Plakaten wie „Free Palestine“ etc. in Deutschland dargeboten wird –, oder sagen Sie: „Nein, nein, in dem Zusammenhang ist diese Zone gegen Meinungsfreiheit, gegen Demofreiheit durchaus angebracht“?
Bundeskanzler Scholz: Das ist zwar eine Frage, aber eigentlich eine Meinungsäußerung, die Sie darin untergebracht haben.
Zusatz: Die kann ich belegen.
Bundeskanzler Scholz: Ja, aber ich wollte nur sagen: Es ist mir aufgefallen. – Deshalb wollte ich gern sagen, dass ich nicht Ihrer Meinung bin. Es gibt keine Beschränkung, bei den von Ihnen beschriebenen Themen öffentlich seine Meinung zu sagen.
Die Bundesregierung verfolgt das Ziel einer Zweistaatenlösung, übrigens auch die Europäische Union und die amerikanische Regierung. Das heißt, wir wollen, dass es Israel gibt und einen palästinensischen Staat, der sich auf Westbank und Gaza erstreckt. Ich habe vorhin erläutert, dass wir mit der Siedlungspolitik nicht einverstanden sind und uns mit Siedlergewalt sehr kritisch auseinandersetzen. Jeder in Deutschland kann das sagen, übrigens nicht nur deshalb, weil auch wir der Meinung sind, sondern weil er das so sieht. Das darf thematisiert werden.
Das Problem ist vielleicht mehr das Et-cetera, das Sie eben angeführt haben. In dem Et-cetera kommen Dinge vor, die dann doch antisemitisch sind oder sich gegen das Existenzrecht des Staates Israel richten. Das können und wollen wir hier in der Tat nicht hinnehmen, auch ich nicht.
Zusatzfrage: Erlaubt die glücklicherweise vorhandene Staatsräson, dass diese Dinge auch auf Regierungsebene angesprochen werden, deutlicher vielleicht als nur mit dem Hinweis auf die Grundsätze der deutschen Außenpolitik, also die Besetzung der Westbank und ähnliche Dinge, die jetzt auch Gerichte für völkerrechtswidrig etc. erachtet haben, nicht im Urteil, aber in Gutachten?
Bundeskanzler Scholz: Noch einmal: Es gibt keine öffentliche Äußerung dieser Bundesregierung oder von mir, in der nicht auch gesagt würde, dass wir die Ausweitung von Siedlungen kritisieren und dass wir uns kritisch zu illegal errichteten Siedlungen und auch zu Siedlergewalt geäußert haben.
Es ist – erlauben Sie mir diese Bemerkung – vielleicht auch ein ein bisschen gefärbtes Vorurteil, das so zu unterstellen. Wir sind in dieser Frage immer klar und wollen es auch sein. Wir haben es nie so gemacht, dass wir nicht über das ganze Problem gesprochen hätten. Wir stehen an der Seite Israels. Darauf kann sich Israel verlassen. Wir haben gesagt: „Das Land kann sich gegen den Angriff der Hamas verteidigen und die Hamas bekämpfen“, und haben die anderen Dinge, die ich vorhin genannt habe, immer mitgesagt, auch in den Details.
Frage: Herr Bundeskanzler, Kommissionspräsident Ursula von der Leyen möchte am Verbrennerverbot festhalten, mit Ausnahmen für E-Fuels. Verkehrsminister Volker Wissing hat diesen Kompromiss gelobt. Ist es auch zu hundert Prozent Ihre Position, dass Autos, neue Autos, die mit Benzin und Diesel fahren können, in Europa ab 2035 nicht mehr verkauft werden dürfen, oder müsste dieses Verbot beziehungsweise das Datum noch einmal auf den Prüfstand?
3300 Beschäftigte der MEYER WERFT in Niedersachsen bangen um ihre Jobs und hoffen auf Unterstützung des Bundes bei der Abwendung der Pleite. Können Sie der Belegschaft dazu etwas sagen?
Bundeskanzler Scholz: Was die letzte Frage betrifft, kann ich sagen: Wir kümmern uns um das Thema. Ich bin dazu auch mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten intensiv im Gespräch. Meine Mitarbeiter und die der Ministerien sind ganz konkret immer dabei, sich ausführlich darüber zu informieren. Ich habe auch schon außerhalb Deutschlands mit den ebenfalls involvierten anderen Ländern Gespräche darüber geführt. Dazu ist gegenwärtig nichts entscheidungs- und spruchreif. Aber dieses Thema hat für mich eine Toppriorität, und zwar aus gutem Grund. Denn das ist eine tolle Werft mit tollen Kolleginnen und Kollegen. Sie machen großartige Arbeit. Ich bin davon überzeugt, dass das, was sie dort herstellen, auch in Zukunft noch gekauft und gebraucht wird und voll wettbewerbsfähig ist. Das ist also eine gute Ausgangsbedingung, um etwas dafür zu tun, dass die Werft weitermachen kann. Wir sind dran, aber mehr kann man jetzt nicht sagen.
