Freihandelsabkommen muss schneller gelingen

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Rede und Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz in Neu-Delhi Freihandelsabkommen muss schneller gelingen

Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seinem Besuch in Neu-Delhi nachdrücklich für ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien geworben: „Jetzt ist die Zeit, das nach so langen Jahren der Verhandlungen zum Abschluss zu bringen“. Das betonte er bei seinem Besuch von Airbus India.

16 Min. Lesedauer

  • Mitschrift Pressekonferenz
  • Freitag, 25. Oktober 2024
Bundeskanzler Scholz am Rednerpult in Indien.

Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Pressekonferenz am Freitag in Neu-Delhi.

Foto: Bundesregierung/Marvin Ibo Güngör

Indien sei ein Land mit großen Wachstumsperspektiven, „und wir als Deutschland und Europa wollen dabei sein“, sagte Bundeskanzler Scholz in einer Pressekonferenz am Freitag in Neu-Delhi. Ein Freihandelsabkommen der EU mit Indien würde noch mehr Investitionen und Handelsaustausch ermöglichen und auch den Austausch von Wissenschaft und Arbeitskräften befördern.

Zudem betonte der Bundeskanzler, dass es in Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gut sei, „dass zum Beispiel ein Land wie Indien den festen Willen hat, hilfreich zu sein“, um bei Friedensgesprächen weiterzukommen. Vor der Pressekonferenz hatte der Kanzler an der Eröffnung einer neuen Zentrale von Airbus India teilgenommen und eine Rede gehalten. Außerdem hatten zurvor die deutsch-indischen Regierungskonsultationen stattgefunden.

Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede und anschließenden Pressekonferenz:

(übersetzte Fassung der Rede)

Bundeskanzler Olaf Scholz:

Sehr geehrter Herr Premierminister Modi,
sehr geehrte Ministerinnen und Minister,
sehr geehrter Herr Busch,
verehrte Freundinnen und Freunde und Gäste der Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft,

vor einigen Tagen wurde der sogenannte Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften an die Ökonomen Daron Acemoğlu, Simon Johnson und James Robinson verliehen. Sie erhielten diese renommierte Auszeichnung für ihre Arbeit zu der Frage, wie demokratische Institutionen Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum fördern.

Simon Johnson sagte vor Kurzem in einem Interview, dass „wahrhaftige, echte, inklusive Demokratie ganz klar wichtig“ sei für wirtschaftlichen Erfolg. Die Organisatorinnen und Organisatoren der diesjährigen Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft haben die Entscheidung der Königlich Schwedischen Akademie wahrscheinlich nicht vorhergesehen. Aber indem sie uns nach Indien eingeladen haben, hatten Sie das richtige Gespür.

Heute kommen wir zusammen
- in der größten Demokratie der Welt.
- Der am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaft der Welt mit dem sich am raschesten entwickelnden Sektor erneuerbarer Energien aller großen Volkswirtschaften.

Einem Land im Herzen der dynamischsten Weltregion – des asiatisch-pazifischen Raums.

Kurzum: Die Asien-Pazifik-Konferenz findet zur rechten Zeit am rechten Ort statt.
Sehr geehrter Herr Premierminister Modi, herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft.
Und Dank auch unseren Mitgastgebern – lieber Robert Habeck und lieber Roland Busch – und natürlich Ihnen, sehr geehrter Herr Minister Goyal, für die Ausrichtung dieser Konferenz!

Ich habe die diesjährigen Nobelpreisträger erwähnt, weil ihre Botschaft kaum von größerer Aktualität sein könnte. Nicht nur, dass viele Demokratien mit Druck von innen konfrontiert sind – durch Populisten und Extremisten, die mit grob vereinfachenden Lösungen für hochkomplexe Probleme hausieren gehen. Was mich auch besorgt, ist die Erosion internationaler Institutionen und der Regeln, die wir durch sie geschaffen haben.

Wie die drei Nobelpreisträger uns sagen, ist das nicht nur ein politisches Problem. Sondern auch ein wirtschaftliches. Denn eine Welt, in der verlässliche Institutionen und gemeinsame Regeln ausgehöhlt werden, ist eine instabilere Welt, eine Welt mit weniger Wohlstand, eine ärmere Welt. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist eine, in der Fortschritt etwas ist, wofür wir uns einsetzen müssen.

