Kanzler im Interview mit dem Tagesspiegel
Der Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft sei eine sehr ernste und gefährliche Angelegenheit. „Wir gehen deshalb Schritt für Schritt vor und wägen mögliche Folgen einer Entscheidung genau ab“, so Kanzler Scholz im Interview mit dem Tagesspiegel. Zudem spricht der Kanzler über die Energieversorgung und das Ziel Deutschlands, komplett klimaneutral zu wirtschaften.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Interview mit dem Tagesspiegel.
Foto: Bundesregierung/Denzel
Herr Bundeskanzler, war die Entscheidung, der Ukraine Leopard-Kampfpanzer zu liefern, Ihre bislang schwerste?
Bundeskanzler Olaf Scholz: Jede Entscheidung, die ich seit Beginn des furchtbaren russischen Angriffskriegs getroffen habe, war schwer. Russland hat mit seinem Überfall auf die Ukraine eine Verständigung aufgekündigt, die für viele Jahrzehnte Sicherheit in Europa garantiert hatte: nämlich, dass mit Gewalt keine Grenzen verschoben werden dürfen. Darin besteht die Zeitenwende. Deswegen unterstützen wir die Ukraine nicht nur finanziell, humanitär und militärisch, sondern stärken auch unsere eigene Verteidigungsfähigkeit. All diese Entscheidungen haben wir sorgfältig abgewogen und uns dabei stets an das Prinzip gehalten: Wir handeln nicht allein, sondern gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern.
Sie haben es als Gratwanderung beschrieben, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen und gleichzeitig Deutschland nicht in Gefahr zu bringen. Wie groß ist Ihre Sorge vor einer Eskalation und einer nuklearen Reaktion Russlands?
Scholz: Ein deutscher Kanzler, der seinen Amtseid ernst nimmt, muss alles dafür tun, dass aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine kein Krieg wird zwischen Russland und der NATO.
…der automatisch ein Weltkrieg wäre?
Scholz: Deshalb folgen wir jenen nicht, die fast leichtfertig empfehlen, Deutschland solle voranmarschieren. Wir handeln immer international eng abgestimmt und koordiniert. Alles andere würde die Eskalationsgefahr erhöhen und wäre unverantwortlich. Viele Bürgerinnen und Bürger hoffen jeden Abend beim Nachrichtenschauen, dass der Kanzler die Nerven behält. Das tue ich.
Bereiten Ihnen die Entscheidungen, die Sie treffen müssen, nie schlaflose Nächte?
Scholz: Es gehört zu meinem Amt, Druck aushalten zu können. Dieser Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist eine sehr ernste und gefährliche Angelegenheit. Eine Lage, in der es keine Gewissheiten gibt. Man kann sich die richtige Entscheidung nicht von einem Mathematikprofessor errechnen lassen, keinen Algorithmus fragen. Wir gehen deshalb Schritt für Schritt vor und wägen mögliche Folgen einer Entscheidung genau ab. Das zeichnet Standfestigkeit und Besonnenheit aus – auch wenn manche meinen, das als Zögerlichkeit verunglimpfen zu müssen.
In Ihren Reden verweisen Sie auf die Ängste in der Bevölkerung. Wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr?
Scholz: Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger sind auf Seite der Ukraine und wissen: Dieses Land hat jedes Recht, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen. Deshalb sind sie dafür, die Ukraine zu unterstützen. Natürlich gibt es auch einige, die unsicher sind, ob es richtig ist, der Ukraine auch Waffen zu liefern. Andere fordern, wir sollten noch mehr machen. Aber die allermeisten Deutschen finden es richtig, dass die Regierung alle Entscheidungen sorgfältig abwägt.
Bei der Kampfpanzer-Entscheidung haben Sie darauf beharrt, dass Deutschland nur liefert, wenn die USA ebenfalls Abrams-Kampfpanzer schicken. Hatte dieses Beharren etwas mit der Sorge zu tun, Deutschland könne ansonsten zu exponiert sein und würde womöglich im Ernstfall nicht mehr unter den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner fallen?
Scholz: Wer unsere Entscheidungen betrachtet, wird feststellen: Wir haben immer gemeinsam mit anderen gehandelt, insbesondere mit den USA. Das ist nicht neu, sondern das Prinzip, nach dem wir von Beginn an handeln.