Die andere Frage ist für mich ein bisschen überraschend. Ich habe mehrfach interveniert, auch bei der Kommissionspräsidentin, ich als Person – die Präsidenten haben miteinander gesprochen – um in den vergangenen zwei, drei Jahren durchzusetzen, dass wir die Entscheidung, die in Bezug auf 2035 von der Europäischen Union getroffen wird, dahingehend ergänzen, dass es möglich sein wird, dann Fahrzeuge zu betreiben, die ausschließlich mit E-Fuels betrieben werden können. Es hat viel Zeit, Kraft und auch Power gekostet, das jeweils hineinzuboxen. Ich nehme mit einer gewissen gelassenen Zufriedenheit zur Kenntnis, dass jetzt alle das wollen. Bis vor der Wahl hätte man unterstellen müssen, dass es einem noch passieren kann, dass das bei der Durchführung – es sind ja technische Schritte zu gehen, damit das möglich ist – vielleicht doch nicht kommt. Damit rechne ich jetzt nicht mehr. Die Sache ist jetzt im Sinne der von mir geführten Bundesregierung in Europa entschieden, sodass wir ab 2035 mehrere technische Möglichkeiten haben werden: Elektrofahrzeuge – die deutsche Automobilindustrie ist davon überzeugt, dass sie erstklassig sind, um die Anforderung an individuelle Mobilität zu erfüllen, dass die Preise immer weiter sinken werden und dass der technische Fortschritt noch unglaublich zunehmen wird – dann in einem von uns heute nicht bekannten Ausmaß sicherlich auch Fahrzeuge, die mit Wasserstoff betrieben werden. Aber auch diese Möglichkeiten schaffen wir ja. Das ist keine Technologie, die wir nicht unterstützen. Sie muss sich nur am Markt durchsetzen. Das hat bisher nicht ganz geklappt. Aber es wäre verfrüht, zu sagen, das werde keine Rolle spielen. Ich habe gesehen, dass die Firma Bosch in diesem Bereich weltweit führend ist. Ich weiß, dass auch die Lkw-Hersteller aus Deutschland mit ihren Verbünden daran arbeiten, das jederzeit machen zu können. Wir arbeiten an der Herstellung einer Infrastruktur, mit der man solche Fahrzeuge betreiben kann. Das Gleiche gilt für E-Fuels. Wir schaffen die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür in Deutschland und haben in Europa durchgesetzt, dass man so etwas anbieten kann.
Wahr ist aber auch, dass dann alle Fahrzeuge, die bis 2035 verkauft worden sind, noch 20 Jahre durch die Gegend fahren, weil sie ja überwiegend doch ganz gut sind. Auch dafür brauchen wir eine Lösung. Vielleicht erübrigen sich manche Diskussionen, die heute geführt werden, dann auch Stück für Stück, weil für diese Fahrzeuge dann auch in wachsendem Maße ein CO2-neutrales Angebot von den Autofahrern gewünscht wird. Das werden wir also alles sehen, aber eigentlich sind die Weichen gestellt.
Wenn ich die Gelegenheit nutzen darf: Ich habe durchgesetzt, dass wir 2030 ein Stromnetz haben werden, das 15 Millionen Fahrzeuge und auch noch eine bestimmte Anzahl von Elektro-Trucks verkraften kann. Wir bauen die Infrastruktur aus, wir haben dafür gesorgt, dass es innerhalb von fünf Jahren an fast allen Tankstellen Schnellladesäulen geben wird – neben vielen Orten, die neu dazukommen: Fastfoodketten, Lebensmitteldiscounter, zu Hause. Mit der Elektromobilität ist das ja anders als mit einem Pkw, der Diesel oder Benzin haben will; da gibt es ja andere Möglichkeiten. Dadurch haben wir den Rahmen geschaffen, dass man darauf setzen kann. Wenn ich das so richtig sehe, sind die Autos mit Elektromobilität, die die deutschen Automobilhersteller entwickeln, jetzt schon Weltspitze, aber sie werden noch einmal richtig einen Boost machen mit den Entwicklungen, die allen bekannt sind, und jetzt demnächst auf dem Markt für alle sogar zu bezahlbareren Preisen verfügbar sein. Sehr freue ich mich über die billigen Elektroautos, die jetzt kommen sollen.
Frage: Herr Bundeskanzler, die Sozialversicherungsbeiträge, etwa die Krankenkassenbeiträge und die Pflegeversicherungsbeiträge, steigen ja immer weiter an. Welche Pläne haben Sie, damit die Versicherten nicht weiter belastet werden, besonders mit Blick auf die anstehende Krankenhausreform sowie auch auf die Pflegereform, die Sie ja auch selbst angemahnt haben?
