Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel zur außerordentlichen G20-Videokonferenz zu Afghanistan am 12. Oktober 2021

(Aufgrund technischer Probleme fehlen die ersten Sätze des Eingangsstatements der Bundeskanzlerin.)

BK’in Merkel: (akustisch unverständlich) dass wir unterstützen, dass natürlich alle Afghaninnen und Afghanen ein Recht auf ein Leben in Frieden, Würde und Sicherheit haben.

Wir haben deutlich gemacht - auch Antonio Guterres hat ja teilgenommen -, dass den Vereinten Nationen bei der Krisenbewältigung, insbesondere bei der absehbaren humanitären Herausforderung, eine besondere Bedeutung zukommt. Das drückt sich auch in der Resolution 2593 des Sicherheitsrates aus. Wir fordern, dass alle Organisationen der Vereinten Nationen Zugang für die humanitäre Hilfe haben, die sie durchsetzen wollen. Die humanitäre Hilfe muss natürlich auch im Einklang mit den international vereinbarten Prinzipien stehen.

Im September gab es eine Geberkonferenz. Wir von deutscher Seite haben heute noch einmal bekräftigt, dass wir noch in diesem Jahr 600 Millionen Euro einsetzen werden, um die humanitären Probleme lösen zu helfen. Denn der wirtschaftliche Kollaps muss verhindert werden.

IWF und Weltbank haben die große Aufgabe, den Zusammenbruch des Zahlungssystems zu verhindern und die Möglichkeit, öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, zu unterstützen. Hierbei geht es natürlich vor allen Dingen auch um den Schutz von Kindern und Frauen. Wir alle haben heute zum Ausdruck gebracht - ich habe das jedenfalls sehr deutlich gesagt, viele andere auch -, dass die Regierung der Taliban nach unserer heutigen Einschätzung nicht inklusiv ist. Deshalb steht das Thema einer Anerkennung der Taliban auch nicht auf der Tagesordnung. Dennoch muss und soll es Gespräche geben, wie sie jetzt ja auch vermehrt stattfinden. Auch die deutsche Seite spricht ja seit Längerem mit den Taliban.

Wir haben neben den wirtschaftlichen Herausforderungen und gerade auch mit Blick auf den Winter den humanitären Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch einmal betont, dass vor allen Dingen auch sichergestellt sein muss, dass die Terrorismusbekämpfung erfolgreich ist. Von Afghanistan darf nicht wieder eine Gefahr für die Außenwelt ausgehen. Wir haben durch den Anschlag von Kundus gesehen, in welch schwieriger Situation man schon wieder ist. Deshalb wird der Kampf gegen den Terrorismus in den Gesprächen mit den Taliban natürlich eine ganz zentrale Rolle spielen.

Um die humanitäre Hilfe durchsetzen zu können, aber auch, um Bürgerinnen und Bürger, die Afghanistan noch verlassen wollen und müssen, zum Beispiel Bürger verschiedener Staaten, auch deutsche Staatsbürger, aber auch Menschen, die in Afghanistan in Gefahr sind, um also diese Evakuierung zu ermöglichen, ist es wichtig, dass funktionierende Flughäfen da sind. Das ist aber auch für die humanitäre Hilfe wichtig. Das heißt also, dass der Flughafen in Kabul, aber auch Flughäfen im Lande erreichbar sein sollten.

Wir haben uns noch einmal darauf besonnen, dass Afghanistan natürlich auch von der Coronapandemie betroffen ist und dass eine zügige Impfkampagne neben den humanitären Hilfen auch von großer Wichtigkeit ist.

Ich will ausdrücklich begrüßen, dass die Europäische Union in Form der Kommissionspräsidentin heute zusätzlich eine Milliarde Euro für all diese Aufgaben zur Verfügung gestellt hat, die im Zusammenhang mit Afghanistan zu sehen sind.

Der türkische Präsident hat darauf hingewiesen, dass alle humanitäre Hilfe, die wir in Afghanistan oder in der unmittelbaren Nachbarschaft leisten, natürlich auch die Fragen der Migration vereinfacht. Die Türkei - das hat er noch einmal betont - hat ja schon sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Das heißt, wir müssen gemeinsam alles dafür tun, dass Menschen in der Nähe ihrer Heimat Afghanistan oder in Afghanistan leben können und das ganz besonders im Blick auf Frauen und Kinder.

Insgesamt also eine Zusammenfassung des Vorsitzes, die gemeinsam mit allen Teilnehmern erarbeitet wurde, anhand derer Sie sehen, dass das gesamte Spektrum der Probleme in Afghanistan im Zentrum unserer Diskussion stand, sodass ich diese Initiative von Mario Draghi, also der italienischen Präsidentschaft - ich will das hier noch einmal betonen -, für außerordentlich wichtig halte.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das Thema der Evakuierungen angesprochen. Bis wann können die Menschen, die auf Ausreise hoffen, denn damit rechnen, dass vielleicht ein Schutzkorridor im Norden entsteht? Auch wenn das vielleicht heute nicht Thema war, wäre dieses Thema aber für Deutschland sehr interessant.

