Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Draghi nach dem gemeinsamen Treffen in Berlin am 21. Juni 2021

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, heute Mario Draghi hier begrüßen zu können. Es ist nicht das erste Mal, dass er im Kanzleramt oder auch in meinem Büro ist, aber es ist das erste Mal, dass er als Premierminister im Kanzleramt ist. Seine politische Entwicklung hat sozusagen eine bedeutsame Kurve genommen, und ich freue mich, ihn jetzt hier als meinen Kollegen aus Italien begrüßen zu können, etwas verspätet und durch die Pandemie auch noch ohne militärische Ehren - die müssen noch nachgeholt werden -, aber immerhin zu einem Antrittsbesuch. Ganz herzlich willkommen, lieber Mario!

Wir haben, obwohl wir uns noch nicht direkt gesehen haben, aber schon sehr oft miteinander konferiert und unsere Positionen abgestimmt. Wir haben zuletzt natürlich beim G7-Treffen und dem Nato-Gipfel miteinander gesprochen. Ich möchte schon für den Teil der G20-Präsidentschaft, den Italien bis jetzt bewältigt hat, und gerade auch für den Gesundheitsgipfel, den ihr jetzt im Rahmen dieser Meetings durchgeführt habt, ganz herzlich danken. Ihr seid in eurer Eigenschaft als G20-Präsidentschaft ja auch Mitgastgeber der COP26 in Glasgow. Das heißt also, was bilaterale Dinge angeht, ist es wichtig, dass wir uns für die Vorbereitung der Europäischen Räte austauschen, aber es ist natürlich auch für die multilaterale Politik wichtig.

Wir haben uns eben in unserem kurzen Vorgespräch noch einmal über die Lage in Bezug auf Corona ausgetauscht. Ich glaube, wir gehören beide zu den Vorsichtigen, die sich sehr freuen, dass es im Augenblick eine sehr grundlegende Verbesserung der Situation gibt. Aber wir wissen auch, wie fragil dieser Fortschritt ist. Die Impfquote steigt, aber sie ist noch nicht so, dass wir sagen können, dass wir uns einer Herdenimmunität annähern. Wir sind anfällig für neue Varianten, und wir haben ja jetzt leider auch in Großbritannien und auch in Portugal, in Lissabon, gesehen, wie schnell es passieren kann, dass die Inzidenzen wieder steigen. Deshalb verfolgen wir die Dinge sehr aufmerksam.

Wir werden uns heute natürlich mit den Folgen von Corona befassen. Dazu gehört ja auch der Wiederaufbauplan, mit dem wir das Ganze in Gang setzen. Wir werden darüber sprechen, wie wir uns auch noch besser koordinieren können, gerade wenn es jetzt um Einreisemodalitäten geht. Bezüglich Reisenden aus Großbritannien in Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben wir doch eine große Bandbreite von Verhaltensweisen. Darüber müssen wir uns, glaube ich, noch sehr viel mehr miteinander austauschen.

Wir werden natürlich über ein Thema sprechen, das auch auf dem Europäischen Rat ein Thema ist, und das ist das Thema der Migration, hier die externe Dimension. Wir werden in dem Zusammenhang natürlich auch über die Situation in bestimmten Herkunftsländern sprechen, sowohl in Tunesien als aber auch in Libyen. Italien hat, und dafür möchte ich mich bedanken, ja sehr viele politische Initiativen bezüglich einer politischen Lösung in Libyen begonnen. Wir werden am Mittwoch auch auf der Außenministerebene noch einmal eine Folgekonferenz im Rahmen des Berliner Prozesses durchführen. Das Land, das ja auch sehr viel Kenntnis und sehr viel Kraft in die libysche Entwicklung steckt, ist Italien. Dafür herzlichen Dank!

Wir werden uns natürlich auch über zwei weitere Punkte austauschen, die auf dem Europäischen Rat eine Rolle spielen werden, zum einen das Verhältnis zur Türkei und auf der anderen Seite das Verhältnis zu Russland. Hierzu gibt es zwischen uns keinerlei unterschiedliche Bewertung, und trotzdem werden wir den Europäischen Rat noch einmal vorbereiten.

