"Es ist wichtig, Hoffnung zu vermitteln"

Interview mit Kinder- und Jugendpsychologin "Es ist wichtig, Hoffnung zu vermitteln"

Sorgen um den Schulabschluss, keine Treffen mit Spielkameraden, Kontakt zu Freunden nur digital: Die Corona-Pandemie ist für Kinder und Jugendliche eine enorme Belastung. Was können Eltern tun, um ihre Kinder in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen? Die Kinder- und Jugendpsychologin Silvia Schneider gibt wertvolle Tipps - und ist davon überzeugt, dass vielen Kindern die Erfahrungen in der aktuellen Lage langfristig helfen.

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Porträt einer Frau, die an einem Geländer steht.

Silvia Schneider ist Kinder-und Jugendpsychologin. Sie leitet den Lehrstuhl für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie der Ruhr-Universität Bochum.

Foto: Svenja Hanusch

Frau Prof. Dr. Schneider, in dieser Woche wurde der Lockdown verlängert. Weiterhin kein Präsenzbetrieb in den Schulen, nur Notbetreuung in den Kitas. Was lösen diese Nachrichten nach Ihrer Einschätzung bei Kindern und Jugendlichen aus?

Dr. Silvia Schneider: Je länger diese Situation andauert, umso beeinträchtigender ist sie natürlich für Kinder und Jugendliche. Viele Dinge, die wichtig sind für ihre Entwicklung, sind momentan nur sehr eingeschränkt möglich. Freunde zu treffen, sich im Ort mit Gleichaltrigen in Gruppen zu verabreden, die Strukturiertheit des Alltags: All das fehlt. Vor einem Jahr hätten sich viele Kinder und Jugendliche sicher nicht vorstellen können, dass sie sich einmal so darauf freuen werden, wieder in die Schule gehen zu können.

In der ersten Phase der Pandemie überwog oft die Angst vor der Gefahr und der Bedrohung durch das Virus. Jetzt sind es häufiger konkrete Zukunftssorgen. Viele sind verunsichert, wissen nicht, wie es zum Beispiel nach der Schule weitergehen soll. Manche jungen Leute leiden momentan tatsächlich unter Antriebslosigkeit oder depressiven Verstimmungen. Da müssen wir genau hinschauen.

Professorin Dr. Silvia Schneider ist eine renommierte Kinder-und Jugendpsychologin. Sie leitet den Lehrstuhl für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie der Ruhr-Universität Bochum. Zugleich ist sie Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit. Die Ruhr-Universität ist auch an der Initiative "Familien unter Druck"  unter Schirmherrschaft von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey beteiligt.          

Verstehen insbesondere Kinder eigentlich, warum die ganzen Einschränkungen nötig sind?   

Schneider: Das ist ein sehr bedeutender Punkt. Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir deutlich machen, warum es die Maßnahmen und Verhaltensregeln gibt. Und dass wir dadurch dem Ganzen einen Sinn geben.

Wir müssen den Kindern nur immer wieder kommunizieren, dass wir im Moment alle unsere sozialen Kontakte einschränken müssen, weil wir das Virus anders nicht unter Kontrolle bekommen. Kindern kann man das durchaus gut erklären. Sie wissen ja auch beispielsweise von Erkältungskrankheiten, wie schnell man sich bei anderen anstecken kann. Und wenn man dann sagt, dass man das neue Virus zwar nicht sehen, aber einatmen kann, dann verstehen sie schon, warum im Moment alle Masken tragen. Und dass es entscheidend ist, nicht so nah aufeinander zuzugehen, weil das krank machen kann.

Gut ist auch, wenn man den Kindern klar macht, dass wir zwar alle im Moment der Gefahr durch das Virus ausgesetzt sind, wir aber zugleich auch gemeinsam etwas aktiv dagegen unternehmen können und als Familie zusammenhalten. Dann ist die Lage auch für die Kinder besser zu ertragen. Es ist also wichtig, Hoffnung zu vermitteln, die es ja auch gibt, unter anderem durch die Impfstoffe.   

Ist die aktuelle Zeit eigentlich für Kinder oder für Jugendliche schwieriger?

Schneider: Ich glaube schon, dass im Moment die Jugendlichen stärker betroffen sind. Es gibt ja bei allen Menschen verschiedene sogenannte Entwicklungsaufgaben, die man zu bewältigen hat, von der Geburt an bis zum hohen Alter.