BK’in Merkel: Darf ich fragen: Was verstehen Sie unter einem Fluchtkorridor im Norden?

Zusatz: Wenn zum Beispiel Richtung Pakistan ausgereist werden kann, ist schon einmal darüber diskutiert worden, dass man vielleicht einen Korridor im Norden schafft. Wie weit ist das? Die Frage ist ja vor allem: Wie schnell können die Menschen damit rechnen, vielleicht noch vor Weihnachten auszureisen?

Wenn Sie erlauben, eine zweite kurze innenpolitische Frage zu Weihnachten: Rechnen Sie damit, dass der Ampelkoalitionsvertrag bis zu Weihnachten schon steht und Sie Weihnachten möglicherweise als Privatfrau feiern können? - Danke.

BK’in Merkel: Ich glaube, Sie haben gute Möglichkeiten, die Sondierungsverhandler der drei Parteien zu fragen. Ich nehme das dann zur Kenntnis. Ich kann dazu nichts sagen, sondern das liegt in deren Hand.

Zweitens zu dem, was Sie zu dem Korridor gesagt haben: Ich habe deshalb etwas geschaut, weil aus meiner Sicht Norden mehr Richtung Tadschikistan/Usbekistan oder Ähnliches wäre. Es gibt immer wieder in Absprache mit Pakistan Ausreisen aus Pakistan. Das ist kein beständiger Korridor. Es gibt aber Möglichkeiten, dass Menschen das Land verlassen. Wir setzen natürlich auch ganz besonders auf funktionierende Flughäfen.

Ich kann nur sagen, dass das Auswärtige Amt, aber auch wir gemeinsam mit anderen europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten von Amerika mit den Taliban genau darüber immer wieder sprechen und schnellstmöglich denjenigen, die ausreisen wollen, diese Möglichkeit eröffnen wollen. Das war heute aber kein spezifisches Thema des G20-Treffens, weil ja alle vor der gleichen Problematik stehen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben den Internationalen Währungsfonds im Zusammenhang mit Afghanistan erwähnt. Ist es nicht problematisch, wenn jetzt internationale Organisationen das Talibanregime quasi stabilisieren, indem ihm geholfen wird? Sie haben ja selber darauf hingewiesen, dass eigentlich die Kriterien, die der Westen angelegt hatte, und die Forderungen, die es gegenüber den Taliban gab, gar nicht erfüllt wurden.

Könnten Sie sagen, ob die IWF-Chefin eigentlich Ihr volles Vertrauen genießt?

BK’in Merkel: Ich glaube, ich schließe mich da der heutigen Board-Mitteilung voll an. Kristalina Georgieva war da, und es sind ja nun Untersuchungen durchgeführt worden. Es ist ja auch gesagt worden, dass das Vertrauen da ist, und dem schließe ich mich natürlich an.

Was die Frage der Rolle des IWF und der Weltbank anbelangt: Ich glaube, wir alle haben nichts davon, wenn in Afghanistan das gesamte Währungssystem oder Finanzsystem zusammenbricht; denn dann könnte auch keine humanitäre Hilfe mehr geleistet werden. Es ist natürlich immer eine nicht ganz einfache Abgrenzung, aber zuzuschauen, wie 40 Millionen Menschen ins Chaos verfallen, weil weder Strom geliefert werden kann noch ein Finanzsystem existiert, kann und darf nicht das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft sein.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich würde gerne zurück zu Afghanistan kommen: Viele in der Region und auch hier in Europa, im Westen, ziehen nun Bilanz. Wenn Sie ganz persönlich zurückblicken - insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass die Evakuierungen bei Weitem nicht abgeschlossen sind und viele Menschen, die hier Schutz bekommen sollten, noch in Afghanistan sind -: Gibt es Dinge, bei denen Sie mit Blick auf Ihr persönliches Handeln oder Nichthandeln aus der jetzigen Perspektive denken „Das hätte ich lieber anders machen sollen“ oder die Sie bereuen?

BK’in Merkel: Insgesamt hatten wir im Deutschen Bundestag ein Mandat verabschiedet, das deutlich länger gegangen wäre. Das heißt, wir wären aus unserer Perspektive länger in Afghanistan geblieben, eben weil die Stabilisierung dort noch nicht so weit fortgeschritten war. Uns war während des gesamten Einsatzes aber auch immer klar, dass wir im Geleitzug und gemeinsam dort sind und dass wir zum Beispiel ohne die Vereinigten Staaten von Amerika, die ihrerseits ihre Gründe hatten, diesen Einsatz zu beenden, nicht alleine dort bleiben können. Das bleibt ein Punkt, bei dem man natürlich überlegt, dass es unter anderen Bedingungen vielleicht etwas anders verlaufen wäre. Ansonsten ist meine ganze Aufmerksamkeit jetzt aber darauf gerichtet, dass wir unter den gegebenen Bedingungen das Beste daraus machen und möglichst vielen Menschen helfen - sowohl humanitär als auch dadurch, dass denjenigen, die ausreisen können, die Ausreise ermöglicht wird.

Danke schön!