Aber eine rein europäische Panzerallianz wollten Sie nicht? Das hätte die Gespräche, gerade was die Lieferung der Leopard-Kampfpanzer betrifft, deutlich verkürzt.
Scholz: Für mich gilt, dass wir keine nationalen Alleingänge machen, sondern uns eng abstimmen mit den internationalen Partnern, allen voran mit den USA. Es ist für die Sicherheit Europas von größter Bedeutung, dass wir uns eng mit den USA absprechen. Ohne die Vereinigten Staaten wäre Sicherheit in Europa nur schwer zu gewährleisten.
Wie passt das zusammen mit dem Ziel, dass Europa souveräner werden muss?
Scholz: Wir brauchen ein geopolitisch souveränes und starkes Europa. Was darunter zu verstehen ist, habe ich in meiner Prager Rede skizziert – eine starke europäische Rüstungsindustrie zum Beispiel und Mehrheitsentscheidungen in der EU zu Fragen der Außenpolitik. Das ist unser Ziel, da sind wir aber längst noch nicht.
Ist für Sie mit der Lieferung von Leopard-Panzern eine rote Linie erreicht, was die militärische Unterstützung für die Ukraine anbelangt?
Scholz: Die Situation in einem solchen Krieg ist hochdynamisch, die Lage wandelt sich. Das zeigt sich schon daran, wie sich unsere Waffenlieferungen verändert haben: Anfangs schultergestützte Panzerabwehrwaffen, dann Systeme zur Luftverteidigung, schwere Artillerie, nun sogar Kampfpanzer. Zugleich haben wir immer wieder auch Forderungen abgelehnt, wie etwa die nach Schaffung einer Flugverbotszone über der Ukraine. US-Präsident Joe Biden und ich waren uns einig, dass das zu einer unmittelbaren Beteiligung der NATO an diesem Krieg geführt hätte. Und die darf es nicht geben. Vergangene Woche im Bundestag habe ich auch klar gesagt, dass wir keine Bodentruppen in die Ukraine schicken werden.
Es kommen aber jetzt bereits die nächsten Forderungen aus der Ukraine: Kampfflugzeuge. Die USA und Frankreich schließen das nicht aus. Sie haben sich klar dagegen ausgesprochen. Ist der nächste Ärger programmiert?
Scholz: Nein, die Frage der Kampfflugzeuge stellt sich doch gar nicht. Ich kann nur davon abraten, in einen ständigen Überbietungswettbewerb einzusteigen, wenn es um Waffensysteme geht. Wenn, kaum dass eine Entscheidung getroffen ist, in Deutschland die nächste Debatte beginnt, wirkt das wenig seriös und erschüttert das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Entscheidungen. Solche Debatten sollten nicht aus Gründen der innenpolitischen Profilierung geführt werden. Mir ist jetzt wichtig, dass alle, die angekündigt haben, Kampfpanzer an die Ukraine liefern zu wollen, das jetzt auch tun.
Können Sie ausschließen, dass es am Ende bei Kampfflugzeugen wieder so sein wird: Es kommt die Forderung, Deutschland zögert die Entscheidung heraus, der Druck steigt – und am Ende liefern wir doch?
Scholz: So war es ja nicht, ich teile schon ihre Darstellung ausdrücklich nicht. Wir orientieren uns stets an dem, was die Ukraine einerseits braucht, und was andererseits auch unsere wichtigsten Verbündeten liefern – allen voran die USA, aber auch Großbritannien, Frankreich und andere. Deshalb haben wir die Entscheidung über die Kampfpanzer nun getroffen.
Putin sieht jetzt mit der Lieferung der Kampfpanzer bereits eine rote Linie überschritten und spricht von einer direkten Kriegsbeteiligung.
Scholz: Es gibt keine direkte Beteiligung irgendeines NATO-Staates an diesem Krieg. Und es wird sie auch nicht geben.
War es klug, dass Außenministerin Annalena Baerbock gesagt hat: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland" – und damit eine Kriegsbeteiligung suggeriert hat? Moskau schlachtet das bereits für seine Propaganda aus…
Scholz: Es gibt keinen Krieg zwischen der NATO und Russland. Wir werden eine solche Eskalation nicht zulassen. Darin sind wir uns in der Bundesregierung völlig einig, auch die Außenministerin sieht das so.