Doch in einer multipolaren Welt gibt es keine Weltpolizei, keine einzelne Kontrollinstanz, die unsere gemeinsamen Regeln und Institutionen überwacht. Jede und jeder einzelne von uns ist aufgerufen, sie zu verteidigen und zu wahren.

Wenn Russland mit seinem rechtswidrigen, brutalen Krieg gegen die Ukraine erfolgreich wäre, hätte dies Auswirkungen weit über Europas Grenzen hinaus. Ein solches Ergebnis würde die Sicherheit und den Wohlstand auf der Welt insgesamt gefährden.

Der Nahe Osten ist nach wie vor eine weitere konstante Quelle von Spannungen – und eine deutliche Erinnerung an den menschlichen Preis der Spaltung und der Unfähigkeit der Welt, politische Lösungen zu finden.

Die koreanische Halbinsel, das Süd- und Ostchinesische Meer, sie alle bleiben Brennpunkte möglicher Konflikte – wenngleich wir alle hoffen, dass es gelingt, diese Konflikte einzudämmen.

Meine erste Botschaft an Sie alle heute lautet also: Lassen Sie uns alles in unserer Macht Stehende tun, um politische Lösungen für diese Konflikte zu finden. Lösungen, die sich auf das Völkerrecht und die Grundsätze der VN-Charta stützen.

Dies ist nicht nur eine ethische und eine politische Pflicht. Es ist auch unabdingbar, wenn wir Wohlstand, Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit sichern wollen. Wir müssen unseren Worten Taten folgen lassen.

Der Besuch einer deutschen Fregatte in Indien sowie in Japan, Korea und Ländern Südostasiens unterstreicht unser Bekenntnis zu offenen Meeren und zum Völkerrecht.

Bei unseren Regierungskonsultationen mit Indien wollen wir auch unsere Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich vertiefen und eine engere Verbindung zwischen unseren Streitkräften vereinbaren. Unsere allgemeine Botschaft ist klar: Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, nicht weniger.

Die Globalisierung ist und bleibt eine ungeheure Erfolgsgeschichte für all unsere Länder. Allein in Entwicklungsländern und Ländern mit mittlerem Einkommen sind dank globaler Wertschöpfungsketten, grenzüberschreitender Investitionen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit rund eine Milliarde Menschen in die Mittelschicht aufgestiegen. Viele Länder im asiatisch-pazifischen Raum sind dafür das beste Beispiel. Deshalb sage ich weiterhin zu den Verfechtern der „Deglobalisierung“, der „Abkopplung“, oder wie auch immer protektionistische Maßnahmen heutzutage genannt werden: Seien wir vorsichtig!

Auf kurze Sicht klingen diese Konzepte vielleicht verlockend. Doch letztlich führen sie zu schwächerem Wachstum, höheren Preisen, geringerem globalen Wohlstand und weniger Wettbewerb, was wiederum weniger Innovation bedeutet.

Wir müssen einen anderen Ansatz verfolgen. Einen Ansatz, den ich gern als „offen sein, ohne naiv zu sein“ bezeichnen würde. Ja, wir müssen einseitige Abhängigkeiten vermeiden, insbesondere in strategisch wichtigen Bereichen – bei kritischen Rohstoffen und bestimmten Technologien beispielsweise. Doch für uns bedeutet De-Risking nicht weniger Handel oder weniger Offenheit. Für uns bedeutet De-Risking Diversifizierung.

Und diese Diversifizierung vollzieht sich bereits. Schauen Sie nur, wie sich die deutsch-indischen Geschäftsbeziehungen in den letzten Jahren entwickelt haben. Beziehungen, die beiden Seiten zugutekommen. Jede Woche wird ein Flugzeug der Airbus-A320-Familie von meiner Heimatstadt Hamburg aus an Indiens aufstrebende Fluggesellschaften ausgeliefert. Und für die Deutsche Lufthansa ist Indien der wichtigste Wachstumsmarkt in Asien.

Fünfzig Prozent der Personenwagen der indischen Eisenbahn basieren auf einem Design von Linke-Hofmann-Busch. Designed in Germany, made in India. Die Bremsen der Züge stammen überwiegend von Knorr-Bremse und werden alle in Indien hergestellt.

Deutsche Autos dominieren den indischen Markt der Oberklasse und fördern die Produktion vor Ort, wobei Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden. Im Gegenzug stammt die moderne Software in Fahrzeugen von Mercedes-Benz aus Bengaluru.