Bundeskanzler Scholz: Die erste Antwort ist: Wir müssen immer für ein konstant hohes Beschäftigungsniveau in Deutschland sorgen. Ich habe schon von den 46 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland gesprochen. Wir müssen diese Zahl hochhalten - insbesondere auch die Zahl derjenigen, die Sozialversicherungsbeiträge zahlen -, weil das die Finanzierungsstabilität unseres Wohlfahrtsstaates, unserer sozialen Sicherungssysteme garantiert.
Auch diese Bemerkung möchte ich noch einmal machen: Bei der Rente zum Beispiel handelt es sich ja um etwas, wo Leute Beiträge gezahlt haben. Das, was ihnen daraus zusteht, ist durch die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes geschützt. Einige Leute, die sich öffentlich äußern, klingen manchmal so, als ob es eine karitative Tat wäre, dass man eine Rente bekommt. - Nein, das sind Eigentumsansprüche, die die Bürgerinnen und Bürger haben, für die sie eingezahlt haben. Das dürfte man nicht einmal einfach so verändern, wie einige flott darüber reden. Deshalb bin ich auch gegen die Rentenkürzungspläne der CDU/CSU, die sich mit der weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters gegen Millionen Rentnerinnen und Rentner und viele heute 17-Jährige aussprechen, die Jahrzehnte lang einzahlen sollen und dann nicht das bekommen, wofür sie eingezahlt haben. Also: Ein stabiles Rentenniveau ist ein großes Thema, eine hohe Zahl der Beitragszahler auch.
Bei der Krankenversicherung und bei der Pflegeversicherung müssen wir darüber hinaus alles machen, was man an Effizienzgewinnen zustande bringen kann. Das ist das große Thema der Krankenhausreform: Wie können wir sicherstellen, dass jeder Patient immer die beste medizinische Behandlung bekommt, wie können wir sicherstellen, dass nicht die Notfallambulanzen überlastet werden mit Fällen, die gar nichts mit Notfall zu tun haben, einfach weil das Angebot für eine ambulante Betreuung - gerade auch dann, wenn die Arztpraxen zu sind - nicht gut genug ausgebaut ist. Da wird es jetzt eine enge Kooperation zwischen Krankenhäusern und ambulanten Praxen der Kassenärztlichen Vereinigungen geben.
Wir müssen dann natürlich auch dafür sorgen, dass die Wirtschaftlichkeitsreserven der Krankenhäuser genutzt werden. Mit der Krankenhausreform sorgen wir dafür, dass es eine hohe Zahl von Krankenhäusern in Deutschland geben wird, die die Vorortversorgung gewährleisten, dass es eine hohe Zahl von Spitzenkrankenhäusern geben wird, die erstklassige Medizin gewährleisten können, und dass das ganze System auch mit mehr finanzieller Effizienz betrieben werden kann.
Zusatzfrage: Die Krankenkassenbeiträge werden im Wahljahr definitiv steigen. Meine Frage war deshalb eigentlich eher: Welche Pläne gibt es da, was wollen Sie dagegen tun, damit die Beiträge sie nicht so sehr steigen?
Bundeskanzler Scholz: Das Wichtigste ist, immer alle Effizienzreserven zu nutzen. Aber was für mich nicht infrage kommt - das sage ich ganz klar -, sind Leistungskürzungen für die Versicherten. Das wäre eine schlechte Nummer, mit der ich nicht einverstanden bin.
Frage: Herr Bundeskanzler, Ihre mehrfachen Erwähnungen des IGH-Gutachtens lassen vermuten, dass der gelernte Jurist Olaf Scholz vielleicht selbst einmal in die 80 Seiten hineingeschaut hat. Darin wird ja nicht nur gesagt, dass die Siedlungspolitik auf der Westbank abstrakt völkerrechtswidrig sei, sondern Israel wird vorgeworfen, de facto die Annexion palästinensischen Gebietes zu betreiben. Israel wird vorgeworfen, ein diskriminierendes Regime zu errichten, und es wird gefordert, dass Israel die Besatzung sofort ohne jegliche Verhandlung beendet. So deutlich hat sich der IGH vorher nie positioniert. Inwiefern gehen diese Rechtsauffassungen zukünftig in die deutsche Außenpolitik ein?
Bundeskanzler Scholz: Das ist ein Gutachten, wie Sie richtig erwähnt haben, und die Politik der Bundesregierung habe ich beschrieben: Wir verfolgen, dass es eine Perspektive für zwei Staaten nebeneinander gibt, Israel und ein palästinensischer Staat in dem Westjordanland und Gaza. Diese Zweistaatenlösung als Perspektive ist, glaube ich, dringend geboten, und deshalb ist es auch richtig, dass wir das bei jeder Gelegenheit deutlich machen.