Ansonsten haben wir in der bilateralen Agenda, darf man sagen, keine großen Probleme, die wir jetzt heiß diskutieren müssten, außer natürlich die Frage, wie es unseren Mannschaften bei der Fußball-Europameisterschaft ergeht; da dürften wir unterschiedliche Emotionen haben. Wir sind beide, glaube ich, auch fair genug, die Erfolge der anderen zu würdigen, aber gefühlsmäßig natürlich für unser jeweiliges Land. Die Italiener spielen ja bis jetzt nicht schlecht.

Noch einmal herzlich willkommen!

MP Draghi: Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank, liebe Angela, für diese Begrüßung! Die Beziehungen zwischen unseren Ländern sind sehr tief, dauerhaft und solide. Die Nähe in unseren Einschätzungen hat man auch beim letzten G7-Treffen gesehen. Wir gründen auf den Europäismus und den Atlantismus; das habe ich auch in meiner ersten Rede erwähnt, als ich die Regierung übernommen habe. Unsere Positionen gegenüber Russland, den Vereinigten Staaten, China und auch Nordafrika sind Positionen, die wirklich sehr nah beieinander sind.

Die Zusammenarbeit ist sehr eng, und das überrascht uns nicht. Denken wir nur daran, dass für Italien touristisch gesehen das erste Land Deutschland ist. Die zweitgrößte italienische Community mit einer Million Menschen ist in Deutschland. Die verarbeitenden Industrien unserer beider Länder sind die größten in Europa, und sie sind wirklich stark komplementär. Es gibt Zusammenarbeit in der Verteidigung und es gibt auch eine Übereinstimmung, was die Umwelt anbelangt, wo wir auch gemeinsame Projekte haben, was den Wasserstoff anbelangt. Auch im Klimabereich stehen wir uns sehr nahe. Es ist wirklich eine sehr enge Zusammenarbeit und wir haben sehr enge Beziehungen, die wir seit langen Jahren pflegen.

Ich möchte zwei Dinge erwähnen. Ich möchte mich wirklich sehr bedanken. Die Gesundheitskrise hat dafür gesorgt, dass diese Beziehungen noch enger und noch solider wurden, und ich möchte auch an die Hilfe erinnern, die Deutschland Italien in der ersten Phase der Pandemie hat zukommen lassen. Viele italienische Patienten sind nach Deutschland, in deutsche Krankenhäuser gebracht worden.

Ich danke auch für die Unterstützung der Bundeskanzlerin, was den Beginn von Next Generation EU anbelangt. Die italienische Regierung setzt sich für Reformen ein - auch für strukturelle Reformen, wie man einst immer gesagt -, aber für systematische Reformen, die dafür sorgen müssen, dass Italien wettbewerbsfähiger, aber auch gerechter und nachhaltiger wird. Das ist die Verpflichtung, die diese Regierung übernommen hat, und das wird sich auch in den kommenden Monaten fortsetzen.

Es ist sehr wichtig - und ich gehe davon aus, dass die Bundeskanzlerin einverstanden ist -, dass wir für ein stärkeres Europa ein stärkeres Italien brauchen. In diesem Sinne setzt sich meine Regierung sehr stark ein.

Die Bundeskanzlerin hat einige Themen erwähnt, die wir beim ER besprechen werden, insbesondere die Migration. Hierbei müssen wir uns austauschen, uns gegenseitig helfen und zusammenarbeiten. Das ist die Richtung unserer Regierung.

Auch was Libyen anbelangt - die Bundeskanzlerin hat es erwähnt - unterstützen wir den sogenannten Berlin-Prozess auf Ebene der Außenminister. Die Konferenz wird in einigen Tagen stattfinden, und wir erwarten hierbei einen stärkeren Einsatz der Europäischen Union und nicht nur der einzelnen Länder in dieser Region - eine Verpflichtung, einen Einsatz, ein Engagement, um die Bewegungen in Grenzen zu halten, die illegalen Flüsse in Grenzen zu halten, um auch die legale Migration zu gestalten und um diesen Ländern zu helfen, stabiler zu werden und den Frieden wiederzufinden. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf Libyen.

Das war es meinerseits. Vielen Dank, Angela!

Frage: Eine Frage an beide: Es sind viele Bereiche erwähnt worden, in denen Deutschland und Italien zusammenarbeiten. Diese Liste ist wahrscheinlich noch länger geworden, als der Ministerpräsident sein Amt übernommen hat.