Und Sie, lieber Herr Busch, haben unlängst in einem Artikel geschrieben, dass Siemens anstrebt, mit der Hilfe von hier in Indien ansässigen Nachwuchskräften die industrielle KI auf die nächste Stufe zu heben.

Es gibt eine Menge Chancen – für beide Seiten. Ähnliche Geschichten könnte ich auch von deutschen Unternehmen erzählen, die in Indonesien, Malaysia, Vietnam, Südkorea, Japan oder anderen Ländern der Region tätig sind. Wir möchten diese positive Entwicklung befördern. Freihandel steht dabei im Zentrum.

Allerdings bedeutet Freihandel nicht Handel ohne Regeln oder Institutionen. Im Gegenteil. Eine Institution, die für die Steigerung des weltweiten Wohlstands maßgeblich ist, ist die Welthandelsorganisation. Es kommt uns allen zugute, wenn ihre Grundsätze wieder geachtet werden und wir uns nicht gegenseitig mit Zöllen überziehen. Ich setze mich dafür persönlich ein.

Einerseits bedeutet dies, die Rechtsordnung für die Beilegung von Handelsstreitigkeiten wiederherzustellen. Andererseits sollte China – mittlerweile ein Industriegigant – auf die Sonderbehandlung verzichten, die ihm als Entwicklungsland zuteilwird.

Zusammengenommen können diese Schritte uns dazu bringen, die Blockade in der WTO endlich zu überwinden, eine Blockade, die eine Gefahr für den freien und fairen Handel ist. Die Länder Ihrer Region verstehen das. Das Umfassende und Progressive Abkommen für die Transpazifische Partnerschaft ist ein beeindruckendes Bekenntnis zum freien und fairen Handel. Dieses Abkommen war ein Ansporn für die eigenen Freihandelsbestrebungen der EU mit Blick auf den Indopazifik. Unsere bestehenden Abkommen mit Japan, Südkorea, Vietnam, Singapur und Neuseeland belegen dies. Doch wir müssen noch ehrgeiziger sein.

Wir begrüßen es sehr, dass die Europäische Kommission endlich die Verhandlungen über den freien Handel mit den Philippinen und Thailand wieder aufgenommen hat und auch auf die Wiederaufnahme der Gespräche mit Malaysia hinarbeitet.

Wir möchten, dass die laufenden Verhandlungen zwischen der EU und Indonesien unter Dach und Fach gebracht werden und dass die Verhandlungen zwischen der EU und Australien baldmöglichst wieder aufgenommen werden.

Und selbstverständlich wollen wir ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien. Meine Regierung drängt dabei auf rasche Fortschritte und einen baldigen Abschluss – und ich bin sicher, dass dies in Monaten statt Jahren geschehen könnte, wenn wir diesbezüglich zusammenarbeiten, sehr geehrter Herr Premierminister.

Einen letzten Aspekt möchte ich noch ansprechen, weil dieser unterstreicht, was ich mit „offen sein, ohne naiv zu sein“ meine. Erst vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung eine Strategie auf den Weg gebracht, um indische Fachkräfte für Deutschland anzuwerben. Schon heute bilden Inderinnen und Inder die größte Gruppe ausländischer Studierender an unseren Universitäten. Allein im letzten Jahr ist die Zahl indischer Erwerbstätiger in Deutschland um 23.000 gestiegen.
Ihre Fähigkeiten sind eine willkommene Bereicherung für unseren Arbeitsmarkt. Und lassen Sie mich hinzufügen: Wir begrüßen Fachkräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht nur aus Indien, sondern aus all Ihren Ländern.

Um das zu ermöglichen, haben wir eines der weltweit fortschrittlichsten Gesetze zur Fachkräfteeinwanderung beschlossen. Wir digitalisieren unsere Abläufe bei der Visaerteilung, beschleunigen Verfahren und machen sie benutzerfreundlicher.

Gleichzeitig reduzieren wir die irreguläre Migration und erleichtern die Rückkehr derer, die nicht das Recht haben, sich in unserem Land aufzuhalten. Die Botschaft lautet, dass Deutschland offen ist für Fachkräfte – aber dass wir entscheiden können, wer zu uns kommt. Das ist wichtig, denn nur dann werden unsere Bürgerinnen und Bürger unsere Offenheit weiter akzeptieren.