Zusatzfrage: Das Gutachten, das eben doch eine Rechtsauffassung zum Ausdruck bringt, formuliert Erwartungen an dritte Staaten, zu denen auch Deutschland gehört. Diese hätten alles zu unterlassen, was die israelische widerrechtliche Politik auf der Westbank unterstützt, und explizit auch Handel zu unterbinden, der mit Produkten und Bodenschätzen der Westbank betrieben wird. Was tut Deutschland da konkret und zum Beispiel über die bestehende Kennzeichnungspflicht von in der Westbank erzeugten Produkten hinaus, um dieser Rechtsauffassung und Erwartung des IGH gerecht zu werden?
Bundeskanzler Scholz: Eine von mir geführte Regierung wird keinen Boykott von Gütern, Dienstleistungen und Waren aus Israel unterstützen. Ehrlicherweise finde ich solche Forderungen auch eklig.
Frage: Herr Bundeskanzler, vielleicht auch ein wenig in eigener Sache eine Frage zur Zustellförderung, also zur Förderung von Zeitungen in der Fläche: Frau Roth hat mitteilen lassen, dass es auch im kommenden Haushalt erneut kein Geld dafür gibt. Damit wird eine Zusage aus dem Koalitionsvertrag nicht eingehalten. Wenn man jetzt die Zustellförderung in die große Klammer Meinungsfreiheit, Pressevielfalt, Zusammenhalt der Gesellschaft – den Sie selber angesprochen haben – nimmt, wüsste ich gerne: Warum hält die Regierung diese Zusage aus dem Koalitionsvertrag nicht ein?
Bundeskanzler Scholz: Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben und was wir anpacken wollen. Dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen, steht da in der Tat drin – aus gutem Grund. Wie die Haushaltslage ist, haben wir hier ja schon mehrfach erörtert; einige haben sehr kritisch nachgefragt, auch aus vertretbaren, richtigen Gründen. Vielleicht ist das auch fast die halbe Antwort auf Ihre Frage.
Zusatzfrage: Die Medienvielfalt hat ja erkennbar zugenommen. Sie sind auf TikTok unterwegs. Hat diese Zunahme der Medienvielfalt dem politischen Diskurs eher geschadet oder nützt sie?
Bundeskanzler Scholz: Ich glaube, beides ist der Fall. Ich will aber gar nicht verhehlen, dass ich die sozialen Medien und die verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiten – damit es kein Missverständnis gibt: nicht jede einzelne – eher als Bereicherung und als eine gute Sache empfinde. Aber wie bei allem, was neu ist, muss man damit umgehen lernen.
Vielleicht darf ich ein etwas abwegiges Beispiel wählen: Ich habe auf einer Ausstellung in Hamburg einmal einen Film gesehen, bei dem es darum ging, wie das Auto in die Stadt kam; denn das war ja in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch gar nicht so verbreitet wie heute. Da hat man Bilder vom Norddeutschen Rundfunk gesehen, wie die Leute über die Straßen gehen, als gäbe es keine Autos, alle sind irgendwie durcheinander gelaufen, und dann wurden an den Bahnhöfen die Verkehrstoten der Woche veröffentlicht. Das war ganz furchtbar. Dann kam „Der 7. Sinn“ und wir haben gelernt, mit dem Straßenverkehr umzugehen und das viel besser zu machen, und auch vieles andere haben wir unternommen. So ein bisschen müssen wir das jetzt auch machen.
Es wird zu Recht nach staatlichen Handlungsmöglichkeiten gerufen, danach, dass man etwas stoppen darf, wenn da Straftaten begangen werden, wenn da diskriminiert wird, wenn da alle furchtbaren Dinge passieren, und wir dürfen auch erwarten, dass die Betreiber da Verantwortung übernehmen. Europa hat eine ganz gute Gesetzgebung und wir setzen das durch.
Aber eines brauchen wir als Bürgerinnen und Bürger: Wir müssen einfach das, was wir schon immer konnten, wenn jemand Tünkram erzählt, auch weiter können. Wir müssen dann sagen: Das ist Tünkram! He lücht! Das ist Quatsch, das kann man doch nicht einfach …! – Das müssen wir können. Aber jeden Tag steht man unter Leuten, die etwas erzählen, und man denkt: Was hat der heute Morgen gegessen? Das ist ehrlicherweise auch im Internet so, und das werden wir nicht abstellen können. Da müssen wir eine innere Robustheit entwickeln zu sagen: Lass die reden, alles Quatsch.
Frage: Herr Scholz, Sie hatten gerade schon viel über irreguläre Migration gesprochen. Nun ist es aber auch so, dass der Etat für das Resettlement-Programm, eingedampft wird - ich glaube, um fast 90 Prozent. Können Sie das einmal erklären? Sind wir so von Migration belastet, dass wir nicht einmal mehr die besonders Schutzbedürftigen aufnehmen können?
