Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Staats- und Premierminister Bettel am 18. Oktober 2021

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, heute ist der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel bei uns zu Gast. Ich denke, wir können sagen, dass es wohl der Abschiedsbesuch nach einer langen Zusammenarbeit ist. Xavier hat heute darauf hingewiesen, dass wir heute immerhin schon acht Jahre zusammenarbeiten, das heißt, die Hälfte meiner Amtszeit. Ich darf sagen, dass es eine freundschaftliche, enge und sehr schöne und gute Zusammenarbeit ist.

Wir haben über unsere bilateralen Themen gesprochen, die ja im Grunde keine Probleme darstellen, und die doch darauf hindeuten, dass wir alles, was an Problemen zwischen unseren Ländern auftaucht, im Gespräch und miteinander lösen und dafür gute Lösungen finden. Im Zusammenhang mit der Coronapandemie hatten wir am Anfang einige Ruckeleien. Wir haben sie überwunden und arbeiten dabei jetzt sehr gut zusammen.

Ich will mich auch dafür bedanken, dass während der Flut im Ahrtal in Rheinland-Pfalz luxemburgische Helferinnen und Helfer bei uns waren. Das ist ein großes Zeichen der Solidarität.

Wir haben gemeinsam darüber gesprochen, wie wir den nächsten Europäischen Rat vorbereiten. Hierbei gibt es natürlich besondere Themen, zum einen das Thema der Energiepreise. Dies beschäftigt zurzeit alle in Europa. Die Kommission hat hierzu eine Schlussfolgerung vorgelegt, die wir in weiten Teilen für eine richtige Analyse halten, die jetzt natürlich in einigen Punkten noch vertieft werden muss, um genau zu verstehen, wie die Preisbildung stattfindet.

Unsere beiden Länder setzen sich auch für eine zukunftsweisende Handelspolitik ein und wollen auch eine starke digitale Agenda der Europäischen Union, um den europäischen digitalen Markt zu stärken und zu entwickeln. Hierfür haben wir meiner Meinung nach noch sehr viel zu tun. Denn die Geschwindigkeit, in der wir unsere Entscheidungen treffen, reicht zum Teil noch nicht aus.

Ein wesentlicher Punkt, über den wir heute gesprochen haben, war der Zusammenhalt der Europäischen Union. Wir haben in den letzten Monaten und Jahren doch eine Vielzahl von Konflikten untereinander, die gerade auch den Kernbereich der Rechtsstaatlichkeit berühren. Auf der einen Seite ist Rechtsstaatlichkeit natürlich das Fundament der Europäischen Union. Auf der anderen Seite wollen wir natürlich überall Lösungen finden, bei denen auch alle mitgenommen werden können. Das erscheint zurzeit nicht ganz einfach, gerade auch angesichts der jüngsten Rechtsprechung durch das polnische Verfassungsgericht in Polen. Insofern ist hier eine große politische Aufgabe zu leisten, die einerseits den Respekt für alle Mitgliedsstaaten in den Mittelpunkt stellt, andererseits aber natürlich auch keine Abweichung von unseren Fundamenten erlaubt. Diese Fundamente sind die der Rechtsstaatlichkeit, die wir uns ja vor mehr als 30 Jahren - ich denke dabei an die mittel- und osteuropäischen Länder und auch an mich und meine Biografie - mühsam erstritten haben. Deshalb wird sicherlich auch dies ein Thema auf dem Europäischen Rat sein.

Ich habe auch darüber berichtet, dass wir natürlich Herausforderungen im Zusammenhang mit der Migration haben. Die Situation ist anders, als sie 2015 war. Aber das Migrationsthema ist in Europa nach wie vor ungelöst. Das ist eine Aufgabe, die weiterhin vor uns steht.

Alles in allem war es also ein sehr freundschaftliches Gespräch. Ich bedanke mich auch für die luxemburgische Auszeichnung, die ich heute bekommen habe. Ich darf sagen, dass die Gemeinsamkeit von Deutschland und Luxemburg vielleicht auch für die Beziehungen, die wir sonst in Europa leben sollten, beispielgebend ist.