Wie groß ist die Bedeutung, die Sie der Krim zumessen? Experten wie der Ex-US-General Ben Hodges weisen ihr eine zentrale Rolle zu: Hier habe der Krieg 2014 begonnen, hier werde sein Ausgang entschieden. Die Ukraine könne nicht sicher sein, solange Russland die Krim besetzt hält. Wie sehen Sie das? Muss die Ukraine die Krim zurückerobern?
Scholz: Wer die Ukraine bei der Verteidigung ihrer Integrität und Souveränität unterstützen will, muss konsequent bleiben – und sollte nicht der Ukraine mitteilen, was ihre Zielsetzungen zu sein haben. Wir werden nicht über den Kopf der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg handeln. Darauf haben wir uns früh verständigt. Präsident Selenskji hat mehrfach seine Bereitschaft zum Frieden unterstrichen und im November einen Friedensplan vorgelegt. Es ist an Putin, Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen und diesen furchtbaren unsinnigen Krieg zu beenden, der schon Hunderttausenden das Leben gekostet hat.
Sie sind einer der wenigen westlichen Verbündeten der Ukraine, der noch mit Putin im Gespräch ist. Sehen Sie irgendeinen Anlass für Hoffnung in diese Richtung?
Scholz: Immer wieder habe ich in den vergangenen elf Monaten mit Putin gesprochen, ähnlich wie Präsident Macron das tut. Zuletzt Anfang Dezember. Und ich werde auch wieder mit Putin telefonieren – weil es nötig ist, dass miteinander gesprochen wird. Aber klar ist natürlich auch: Solange Russland den Krieg in unverminderter Aggression weiterführt, wird sich die jetzige Situation nicht ändern.
Wie müssen wir uns ein Gespräch mit Wladimir Putin vorstellen?
Scholz: Unsere Telefonate sind zwar im Ton nicht unhöflich, aber unsere Sichtweisen sind natürlich völlig verschieden. Man darf sich da keine Illusionen machen: Putin will sich Teile seines Nachbarlandes mit Gewalt einverleiben. Und das ist absolut unakzeptabel.
Und dann diskutieren Sie mit ihm?
Scholz: Sie können davon ausgehen, dass ich da klar Position beziehe. Manchmal ist es auch um konkrete Fragen des Gefangenenaustauschs, der Getreideexporte aus der Ukraine und des Atomkraftwerks Saporischschjia gegangen. Mir ist aber wichtig, dass die Gespräche immer wieder auf das eigentliche Thema zurückkommen: Wie kommt die Welt aus dieser schrecklichen Lage heraus? Die Voraussetzung dafür ist klar: der Rückzug russischer Truppen.
Putins Russland stand auch sofort unter Verdacht, als vor vier Monaten die Nord-Stream-Pipelines sabotiert wurden. Sie haben damals Aufklärung versprochen, trotzdem erfährt die Öffentlichkeit seither quasi nichts dazu. Warum schweigt Ihre Regierung?
Scholz: Die Explosionen trugen sich im schwedischen und dänischen Seegebiet zu, die Ermittlungen sind kompliziert und laufen noch. In einem Rechtsstaat wie Deutschland sollten sich Amtsträger mit Vermutungen zurückhalten und nur verlautbaren, was sie auch beweisen können. Wenn wir etwas sicher sagen können, werden wir auch mehr sagen.
Haben Sie nicht längst neue Geheimdiensterkenntnisse? Es geht immerhin um den größten Anschlag auf eine Infrastruktur in der Geschichte dieser Republik.
Scholz: Spekulationen bringen uns hier nicht weiter. Wir müssen uns an Fakten halten – gerade in so bewegten Zeiten. Ich erinnere nur an den Einschlag von zwei Raketen in Polen im November, bei dem zwei Zivilisten getötet wurden. Auch da haben wir erst den Vorfall untersucht, statt vorschnell Anschuldigungen zu erheben. Es stellte sich heraus, dass es fehlgeleitete Abwehrraketen der Ukraine waren. Putin trägt die alleinige Verantwortung für den Krieg gegen die Ukraine. Wir arbeiten aber nicht mit falschen Behauptungen, sondern warten die Ergebnisse der Ermittlungen ab.
Die Folgen waren schließlich gewaltig. Auf einen Schlag war kurz vor der kalten Jahreszeit klar: Es wird definitiv kein russisches Gas mehr kommen.