Bundeskanzler Scholz: Wir haben immer alle Aufgaben gleichzeitig, müssen sie aber ein bisschen austarieren mit den Handlungsmöglichkeiten, die wir haben. Ich will ausdrücklich sagen: Die Zahl derjenigen, die im letzten und vorletzten Jahr irregulär nach Deutschland gekommen sind, ist zu hoch. Wir haben die Zahlen heruntergekriegt und wir wollen sie weiter herunterkriegen, und das spielt jetzt erst einmal für Deutschland die zentrale Rolle. Wir werden deshalb nicht aus solchen Sachen aussteigen, aber sie sind natürlich nicht im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt ist vielmehr, dass wir die Zahl derjenigen, die unberechtigterweise in Deutschland Aufenthaltsansprüche gelten machen, reduzieren. Das brauchen wir, um die Erwerbsmigration zu schützen, und das brauchen wir, um die echten Flüchtlinge zu schützen.
Zusatzfrage: Zu dem Etat gehört auch das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan. Es gab anscheinend ein bisschen Uneinigkeit, wie es damit weitergehen soll. Können Sie dazu etwas sagen? Wird das weitergehen?
Bundeskanzler Scholz: Dazu gibt es keine prinzipielle Entscheidung, aber wir müssen natürlich immer gucken. Im Übrigen ist es im Augenblick ja auch nicht ganz einfach, dass da jemand ausreist. Wie die Verhältnisse dort sind, ist, glaube ich, allseits bekannt. Insofern reden wir auch manchmal über Dinge, die gar nicht praktisch sind.
Frage: Herr Scholz, Sie haben angesprochen, dass es darum gehe, Arbeitskräfte zu mobilisieren. Potenziale gibt es da in erster Linie noch bei Frauen in Teilzeit. Was können Sie über die Kinderbetreuungskosten hinaus noch tun, um dort etwas zu regeln? Oder ist das alles nur „Land und Kommune“?
Das Zweite sind die vielen Fälle von Menschen, die bislang nicht arbeiten durften oder zu lange auf Genehmigungen gewartet haben. Wenn ich das richtig verstanden habe – Christian Lindner hat es ja so erklärt – soll in Zukunft sehr früh auch für Asylsuchende beispielsweise die Möglichkeit bestehen, eine Arbeit aufzunehmen, wenn dem nicht ausdrücklich widersprochen wird. Fürchten Sie nicht, dass dadurch noch eine Art niedrigster Niedriglohnsektor entsteht und der Druck auf diejenigen, die ohnehin schon am stärksten belastet sind, noch einmal steigt?
Bundeskanzler Scholz: Zunächst einmal ist in der Tat richtig: In Deutschland ist die Erwerbsquote ständig gestiegen, und sie ist jetzt bei Frauen ungefähr auf dem Niveau von Skandinavien und fast so hoch wie bei den Männern. Das ist ein großer Erfolg. Allerdings ist es bei uns nicht gelungen, dass das im gleichen Ausmaß mit Vollzeittätigkeit oder fast Vollzeittätigkeit verbunden ist, wie das zum Beispiel in Skandinavien der Fall ist. Das liegt daran, dass die Betreuungsangebote von Ländern und Kommunen für berufstätige junge Familien und ihre Kinder nicht so doll sind, wie sie verglichen mit anderen Ländern sein sollten.
Darum haben wir in den letzten Jahren und haben wir auch jetzt wieder mit dem Haushalt vorgesehen, dass wir den Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten mit einem KiTa-Qualitätsgesetz weiter unterstützen, weil das eine Aufgabe ist, die zwar nicht Bundesaufgabe ist, aber wo wir ja schon finden, dass das überall in Deutschland einmal klappen muss. Deshalb helfen wir, und darum haben wir eine Gesetzgebung gemacht, die den Ausbau von Ganztagsangeboten an allen Grundschulen in Deutschland ab 2026 in vier Schritten vorschreibt, sodass wir bis zum Ende des Jahrzehnts durch sind.
Das Thema Angebote zur Betreuung für Kinder ist also zentral. Und vergessen wir nicht: Das bedeutet auch, dass wir genügend Erzieherinnen und Erzieher ausbilden und viele Frauen und Männer für den Beruf vielleicht auch als Quereinsteiger gewinnen müssen, damit wir genug Angebote für die Eltern haben. Das ist das eine, was wir in Deutschland gemeinsam tun können.