Gibt es aber auch Themen, in denen Sie etwas auseinander sind, in denen Sie nicht geeint sind? Gibt es wirklich überall eine starke Übereinstimmung, oder gibt es Punkte, bei denen Sie nicht die gleiche Meinung vertreten - Migration, Libyen, die Beziehungen zu Russland, auch mit Blick auf G20?

MP Draghi: Die Bundeskanzlerin hat das schon gesagt: Fußball - vielleicht sind wir uns da nicht so ganz einig - und Migration.

Ja, wir sind uns einig, was die externe Dimension anbelangt, das heißt eine stärkere Präsenz der Europäischen Union in Nordafrika. Wenn ich Nordafrika sage, dann meine ich nicht nur Tunesien und Libyen, sondern auch die Herkunftsregionen in der Sahelzone, Mali, Äthiopien, Eritrea. Das heißt, die Europäische Union muss wirtschaftlich und technisch präsenter und auch sichtbarer sein. Es gibt natürlich viele Mechanismen, auch der Verteilung. Dabei gibt es Gespräche und Debatten. Es gibt einen starken Willen, eine gemeinsame Vision - auch zum gegenseitigen Nutzen - zu erreichen.

BK’in Merkel: Selbst beim Fußball gibt es eine Gemeinsamkeit. Denn wir waren der Meinung, dass Herr Gosens ein sehr guter Spieler bei Bergamo ist.

Aber zu den politischen Fragen:

Wir haben natürlich unterschiedliche Betroffenheiten bei der Migration. Italien ist ein Ankunftsland. Deutschland ist mehr ein Land mit Sekundärmigration. Wir sind uns aber vollkommen einig, wie wir die Sache angehen müssen. Man muss sie sozusagen dort angehen, wo die Menschen herkommen. Wir müssen illegale Migration durch legale Migration ersetzen.

Die Kernfrage heißt also: Wie können wir es erreichen, dass Menschen aus den vielen Herkunftsländern, gerade aus Afrika, wieder nach Hause gehen, wenn sie kein Recht auf Asyl haben? Auf der anderen Seite muss es hier legale Wege geben, um Menschen zum Beispiel eine Ausbildung oder Ähnliches zu ermöglichen. Denn wir wollen ja nicht die Schlepper und Schleuser unterstützen.

Ehrlich gesagt: In den Diskussionen, die wir hatten, haben sich sehr, sehr wenige Meinungsverschiedenheiten aufgetan. Das ist ein gutes Gefühl.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Herr Ministerpräsident, Sie haben das Thema Migration angesprochen. Werden Sie sich auf dem Gipfel dafür einsetzen - die Frage richtet sich an beide -, dass das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei sehr schnell neu verhandelt wird? Kann das vielleicht noch in diesem Jahr sein?

Eine Frage, wenn Sie erlauben, noch an Herrn Draghi: Nachdem die Italiener ja jetzt bei der Fußball-EM eine Favoritenrolle haben und in Großbritannien das Deltavirus wütet, sind Sie dafür, dass das Finale nach Rom verlegt wird? Würden Sie sich dafür aussprechen?

BK’in Merkel: Wir werden über die Türkei sprechen. Wir müssen schon eine Perspektive eröffnen, wie es weitergeht. Die Türkei beherbergt sehr, sehr viele Flüchtlinge. Ich habe das immer wieder gesagt: Es sind mehr als drei Millionen. Sie hat alles Recht, dafür von uns weiter unterstützt zu werden. Insofern werden wir diese Fragen auf dem Europäischen Rat besprechen. Ich glaube, wir sind beide der Meinung, dass wir ohne Kooperation mit der Türkei nicht weiterkommen. Aber was dann beim Europäischen Rat genau besprochen wird, darüber informiere ich Sie nach dem Europäischen Rat.

MP Draghi: Meine Antwort auf beide Fragen ist: Ja. Ja, was die Aktualisierung der Vereinbarung mit der Türkei anbelangt, und ja, dass ich mich dafür einsetze, dass das Endspiel nicht in einem Land stattfindet, in dem die Ansteckungsgefahr sehr groß ist.