Scholz: Und trotzdem kommen wir gut durch den Winter: Was ist da nicht alles prophezeit worden! Viele sagten, wir würden in kalten Wohnungen frieren, unsere gesamte Energieversorgung würde zusammenbrechen und Deutschlands Niedergang sei unabwendbar. All das hat nicht stattgefunden. Die peinlichen Versuche der AfD und der Partei Die Linke, mit diesen Ängsten Stimmung zu machen, sind völlig ins Leere gelaufen. Es gab keinen Wutwinter. Hier hat sich die Stärke unserer Demokratie, unserer Wirtschaft und unseres Sozialstaates gezeigt.
Wie meinen Sie das?
Scholz: Deutschland hat kraftvoll auf die Krise reagiert – eine große Leistung, auf die unser Land durchaus stolz sein kann: Wir haben alternative Energiequellen erschlossen, zusätzliches Gas aus Norwegen und anderen Ländern organisiert, die drei letzten Atommeiler länger am Netz gelassen, in Rekordzeit Flüssiggas-Terminals an unseren Küsten errichtet und parallel die hohen Energiepreise gedämpft. So kommen wir gut durch den Winter.
Noch dringt der Mutmacher Olaf Scholz nicht überall durch mit dieser Botschaft. Umfragen belegen, dass viele Menschen Angst vor Wohlstandsverlusten haben. Eine Studie zeigt, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland an Attraktivität verloren hat. Wie wollen Sie das ändern?
Scholz: Das neue Deutschland-Tempo, das wir beim Bau von Pipelines und LNG-Terminals an den Tag gelegt haben, ist der Maßstab für die Zukunft. Unser Ziel ist es, als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt im Jahr 2045 komplett klimaneutral zu wirtschaften. Um den Ausbau von Windkraft und Solarenergie voranzutreiben, ändern wir gerade das Planungsrecht. Die Unternehmen bekommen die Sicherheit, dass sie jetzt in neue Produktionsweisen mit mehr Strom und Wasserstoff investieren können. Auf Dauer wird Öko-Strom billiger sein und unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern.
In anderen Bereichen ist von Ihrem neuen Deutschland-Tempo aber definitiv noch nicht viel zu sehen, etwa bei der Digitalisierung, dem Bürokratieabbau oder der Verfahrensbeschleunigung. Wie wollen Sie hier vorankommen?
Scholz: Lassen Sie mich zunächst noch dies sagen: Drei große neue Halbleiterfabriken werden in Deutschland gebaut; und weitere Milliardeninvestitionen in den Industriestandort Deutschland werden folgen. Vor den Toren Berlins hat ein US-Unternehmen eine große Fabrik für Elektrofahrzeuge errichtet. All dies geschieht in einem Land, in dem viele Zweifel äußern, ob wir noch ein erfolgreiches Wirtschafts- und Industrieland sind. Ich versichere Ihnen: Wir sind es – und wir werden es bleiben.
Schön zu hören. Aber Sie können doch nicht so tun, als gebe es all die Probleme nicht.
Scholz: Das tut doch keiner: Bei der Digitalisierung müssen wir besser werden, gerade in der öffentlichen Verwaltung. Der Föderalismus muss da Ansporn sein und kein Hindernis. Die Bundesregierung wird diese Modernisierung zu einem zentralen Thema machen. Wir müssen im internationalen Wettbewerb dranbleiben und werden bei Zukunftstechnologien noch mehr tun – etwa bei der medizinischen Forschung, der künstlichen Intelligenz, in der Raumfahrt oder bei Quanten-Computern.
Gerade in diesen Bereichen spielt die Musik doch längst in den USA!
Scholz: In manchen Bereichen mehr, in anderen weniger. Unterschätzen wir nicht unseren Mittelstand, der übrigens ganz ohne staatliche Hilfe weltweit wettbewerbsfähig ist. Und dort, wo Europa gegenwärtig noch zurückliegt, werden wir mit europäischer Industriepolitik dafür sorgen, dass wir wieder vorne dabei sind. Wir brauchen schnellere Entscheidungen und mehr Tempo.
Dann war es nur ein Schönheitsfehler, dass der Koalitionsausschuss genau zu diesem Thema am Donnerstagabend ohne Ergebnis zu Ende ging?
Scholz: Wir habe sehr konstruktiv über Klimaschutz und Verkehr gesprochen. Die Koalition ist entschlossen, die Verkrustungen aufzubrechen, die über Jahrzehnte die Entscheidungsstrukturen unseres Landes blockiert haben.