Das Zweite ist, dass wir immer dafür sorgen, dass es keinen Lohndumping gibt. Deshalb bin ich „Mister Mindestlohn“. Ich habe den mehrfach in Deutschland durchgesetzt, zusammen mit meiner Partei, und dass der sich ordentlich weiterentwickelt, das bleibt auch für die Zukunft eine zentrale Herausforderung. Ich finde, im unteren Bereich wird in Deutschland zu wenig verdient. Das schadet der Produktivität unseres Landes und dem technologischen Fortschritt. Besser wäre ja, wen man guckt, ob man Sachen, die man auf andere Weise sonst nicht erledigen könnte, mit Technik erledigen kann, damit man gute Löhne zahlen kann. Das ist etwas, was unverändert eine große Rolle spielt. Alle Regelungen, die wir in diesem Zusammenhang machen, was Erwerbsmigration betrifft, sind immer so strukturiert, dass genau das nicht passiert.
Zusatzfrage: Das ist mir jetzt ein bisschen zu kurz gesprungen. Wenn Sie Asylsuchenden hier in relativ kurzer Zeit eine Arbeitserlaubnis zugänglich machen, dann entsteht dadurch natürlich ein enormer Druck auf den Arbeitsmarkt bei den Menschen, die am wenigsten um ihre Rechte, beispielsweise um einen Mindestlohn, wissen. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass es da im untersten Lohnsegment nicht zur Katastrophe kommt?
Bundeskanzler Scholz: Erstens ist das, was Sie gerade als Möglichkeit für die Zukunft beschreiben, die heutige Gesetzeslage – und zwar eine geltende. Wir haben das mit den bereits beschlossenen Gesetzen auf den Weg gebracht, und es hat diese Auswirkung, die Sie gerade beschreiben, nicht. Zweitens machen wir das jetzt so, dass wir die Verwaltungsprozesse etwas vereinfachen.
Aber noch einmal: Durch den Mindestlohn und durch den massiv ausgebauten Zoll und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit werden wir alles Lohndumping bekämpfen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der von mir geführten Regierung, und da werden wir über das hinaus, was ich schon als Finanzminister selber auf den Weg gebracht habe, weitere Schritte gehen, die ganz konkret und fest verabredet sind und über die übrigens ein hundertprozentiges Einvernehmen in der Bundesregierung existiert.
Frage: Herr Bundeskanzler, ich würde gerne noch einmal zum Bürgergeld fragen. Neben der Kindergrundsicherung sollte das ja einmal die große sozialpolitische Reform in dieser Legislaturperiode sein. Sie haben das Bürgergeld bei den Sanktionen ja schon einmal nachjustiert; jetzt wird noch einmal nachjustiert. Würden Sie sagen, dass die Unterschiede zwischen Bürgergeld und dem, was man einmal Hartz IV genannt hat, noch wahnsinnig groß sind, oder sind sich beide inzwischen – oder wenn Sie noch einmal darangegangen sind – relativ ähnlich? Sind Sie im Nachhinein mit dem Namen Bürgergeld immer noch glücklich?
Bundeskanzler Scholz: Der Name stand ja in fast allen Wahlprogrammen fast aller Parteien, wenn ich das noch einmal in Erinnerung rufen darf. Insofern hat er ja doch vor allem eine Absicht, nämlich zu sagen, dass man in einer Situation, in der man zwischen zwei Arbeitsplätzen ist oder wo man noch keine Arbeit gefunden hat, unterstützt wird. Von denjenigen, die jetzt diese Leistung bekommen, sind einige in Qualifizierungsmaßnahmen; die werden da also bald herausrutschen. Ein großer Teil der Leistungsbezieher – etwas über 400 000 – sind Aufstocker; die arbeiten also, nur verdienen sie nicht genug. Das ist ein großes Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Wir haben dann einige, die wegen der Erziehungssituation Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt tätig zu sein. Das haben wir gerade mit der Teilzeitarbeit besprochen, das ist ein großes Thema. Die anderen gibt es natürlich auch, und da muss man hinterher sein – mit aktiver Arbeitsmarktpolitik für diejenigen, die sehr große Schwierigkeiten haben, vielleicht auch mit Angeboten für solche, wo man schon öfter dachte „Die sorgen immer dafür, dass sie keinen Job kriegen, und denen geben wir jetzt mal einen“ – das ist ja auch eine Möglichkeit, die wir haben – natürlich durch eine hohe Termindichte, wo man mit ihnen ständig ihre Situation bespricht, und auch mit Sanktionsmöglichkeiten. Ich finde das richtig. Ich kann jede einzelne Maßnahme, die wir dort vereinbart haben, unterstreichen, und ich finde selber, dass das jeweils die notwendige Maßnahme ist.
Ein bisschen etwas haben wir bei der Bürgergeldreform auch aus der Coronazeit geerbt. Ich glaube, der am wenigsten beachtete Aspekt dieser Reform ist, dass die meisten Regelungen, über die jetzt diskutiert wird, damals eingeführt worden sind, damit langjährig selbstständig Tätige es einfacher haben, wenn sie jetzt diese Unterstützung brauchen.