Dies bringt mich zurück zum Anfang meiner Ausführungen und zu den drei Nobelpreisträgern. Eine der drei zentralen Lehren aus ihrer Arbeit ist die, dass offene Gesellschaften mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Wohlstand gelangen. Wir müssen diesen Geist der Offenheit bewahren – in unseren Ländern und in der heutigen Welt. Seien wir also diejenigen, die ihn verbreiten. Vielen Dank.

Fragerunde im Anschluss:

Bundeskanzler Scholz: Wir haben heute unsere Regierungskonsultation hier in Indien gehabt. Sie haben, wie Sie wissen, nun schon eine lange Tradition mit gutem Erfolg. Der erste Tag hat jetzt hier in Indien stattgefunden.

Nun freue ich mich auf Fragen.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben heute mehrfach vom richtigen Zeitpunkt Ihrer Reise gesprochen. Inwiefern war es jetzt der richtige Zeitpunkt bei zwei Themen, zum einen bei dem Thema, den Freihandel anstoßen zu wollen, sodass das endlich zum Abschluss kommt, und inwiefern war das zum anderen der richtige Zeitpunkt beim Thema der Vermittlung, beim Angebot Indiens, eine Mittlerrolle im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine spielen zu wollen?

Bundeskanzler Scholz: Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Indien und Deutschland entwickeln sich sehr positiv. Hier finden jetzt sehr, sehr viele Investitionen statt. Es gibt einen regen Handelsaustausch. Wir haben auch einen guten Austausch, was Wissenschaft betrifft und was Arbeitskräfte angeht. Aber gleichzeitig ist klar, dass dabei noch mehr möglich ist. Das würde natürlich erheblich erleichtert, wenn die Europäische Union und Indien mit den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen bald fertig würden. Mir ist wichtig, zu sagen: Jetzt ist die Zeit, das nach so langen Jahren der Verhandlungen zum Abschluss zu bringen. – Ich werde auch weiterhin sehr aktiv dafür werben, dass wir das tun, und zwar mit Indien – das ist wichtig –, aber auch mit vielen anderen Ländern.

Ich denke, dass wir die Art und Weise, wie Freihandelsabkommen ausgehandelt werden, dramatisch ändern müssen. Sie müssen schneller gelingen, und sie müssen auch weniger abhängig von einzelnen Mitgliedstaaten sein. Deshalb schlage ich schon seit einiger Zeit vor, dass wir als Europäische Union Freihandelsabkommen abschließen, die sich ausschließlich auf europäische Regeln beziehen und deshalb mit qualifizierter Mehrheit im Rat und mit normaler Mehrheit im Parlament beschlossen werden können und dann gelten, und dass sie durch ein Abkommen über die Fragen, denen Länder zustimmen müssen, ergänzt werden, dem man beitreten kann, sodass wir endlich viele Abkommen zustande bekommen.

Ein Abkommen mit Indien wäre eines, bei dem das die höchste Priorität hat. Das ist ein Land mit großen Wachstumsperspektiven, und wir als Deutschland und Europa wollen dabei sein.

Ansonsten gilt es jetzt, zu schauen, welche Möglichkeiten bestehen, damit der Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, nicht immer weiter mit dieser Brutalität fortgesetzt wird, sondern zu einem Ende kommt. Es geht immer – darüber sind wir uns hier klar – um einen gerechten Frieden für die Ukraine, der ihre Integrität und Souveränität im Blick hat. Deshalb sage ich auch, dass Deutschland weiterhin aufgefordert sein wird, die Ukraine zu unterstützen, damit sie sich verteidigen kann. Das tun wir in Europa am stärksten.

Deshalb ist es auch ein gutes Zeichen, dass gerade jetzt die G7-Staaten das getan haben, was sie auf dem Treffen in Apulien in Italien angekündigt haben, nämlich einen 50-Milliarden-Dollar-Kredit auf den Weg zu bringen. Damit besteht Klarheit für die Ukraine. Sie kann sich die notwendige Sicherheit beschaffen, die sie braucht, um sich verteidigen zu können. Damit ist für den russischen Präsidenten auch klar, dass das Aussitzen nicht hilft und dass man nicht darauf warten kann, dass die Unterstützung nachlässt.

Darum ist jetzt auch der Zeitpunkt, auszuloten, ob Möglichkeiten bestehen. Wir haben auf internationalen Konferenzen viele, viele Dinge unternommen, um Friedensgespräche möglich zu machen. Zuletzt fand eine Konferenz auf dem Bürgenstock in der Schweiz statt. Sie hat mit der Perspektive geendet, eine weitere zu haben, bei der Russland dabei ist. Es ist gut, dass zum Beispiel ein Land wie Indien den festen Willen hat, hilfreich zu sein, um dabei weiterzukommen. Wir brauchen mehr solche Länder. Indien ist auf alle Fälle eines, das diesbezüglich einen sehr ernsten Willen hat und auch wirklich eine gute Rolle spielen kann.