Das Stichwort „Verkrustungen" ist eine gute Überleitung nach Berlin. Wird es nicht zum Problem, wenn staatliches Handeln als nicht funktional, in Teilen als dysfunktional erlebt wird? Es gibt kaum Termine beim Bürgeramt, Wahlen müssen wiederholt werden, der ÖPNV ist an vielen Stellen unterbrochen.
Scholz: Ach, ich beteilige mich nicht am allseits beliebten Berlin-Bashing. Berlin ist eine Stadt, die zuletzt ein großes Wirtschaftswachstum hatte und dabei manch andere Länder überholt hat. Die Stadt kann stolz sein, was sie gerade bei Start-up-Firmen und der Digitalisierung geschafft hat. Und das ist nicht einfach so passiert. Als sozialdemokratischer Kanzler erlaube ich mir zu sagen, dass das auch etwas mit sozialdemokratischen Bürgermeistern und der jetzigen Bürgermeisterin zu tun hat. Natürlich steht Berlin mit dem großen Bevölkerungszuwachs vor Herausforderungen. Einer so starken Persönlichkeit wie Franziska Giffey traue ich zu, sie zu meistern.
Eines der drängendsten Probleme in der Hauptstadt ist der fehlende Wohnraum. Ihre Koalition hat 400.000 neue Wohnungen pro Jahr versprochen, ein Ziel, das noch in weiter Ferne liegt. Haben Sie schon kapituliert?
Scholz: Natürlich machen die aktuellen Preissteigerungen nach allem, was in der Welt passiert ist, die Sache nicht leichter. Deshalb geben wir unser Ziel aber nicht auf. Ich will es schaffen, bald in einem Jahr 400.000 Wohnungen zu bauen, und das soll dann so bleiben.
2023 klappt es schon mal nicht.
Scholz: Die Folgen der hohen Energiepreise und gestiegenen Baukosten wirken sich da gerade negativ aus. Doch die Gesetzesänderungen, die Franziska Giffey in Berlin und Bauministerin Klara Geywitz im Bund auf den Weg bringen, werden die Lage verbessern. Für den sozialen Wohnungsbau steht viel mehr Geld bereit als in früheren Jahren. Bauunternehmen sollten sich darauf einstellen, jetzt mehr Wohnungen zu planen, die nicht darauf ausgerichtet sind, beispielsweise für 18 Euro den Quadratmeter vermietet oder für mehr als 10.000 Euro pro Quadratmeter verkauft zu werden, sondern die sich an die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger richten. Da ist in Deutschland über Jahrzehnte etwas schief gelaufen.
Was halten Sie von Enteignungen?
Scholz: Durch Enteignungen entstehen keine neuen Wohnungen. Als Sozialdemokrat möchte ich Mieterinnen und Mieter durch ein faires Mietrecht auch vor unfairen Preissteigerungen schützen. Aber: Die Illusion zu verbreiten, dass man es bei einer wachsenden Bevölkerung mit heute völlig veränderten Lebensverhältnissen schaffen könnte, ohne neue Wohnungen zu bauen, die hohe Nachfrage zu decken, halte ich für unverantwortlich.
Haben Sie eigentlich einmal überlegt, von Potsdam nach Berlin zu ziehen, wo sie auch arbeiten?
Scholz: Viele Jahre hatte ich eine Mietwohnung in Berlin. Als Hamburger Bürgermeister habe ich sie irgendwann aufgegeben. Meine Frau Britta Ernst ist Ministerin in Brandenburg und wir wohnen jetzt seit einigen Jahren in Potsdam, was ein sehr schöner Ort zum Leben ist, und ein sehr schöner Wahlkreis. Wir leben da sehr gern.
Haben Sie einen Lieblingsort in der Hauptstadt?
Scholz: Berlin hat viele schöne Orte. Besonders gefällt mir, wie städtebaulich mit der Fläche umgegangen wurde, auf der jetzt Bundestagsgebäude und Kanzleramt stehen. Dass hier nun Gebäude für die Abgeordneten, also die Vertreter des Volkes, stehen, ist ein klarer demokratischer Gegenentwurf zu den größenwahnsinnigen Plänen, die Adolf Hitler für Berlins Mitte hatte. Quer zu seiner geplanten gigantomanischen Paradestraße gibt es jetzt das „Band des Bundes". Das macht nochmal eindrücklich deutlich: Hitler hat verloren.