Das ist die Wahrheit, und jetzt sorgen wir dafür, dass die Regelungen aber deswegen nicht an Effizienzkriterien scheitern.
Zusatzfrage: Sagen Sie, dass der Unterschied zwischen Hartz IV und dem Bürgergeld, wenn jetzt noch einmal herangegangen wurde, immer noch sehr groß ist, oder ist das in Wahrheit so ähnlich, sodass auch gar nicht mehr so viele Debatten über die Unterschiede erforderlich wären?
Bundeskanzler Scholz: Aus meiner Sicht sollte man vor allem handeln und dafür sorgen, dass es gute Unterstützung, Betreuung und auch Vermittlungsangebote gibt, also dass die Jobcenter hinter allen her sind und sagen: Komm, was kriegen wir denn hin? Es geht aber natürlich auch darum, dass der Teil der Aktivierung etwas größer geschrieben worden ist, und das finde ich richtig. Es gibt ja auch welche, die keine Ausbildung haben, und wenn jemand nie einen Job kriegt, weil er keine Ausbildung hat, kann man einmal etwas hinkriegen, indem man sagt: Da haben wir jetzt eine Möglichkeit einer Qualifizierung. Diese Maßnahmen spielen eine größere Rolle, und das ist auch richtig so.
Das Ziel muss aber immer sein, dass alle arbeiten. Vor kurzem hat einer von einem Gesprächspartner berichtet, der als Handwerker bei ihm zu Hause war und gesagt hat: Ich arbeite ja fleißig, aber mein Bruder – er hat also über seinen eigenen Bruder geredet –, der kommt nicht hoch. Dass ihn das aufregt, das verstehe ich; denn es regt mich auch auf.
Frage: Herr Bundeskanzler, wir haben heute komischerweise noch gar nicht über China gesprochen. Das ist ja auch kein unwichtiges Land. Man konnte in letzter Zeit sehen – etwa bei der Prüfung der Autosubventionen – , dass sich das Verhältnis zwischen der EU und China doch deutlich abgekühlt hat. Es wird auch immer klarer, dass China Russland in diesem Krieg doch aktiv unterstützt. Wie sehen Sie gerade China, wo stehen wir da? Müsste es angesichts eines möglichen Wahlsiegs von Donald Trump in den USA nicht darum gehen, dass auch die EU und besonders auch Deutschland eigentlich wieder ein näheres, besseres Verhältnis mit China zustande bekommt?
Bundeskanzler Scholz: Ich finde, alle internationale Politik ist nur dann erfolgreich, wenn sie niemals naiv ist. Das heißt, man muss schon wissen, welche Interessen man selber hat und welche Interessen andere haben. Deutschland ist die wahrscheinlich mit am meisten globalisierte Volkswirtschaft der Welt. Unser Geschäftsmodell ist so, dass wir bis in unzählige Mittelständler hinein den ganzen Weltmarkt mit unseren Gütern und Dienstleistungen bedienen, aber auch aus der ganzen Welt Güter und Dienstleistungen importieren - vieles als Vorprodukt für die dann von uns verkauften Sachen. Unser Geschäftsmodell ist, dass deutsche Unternehmen überall in der Welt – in Europa, aber auch anderswo – Direktinvestitionen tätigen und damit ihre eigenen Handlungsfähigkeiten ausweiten. Deshalb werden wir natürlich immer sehr dafür kämpfen müssen, dass das, was wir in den letzten Jahrzehnten an freiem, regelbasiertem Welthandel hatten und was den Wohlstand so vieler Nationen vorangebracht hat – aber eben ganz besonders auch unserer –, auch in Zukunft so gilt.
Für mich spielt deshalb eine Rolle, dass wir unsere Politik an vielen Stellen neu aufstellen. Ich will ein paar Punkte nennen, die dazugehören.
Erster Punkt. Wir müssen die WTO wieder stark machen. Das heißt, wir müssen eine Politik verfolgen, bei der die „Appellate Body“, also die Gerichtsbarkeit der WTO, funktioniert, sodass man mit der WTO agieren kann, statt sich durch Zölle zu bekriegen.