Herzlichen Dank, für deinen Besuch, Xavier!

PM Bettel: Danke, liebe Bundeskanzlerin, liebe Angela. Es war mir eine große Freude, hier im Bundeskanzleramt zu einem Arbeitsbesuch empfangen zu werden. Wie du, wie Sie es gerade gesagt haben - kann ich dich duzen? -, haben wir die letzten acht Jahre wirklich zusammengearbeitet, und ich muss sagen, dass das nicht nur für Europa und Luxemburg, sondern auch für mich persönlich eine sehr große Ehre war. Wir haben vorher darüber geredet, wie es Europa im Moment geht. Ich weiß, dass die Bundeskanzlerin es nicht sehr mag, wenn man sie so beschreibt, aber ich muss Ihnen sagen, dass sie eine Kompromissperson war, die es immer fertiggebracht hat, dass wir nicht auf dem Kleinsten gemeinsamen Nenner herauskamen. Es war eine Mischung zwischen Ambitionen auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Anspruch, trotzdem Kompromisse zu finden.

Ich muss dir jetzt ganz persönlich sagen, dass ich hoffe, dass wir es die nächsten Monate ohne dich weiterhin schaffen werden. Aber ich bin überzeugt, dass dein Spirit noch immer da ist, auch in den nächsten Monaten, weil du auch den Brückenschlag zwischen Ost und West immer fertiggebracht hast.

Deutschland und Luxemburg sind eng verbündet, das ist nichts Neues - wir sind ja auch Nachbarn. Ich kann sagen, dass die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sehr starke Beziehungen sind. Das haben wir auch in der Coronakrise gesehen. Ich bin dankbar, dass wir es fertiggebracht haben - auch, wenn es am Anfang nicht ganz einfach war -, dass in Luxemburg unser ganzes Gesundheitssystem noch funktionieren konnte; denn wenn wir unsere Nachbarn aus Frankreich, Belgien und Deutschland nicht hätten, die jeden Tag nach Luxemburg kommen, um zu arbeiten, dann hätten wir diese Zeit während der Pandemie in den Krankenhäusern nicht geschafft.

Wir haben gesehen, dass die Freizügigkeit und das freie Europa - Schengen liegt ja in Luxemburg - in den letzten Monaten auch in Frage gestellt wurden. Für uns bleibt es selbstverständlich wichtig, dass wir nicht sofort einen Reflex haben, uns gegenüber von Nachbarn zu schließen.

Wir haben gesehen, dass es verschiedene Punkte gibt, bei denen es überhaupt keine Grenze gibt. Sie haben vorhin über die Flut geredet, und die Flut war etwas, was wir in Luxemburg, in Belgien und in Deutschland wirklich stark erlebt haben. Das zeigt, dass wir beim Thema Klima wirklich nicht mehr warten können. Wir sehen, dass das jetzt nicht mehr auf der anderen Seite des Globus ist, sondern bei uns ist - und das ist nicht in zehn Jahren, sondern es ist jetzt und wir müssen jetzt aktiv werden. Wir haben auch gesehen, dass Menschen innerhalb von ein paar Stunden alles verloren haben und alles weggerissen bekommen haben, was sie über so lange Zeit aufgebaut haben. Auch wenn wir die materiellen Verluste ersetzen können, sind damit sehr viele emotionale und persönliche Geschichten verbunden, die man nicht mehr ändern kann.

Ich möchte mich in diesem Zusammenhang bei unseren luxemburgischen Helfern bedanken. Ich habe sie vor Kurzem getroffen, und die waren sehr froh, dass sie helfen konnten. Das ist für mich Solidarität: Zu sehen, dass, wenn jemand Hilfe braucht, der Nachbar auch da ist, um Hilfe zu leisten.

Wir unterstützen die von der Kommission vorgeschlagenen Ambitionen des Fit-for-55-Pakets. Wir müssen jetzt 2030 nicht als Ziel sehen, aber als Zwischenetappe, um bis 2050 wirklich alles zu tun. Das sind wir den nächsten Generationen schuldig.