Frage: Herr Bundeskanzler, Indien allein hat 1,4 Milliarden Menschen, sogar mehr. Indien ist auch noch Teil eines Konglomerats, eines Bundes, der sogenannten BRICS-Staaten. Wie glauben Sie, wie glauben wir, dem überhaupt etwas entgegenhalten zu können, sei es Deutschland, sei es Europa oder die G7, meinetwegen sogar die G20. Was können wir dagegen halten?

Wenn Sie erlauben, noch eine Frage zur Innenpolitik: Sie haben zu einem Industriegipfel eingeladen. Der Wirtschaftsminister hat ein Wirtschaftspapier vorgelegt. Jetzt hat auch Ihr liberaler Koalitionspartner Herr Lindner zu einem Wirtschafts- und Industrietreffen eingeladen. Das wirkt, ehrlich gesagt, ein bisschen unkoordiniert. Was sagt das über den Zustand der Koalition aus? Denken Sie, die Koalition wird gemeinsam Weihnachten feiern?

Bundeskanzler Scholz: Weihnachten wird immer gefeiert.

Zu den konkreten Fragen, die Sie gestellt haben: Ich bin dezidiert der Meinung, dass es falsch wäre, die Welt aufzuteilen und den Bedeutungszuwachs vieler Länder im Süden der Welt, also von Indonesien, Indien, um zwei zu nennen, von Ländern wie Südafrika und Brasilien, als Problem zu betrachten. Das sind Partner für die Welt von morgen. Es ist gerade unsere Aufgabe als Deutschland in Europa, als Europäische Union, als die Länder, die einmal die klassischen Industrieländer genannt worden sind, diese Partnerschaft auch von sich aus zu wollen und vorzubereiten. Wenn sich diese Länder jetzt sich zu Wort melden, dann ist das kein Problem, sondern Teil dessen, was wir uns für die zukünftige Welt vorstellen, damit das miteinander gelingen kann. Das ist der Weg.

Einen Teil des Weges haben wir gezeichnet: Deutschland und Namibia haben es zusammen mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen innerhalb von zwei Jahren möglich gemacht, dass die Vereinten Nationen jetzt einen „Pact for the Future“ angenommen haben, der auch die Reform internationaler Institutionen mit vorsieht und dazu beitragen soll, dass sie auf die Zukunft vorbereitet sind.

Wenn wir es richtig machen, kann die multipolare Welt eine bessere Welt sein als heute. Das setzt aber voraus, dass bestimmte Prinzipien immer beachtet werden, und da will ich ganz klar noch einmal sagen: Eines dieser Prinzipien, das in der UN-Charta und an vielen anderen Orten festgelegt ist, ist das Prinzip, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden. Deshalb ist der russische Angriff auf die Ukraine auch ein Angriff auf die Sicherheitsarchitektur nicht nur Europas, sondern der Welt; denn wir haben uns alle in unglaublich vielen Beschlüssen, Dokumenten, Verständigungen immer wieder dazu bekannt, dass die Grenzen nicht mit Gewalt verändert und verschoben werden dürfen.

Was die Lage in Deutschland betrifft, so ist ganz klar: Wir müssen etwas dafür tun, dass unsere Wirtschaft besser wächst. Dazu haben wir bereits mit der Wachstumsinitiative einen ganz wichtigen Aufschlag gemacht, und Stück für Stück, Woche für Woche, kommen Gesetze, die aus dieser Verabredung folgen, in den Deutschen Bundestag. Da ist die gesamte Regierung sehr engagiert. Wir haben in den letzten Jahren viele Entscheidungen getroffen, um Bürokratie abzubauen und die Rahmenbedingungen für Wachstum zu verbessern.

Jetzt geht es darum, das ganz konkret weiter zu betrachten; denn da ist ja etwas zu tun. Die Weltkonjunktur hilft uns nicht, und die Konjunktur in Deutschland hat auch nicht angezogen. Deshalb muss man sich mit allen unterhalten. Ich war jetzt zum Beispiel wieder bei einem meiner regelmäßigen Gespräche mit verschiedenen Verbänden der Wirtschaft – Arbeitgeberverband, Handelskammertag –, mit dem Handwerk und auch natürlich mit der Industrie, und ich werde diese Gespräche in großer Kontinuität immer weiter fortsetzen. Ich habe besprochen, dass ich mich mit den Handwerkern ganz konkret über ihre Fragen unterhalten werde. Wir versuchen gerade, das zu fokussieren, damit das geschehen kann.