Zweitens brauchen wir eine Politik – das habe ich auch in China überall gesagt –, in der das für China bei dem Beitritt erfolgte „special and differential treatment“ nicht mehr in Anspruch genommen werden. Denn China ist zwar ein Land, in dem es noch viele Arme gibt, aber es ist auch die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das ist nun einmal ein bisschen ambivalent, und das passt nicht mehr. Beides zusammen könnte dazu führen, dass die WTO eine neue, bedeutendere Rolle spielt. Übrigens bedeutet das auch, dass die EU mehr Handelsverträge, mehr Freihandelsverträge abschließen muss. Da ist in der letzten Zeit zu wenig möglich gewesen und da hat in manchen Köpfen zu viel Protektionismus eine Rolle gespielt.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir bei der Rohstoffpolitik eine veränderte Strategie verfolgen müssen. Die früheren Regeln waren so, dass wir wirklich in schlimmster Weise Ländern mit Rohstoffen gesagt haben, dass nicht einmal die erste Verarbeitungsstufe, nämlich die Trennung des Minerals von den Steinen, in ihren Ländern erfolgen darf, nach dem Motto: Das dürfen die nicht vorschreiben, sonst kriegen sie Ärger mit uns. Das muss man ändern; denn viele Rohstoffe, die wir aus einem großen Land beziehen, kommen gar nicht aus diesem großen Land, sondern sind nur auf diese Weise dahin gelangt. Wenn wir jetzt aber faire Partnerschaften in aller Welt schaffen, dann kann das dazu beitragen, dass wir einen resilienteren, weniger gefährdeten Welthandel bekommen, weil wir viele Ressourcen haben.
Das Letzte, was dazu gehört, ist, dass viele Unternehmen jetzt verstanden haben, dass das, was sie in ihren Lehrbüchern früher einmal gelernt hatten, nämlich dass man kein Single-Sourcing betreiben soll, sondern es besser ist, Dual-Sourcing zu betreiben oder für bestimmte Produkte noch mehr Quellen zu haben, auch weiterhin richtig ist; denn dann ist man nie abhängig, wenn es einmal irgendwo eine Schwierigkeit in der Lieferkette oder in den Exportmöglichkeiten oder den Handelsmöglichkeiten, die man hat, gibt. Das haben wir sehr aktiv unterstützt. Deshalb glaube ich, dass wir Stück für Stück - das geht ja nicht über Nacht - auch resilienter werden - und die Unternehmen auch; darum geht es ja auch bei dieser Sache.
Ansonsten finde ich es gut, dass die EU und China sich jetzt einigen wollen und alles dafür spricht, dass sie sich auch einigen werden.
Zusatzfrage: Wenn Sie sagen – was völlig richtig ist – dass Deutschland eine globalisierte Wirtschaft ist, warum sind Sie dann eigentlich nicht etwas vorsichtiger bei der Positionierung gegenüber Amerika und Trump, der ja möglicherweise bald Amerika regiert? Denn Sie vermeiden jetzt ja wirklich jedes positive Wort über Trump und wollten auch vorhin auf entsprechende Frage hin nichts sagen. Wie sieht das transatlantische Verhältnis denn dann am Ende aus? Fürchten Sie nicht, dass Trump es Ihnen übelnimmt, wenn Sie so offenbar keine Lust darauf haben, dass er die amerikanische Wahl gewinnt?
Bundeskanzler Scholz: Es sind die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger, die entscheiden, wer der nächste Präsident wird und wie die Mehrheiten in den beiden Häusern des amerikanischen Kongresses sein werden. Ich werde mit jeder Regierung in den USA gut zusammenarbeiten. Das ist meine Aufgabe, das ist die Aufgabe Deutschlands und Europas. Wir legen sehr viel Wert auf die transatlantischen Beziehungen. Das ist nicht nur eine Frage, die sich transaktional nach Nützlichkeitskriterien richtet, sondern da geht es auch um etwas, das uns in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit verbindet.
Frage: Herr Bundeskanzler, Ihre Parteifreundin Malu Dreyer ist ja vor einigen Wochen zurückgetreten, und es wurde allgemein beschrieben, dass sie ihre Nachfolge ganz gut geregelt habe, indem sie in den vergangenen Jahren immer starke und unabhängige Persönlichkeiten in ihrer Partei aufgebaut habe. Sie sind ja auch schon seit bald einem Vierteljahrhundert in Regierungsämtern und wollen wahrscheinlich auch nicht ewig regieren. Wie ist es denn bei Ihnen? Haben Sie starke und unabhängige Persönlichkeiten in der SPD aufgebaut? Wen sehen Sie in der SPD, der theoretisch das Amt des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin ausüben könnte?
Bundeskanzler Scholz: Erstens bedanke ich mich dafür, dass in der SPD so viele die starke und unabhängige Persönlichkeit von Olaf Scholz gefördert haben, sodass er dann Kanzlerkandidat werden konnte. Ansonsten bin ich mir ziemlich sicher, dass wir, wenn das demnächst – am Ende der nächsten oder übernächsten Legislaturperiode – irgendwann einmal ansteht, schon so weit sein werden.
Vorsitzende Wolf: Herr Bundeskanzler, ich danke sehr herzlich für Ihr Kommen! Danke auch an Regierungssprecher Steffen Hebestreit, und vielen Dank für Ihre vielfältigen Fragen. Bitte sehen Sie es mir nach, dass nicht jeder drankommen konnte. Ich beende das Ganze hier und wünsche noch einen sehr schönen Tag.