Die Klimakrise darf aber auch nicht zur sozialen Krise werden; das heißt, wir müssen auch aufpassen, wie wir es fertigbringen, auch die Menschen mitzunehmen. Momentan haben wir ja das Thema des Anstiegs der Gas- und Energiepreise, und man sollte hier wirklich sehen, dass das für die schwächsten Haushalte in ganz Europa eine Herausforderung darstellt. Es sind unterschiedliche Gegenmaßnahmen denkbar, aber die wirksamsten sind nach wie vor Beihilfen für Haushalte sowie gemeinsame europäische Maßnahmen. Diese müssen in Einklang mit dem EU-Recht und auch mit den Regeln des Elektrizitätsbinnenmarktes stehen. Die entsprechende Toolbox wurde von der Kommission ja vorgestellt, und ich glaube, dass das sehr gute und wichtige Instrumente sind.

Ein letzter Punkt, den wir zusammen besprochen haben, ist das Thema der Rechtsstaatlichkeit und der europäischen Werte. Ich muss sagen, dass das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts mir viele Sorgen macht. Es geht hier nicht um eine Interpretation von diesem oder jenem, sondern es geht für mich um die Frage, wie es um die europäische Gesetzgebung steht. Wir haben in der Architektur der EU ja einen Gerichtshof, der eben auch die Interpretation vornimmt, wo wir es mit einer Verletzung der EU-Gesetze zu tun haben. Wenn man jetzt auf einmal sagt, dass das nicht mehr zählt oder nicht mehr wichtig ist, dann haben wir selbstverständlich ein Problem mit der ganzen Architektur von Europa. Deswegen müssen wir wenigstens darüber reden können.

Last, but not least: Wir haben sehr viele Arbeiten, die vor uns stehen. Du hast es gesagt: Wir haben im Moment keine einfache Zeit. Wichtig ist für mich, dass wir es fertigbringen, dass nicht Provokationen zu Sanktionen mit wiederum neuen Sanktionen in Reaktion darauf führen. Das ist in den acht Jahren, die ich mit dir erlebt habe, auch ein Leitmotiv in der EU gewesen: Man muss immer probieren, eine Lösung zu finden, indem man mit einer Person redet und nicht über eine Person redet. Das heißt, man muss sich zusammen an einen Tisch setzen und probieren, zusammen Lösungen zu finden.

Ich kann mir aber vorstellen, dass wir in den nächsten Tagen viel Zeit brauchen werden, um Lösungen zu finden. Wie gesagt, dies ist mein letzter Arbeitsbesuch bei dir. Ich kann dir nur sagen: Kanzlerin oder nicht, du bist in Luxemburg immer eine gern gesehene Person. Wir würden uns auf jeden Fall freuen, dich wieder bei uns empfangen zu können, und zwar dann, wenn es bei dir am besten geht.

Ich möchte mich im Namen der luxemburgischen Regierung und auch persönlich bei dir bedanken für alles, was du nicht nur für die Luxemburger, sondern für uns alle in Europa und sogar über die Grenzen Europas hinaus gemacht hast!

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das Maßnahmenpaket der EU-Kommission zum Thema Gas- und Energiepreise erwähnt. Ich hätte Sie gerne beide gefragt: Was sind denn die Teile, mit denen Sie nicht einverstanden sind? Geht es bei der Analyse um den gemeinsamen Einkauf von Gas? Ist das problematisch?

Der zweite Aspekt wäre der europäische Stabilitätspakt. Da gibt es ja neue Diskussionen, was alles an einzelnen Ausgabenblöcken herausgerechnet werden sollte: Investitionen, Klimaschutz. Was ist Ihre Position, Frau Bundeskanzlerin, und Ihre, Herr Ministerpräsident?

BK’in Merkel: Ich sage einmal ganz offen: Der Stabilitätspakt so, wie er heute ist, hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, die ja auch weidlich genutzt wurden und auch richtigerweise genutzt wurden. Deshalb bin ich nicht sehr enthusiastisch, was eine Veränderung des Stabilitätspakts angeht. Es wird aber sicherlich für die zukünftige Bundesregierung eine wichtige Entscheidung sein, wie man damit verfährt. Ich persönlich glaube, dass uns der heutige Stabilitätspakt viele Optionen bringt. Wenn man ganz viele Sachen aus dem Stabilitätspakt herausrechnet, hat das natürlich auch seine Probleme.