Natürlich müssen wir angesichts der Bedeutung, die die Industrie in Deutschland hat, auch ganz konzentriert über die Frage reden: Was kann getan werden, damit die industriellen Perspektiven in Deutschland so optimal wie möglich ausgestaltet werden? Darüber muss man sprechen. Wichtig ist mir allerdings: Wir müssen wegkommen von den „Theaterbühnen“, wir müssen wegkommen davon, dass irgendetwas präsentiert und vorgeschlagen wird, was dann gar nicht von allen akzeptiert und angenommen wird. Es muss um ein großes Miteinander gehen. Deshalb ist mir wichtig, dass wir, wenn wir die industriellen Perspektiven, aber auch andere Fragen betrachten, nicht versuchen, uns irgendwie vorzuführen, sondern dass es darum geht, einen gemeinsamen Konsens zu entwickeln. Wenn das gelingt, dann ist das gut und sicherlich auch etwas, das ein Rat an die Politik in Deutschland ist, der dann sicherlich auch von allen gerne angenommen wird. Aber das will ich unbedingt erreichen: dass nicht immer irgendwas gesagt wird, sondern dass sich alle unterhaken.

Frage: Herr Bundeskanzler, ich würde Sie gerne zu den Berichten über die Verlegung nordkoreanischer Truppen nach Russland fragen: Wie besorgt sind Sie darüber, und welche Möglichkeiten hätte der Westen zu reagieren, wenn diese Soldaten in den Ukraine-Krieg eingreifen?

Außerdem noch eine Nachfrage zu dem Industriegipfel: Warum haben Sie Herrn Lindner und Herrn Habeck eigentlich nicht zu Ihrem Gipfel eingeladen? Damit hätten Sie sich ja vielleicht die Veranstaltung von Herrn Lindner, die er jetzt plant, und das Papier von Herrn Habeck ersparen können.

Bundeskanzler Scholz: Es ist so, dass wir uns alle gemeinsam sehr bemühen müssen darum, dass Dinge vorankommen. Zu den Möglichkeiten des Bundeskanzlers und den Anforderungen an den Bundeskanzler gehört auch, mit Vertretern der Wirtschaft zu sprechen. Das tue ich übrigens oft – meistens ohne dass darüber berichtet wird –, mit oft sehr konkreten und pragmatischen Folgen. In der konkreten Situation ist es meine Aufgabe, ein solches Gespräch zu führen – und das übrigens auch nicht nur an einem Datum, sondern als etwas, wo ich mir schon eine längere Entwicklung vorstelle. Ich erwarte also nicht, dass 24 Stunden später etwas herauskommt; vielmehr soll das ja gemeinschaftlich geschehen. Die Vertraulichkeit ist dazu ganz zentral. Das schließt ja andere nicht aus – weder ihre Aktivitäten noch überhaupt aus dem gemeinsamen Handeln der Bundesregierung, um das es mir ja nun auch immer geht. Wie jeder merkt, verwende ich ja auch sehr viel Zeit darauf, dass Konsense und Entscheidungen zustande kommen. Auch wenn es nicht immer einfach ist, ist das weiter die Aufgabe, der ich nachkomme.

Die Frage der Verlegung von nordkoreanischen Soldaten nach Russland und ihr möglicher Einsatz im Ukrainekrieg ist sehr besorgniserregend; das kann man gar nicht unterschätzen. Das ist schlimm, und das ist natürlich etwas, das die Situation weiter eskaliert. Es zeigt gleichzeitig natürlich auch, dass der russische Präsident in größter Not ist. Er hat sich jetzt ja mit Ländern verbündet, die er für deren Gebaren vor einiger Zeit noch in einer anderen Rolle heftig kritisiert hat. Das ist aber auch wieder ein Grund, dafür zu sorgen, dass wir neben der notwendigen, festen und verlässlichen Unterstützung der Ukraine auch gemeinsam mit der Ukraine ausloten müssen: Wie kommen wir jetzt vielleicht doch zu einem gerechten und fairen Frieden für die Ukraine?