Die Pubertät und die Jugend sind eine ganz besondere Phase: Sie steht für den Wechsel von der Schule ins Berufsleben, für die Ablösung von der Primärfamilie, für das Ausprobieren und das Entdecken von eigenen neuen sozialen Beziehungen. Dazu gehört, vielleicht den ersten Freund oder die erste Freundin zu haben und mit Gleichaltrigen Grenzen auszutesten. Wenn Kontakte fast ausschließlich über Videocalls gepflegt werden können, dann ist das für die Jugendlichen schon sehr einschneidend für die Entwicklung. Wichtige Erfahrungen bleiben im Moment auf der Strecke.

Auch viele Eltern stoßen in diesen Zeiten an ihre Grenzen. Ist es hilfreich, Gefühle zu zeigen und auch über Sorgen zu sprechen?

Schneider: Gerade in dieser Zeit sollte Gefühlen Raum gegeben werden. Warum nicht einmal dem eigenen Kind sagen, dass es gerade eine ganz schwere Zeit ist. Und dass es in Ordnung ist, dass du traurig bist, weil du deine Freunde oder Oma und Opa nicht treffen und du deinen Sport oder deine Hobbys nicht oder kaum ausüben kannst. Dem Kind zu vermitteln, dass es seine Traurigkeit auch zulassen, es auch weinen kann, ist für viele Kinder eine Erleichterung. Zugleich ist es wichtig, Perspektiven zu geben und deutlich zu machen, dass wir alle den Einschränkungen nicht auf Dauer ausgeliefert sind.

Corona ist in vielen Familien im Moment sicher das beherrschende Thema...

Schneider: Und damit dies nicht zu sehr belastet, sollte man eine Struktur, einen Tagesablauf unbedingt beibehalten und nicht einfach so in den Tag hineinleben. Dazu gehört, nach Möglichkeit auch den Schulalltag im Homeschooling jeden Tag nach einem festen Muster zu gestalten.

Es hilft auch, die Auseinandersetzung mit Corona zeitlich zu begrenzen. Man kann sich ja zum Beispiel vornehmen, sich morgens und abends kurz über das Thema zu informieren, und sich den Rest des Tages mit anderen Dingen zu beschäftigen oder seine Kontakte zumindest digital zu pflegen. Sich nicht den ganzen Tag nur über das negative Thema Corona auszutauschen, hilft der Seele ungemein und ist wichtig für das Familienleben.   

Gibt es vielleicht auch irgendetwas Positives in der aktuellen Zeit?

Schneider: Erfreulicherweise tatsächlich. Für manche Familien, gerade mit jüngeren Kindern, ist es im Moment bei allen Problemen in gewisser Hinsicht auch eine schöne Zeit. Viele berichten davon, dass sie mehr zusammen spielen, kochen oder backen: also wertvolle Familienzeit miteinander verbringen. Das ist so ein Gefühl, wie man es aus der Weihnachtszeit kennt, wenn die ganze Familie beisammen ist und es kaum Ablenkung von außen gibt.

Man muss aber beachten, dass diese positiven Erfahrungen oft Mittelschicht-Familien mit ausreichend großen Wohnungen machen, in denen sich Kinder und Eltern auch mal zurückziehen können. Da, wo Rahmenbedingungen wenig günstig sind, wo zum Beispiel die Wohnverhältnisse beengt oder Eltern psychisch sehr belastet sind, gibt es dagegen ein höheres Potenzial für Krisen und Konflikte. Das muss weiter besonders in den Blick genommen werden.               

Viele sprechen davon, dass Kinder und Jugendliche die Erfahrungen der Pandemie nachhaltig prägen werden. Was meinen Sie?

Schneider: Das wird sicherlich so sein. Natürlich umso mehr, je länger die massiven Veränderungen im Alltag andauern werden. Eines ist mir aber besonders wichtig: Wir alle, aber auch Kinder und Jugendliche, werden durch Krisen gestärkt. Sie gehören zum Leben dazu. Wenn wir diese gesamtgesellschaftliche Krise gemeistert haben, können wir alle davon etwas Positives mitnehmen: nämlich die Erfahrung, dass man eine Krise bewältigen kann. Für jeden Einzelnen bedeutet dies, dass man lernt, selbstwirksam zu sein. Im besten Fall können auch Kinder und Jugendliche nach der Pandemie sagen: Das war eine sehr schwierige Zeit. Aber sie hat mir geholfen, die nächste Krise besser angehen zu können.

Die Bundesregierung unterstützt zahlreiche Hilfs-und Beratungsangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern. Dazu gehören auch mehrere Hilfetelefone. Eine Übersicht bietet das Bundesfamilienministerium.