Zweitens. Was die Energiemitteilung anbelangt, bin ich weitestgehend in dem Sinne einverstanden, dass einige Fragen noch nicht abschließend beantwortet sind. Natürlich kann man überlegen: Welche Möglichkeit habe ich, auch einmal gemeinsam Energie einzukaufen? Aber das ist natürlich mehr eine Überschrift. Heute haben viele Länder bereits über langjährige Vertragsabschlüsse ihre Energieversorgung gesichert. Es geht also um die Frage: Erscheint man vielleicht gemeinsam am Spotmarkt oder nicht? Das muss vertieft diskutiert werden.

Die augenblickliche Situation zu verstehen, ist nicht so ganz einfach. Sie wissen ja: Ich hatte heute Vormittag eine Videoschalte mit dem chinesischen Ministerpräsidenten. Dort war zum Beispiel ganz klar, dass China Sorge hat, zu schnell von den Kohlekraftwerken auf Gaskraftwerke umzusteigen, weil sich dann der Weltverbrauch in einer kurzen Zeit sehr schnell verändert und das natürlich Auswirkungen auf die Preisbildung hat. Das heißt, wir müssen uns hierbei - vielleicht auch im Rahmen von G20, jedenfalls international – darüber austauschen, wie jetzt die erwarteten Energiebedarfe bei der Transformation unserer Wirtschaft sind. Einige werden weniger bestellen. Deutschland wird in 25 Jahren klimaneutral sein. Dann werden wir viel weniger Erdgas brauchen. China wird noch 15 Jahre länger - bis 2060 - Gas brauchen. Um überhaupt diese ganz veränderte Herangehensweise an die Energiemärkte zu überblicken, wäre es nicht schlecht, eine gewisse Planbarkeit zu erzeugen.

Das Thema wird also besprochen. Das Thema muss zum Teil vertieft untersucht werden. Ich rate von vorschnellen Schuldzuweisungen ab. Die Preisbildung ist eine sehr komplizierte Sache. Die Fragen müssen auf Grundlage einer wirklich guten Analyse richtig beantwortet werden.

PM Bettel: Es gibt kurzfristige Maßnahmen wie zum Beispiel Beihilfen für Haushalte. Ich glaube, das ist das, was wir am schnellsten machen können, um den Leuten konkret und schneller zu helfen. Dann gibt es mittelfristige Maßnahmen, die sich darauf beziehen, wie man die Liquidität und Transparenz des Binnenmarkts verbessern kann.

Was die zweite Frage in Bezug auf die Regeln angeht, müssen wir aufpassen. Wir führen diese Diskussion nicht zum ersten Mal. Wir haben sie in Bezug auf Corona geführt; wir haben sie bezüglich Griechenland geführt. Jedes Jahr kommt die Diskussion über die Frage auf: Sollen wir die Kriterien nicht ändern? Wenn wir aber alles wieder rausnehmen, dann muss man sich die Frage stellen, welche Ambitionen man haben muss.

Ich war damals der Meinung – ich stehe noch immer dazu -, dass wir nicht einfach alles ausschließen können, dass wir zum Beispiel überhaupt nicht bereit sind, vor allem in einem sozialen Europa über Sozialpolitik oder zum Beispiel über Investitionen oder Corona zu reden, was ja auch nicht geplant war. Man sollte eine gewisse Flexibilität haben. Es kommt immer wieder zurück. Ich glaube, wir haben heute schon Mechanismen, mit denen wir spezielle Zeiten bewältigen können. Wir sind ja in einer Periode, die eine extra Periode ist und wo das ja nicht streng gesehen wird. Ich glaube, dass wir uns im Moment genug Flexibilität gegeben haben. Es darf nicht immer heißen, dass mehr Flexibilität heißt, dass man kein gemeinsames Ziel mehr hat. Man braucht schon das Ziel. Es ist eine gemeinsame Währung, und wir brauchen auch gemeinsame Regeln.