Interview zu Artikels 23 des Grundgesetzes
Der Artikel 23 des Grundgesetzes erklärt die „Verwirklichung eines vereinten Europas“ zum Staatsziel. Dieser Artikel in seiner jetzigen Form wurde erst 1992 eingeführt. Wie ist es dazu gekommen? Wie wirkt Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit? Diesen Fragen geht Juliane Kokott nach. Sie ist Generalanwältin am Gerichtshof der EU.
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Juliane Kokott, Generalanwältin des Gerichtshofes der Europäischen Union, wirbt dafür, dass die EU die Menschen kontinuierlich überzeugt, Teil von ihr zu bleiben.
Foto: Gerichtshof der Europäischen Union, Fotograf: Enrico Accetto
Artikel 23 des Grundgesetzes in seiner jetzigen Form wurde 1992 eingeführt. Warum brauchte man die spezielle Regelung?
Juliane Kokott: Die Einführung des Artikels 23 des Grundgesetzes in seiner jetzigen Form erfolgte im Zusammenhang mit der Reform der Europäischen Gemeinschaften und der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht. Es bestanden Zweifel, ob die durch den Vertrag initiierte fortschreitende Integration, etwa die Währungsunion und die Unionsbürgerschaft, noch auf die bisherige verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage, Artikel 24 Absatz 1 Grundgesetz, gestützt werden konnte, die ganz allgemein die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen erlaubt. Daher wollte der Verfassungsgesetzgeber eine gesonderte Regelung für die Europäische Union schaffen, die dann als Grundlage für das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht fungieren sollte. Hierzu wurde die mit der deutschen Einigung freigewordene Stelle des Artikel 23 des Grundgesetzes genutzt, auch um den Zusammenhang von nationaler und europäischer Einigung zu unterstreichen.

Der Vertrag von Maastricht – ein besonderes Dokument im europäischen Einigungsprozess.
Foto: imago/Xinhua
Gleich im ersten Satz des Artikels 23 geht es um einen Verfassungsauftrag, was ist dessen Gegenstand?
Juliane Kokott: Der Verfassungsauftrag in Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes ist darauf gerichtet, zur Verwirklichung eines vereinten Europas an der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken. Die Staatszielbestimmung zur Verwirklichung eines vereinten Europas war schon zuvor in der Präambel des Grundgesetzes angelegt.
Darüber hinaus konkretisiert besagter Artikel als Weg zur Verwirklichung der angestrebten Vereinigung nun die Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union. Dieser Auftrag richtet sich nicht zwingend auf die konkrete Struktur der Europäische Union, wie sie durch die Verträge aktuell konzipiert ist, sondern allgemeiner auf jegliche politische Vereinigung Europas, die die Strukturen einer Union aufweist. Da dieser Auftrag anders als andere Staatszielbestimmungen zwingend die Zusammenarbeit mit anderen Staaten erfordert, kann er nur eine Verpflichtung zum Tätigwerden, nicht aber eine Verpflichtung auf den Erfolg enthalten.
Gut zu wissen – Artikel 23 des Grundgesetzes:
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Hier finden Sie den weiteren Text des Artikels.
Wie wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Europas mit?
Juliane Kokott: Als Weg zur Erfüllung des Auftrags der Vereinigung Europas gibt Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes die Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union vor. Bei der genauen Ausgestaltung dieser Mitwirkung bleiben weite Gestaltungspielräume für die politischen Organe. Die zentralen Elemente der Mitwirkung der Bundesrepublik sind die Übertragung von Hoheitsrechten und die Mitgestaltung des Unionsrechts. Letzteres umfasst die Mitarbeit der Bundesregierung am Erlass von Recht durch die Europäische Union, dem sogenannten Sekundärrecht, die Umsetzung von Unionsrecht (insbesondere von Richtlinien) sowie die Ausführung und Beachtung von Unionsrecht durch deutsche Stellen.
Wann werden Hoheitsrechte übertragen?
Juliane Kokott: Mit der Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt Deutschland eine internationale Einrichtung, unmittelbar innerstaatlich rechtsverbindlich zu handeln. Die Übertragung von Hoheitsrechten erlaubt der internationalen Einrichtung also einen Durchgriff auf deutsche Bürgerinnen und Bürger ohne eine Zwischenschaltung der deutschen Hoheitsgewalt. Dabei bedeutet die Übertragung nicht, dass diese Hoheitsrechte unwiederbringlich verloren sind. Im Rahmen der Europäischen Union kann Deutschland vielmehr übertragene Hoheitsrechte häufig weiterhin ausüben, soweit die Union nicht aktiv geworden ist, und auch eine Beendigung der Übertragung ist nicht ausgeschlossen.
Prof. Dr. Juliane Kokott wurde 1957 in Frankfurt am Main geboren, sie studierte von 1976 bis 1982 Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn und Genf. 1985 erlangte sie den Doktorgrad in Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg. Juliane Kokott wurde am 7. Oktober 2003 zur Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union ernannt und ist von 2006 bis 2007 Erste Generalanwältin. 2009, 2015 und 2021 wurde sie jeweils für weitere sechs Jahre in ihrem Amt bestätigt.
Wie haben sich Ziele und Herausforderungen für die Europäische Union im Laufe der Zeit gewandelt?
Juliane Kokott: Das wichtigste Ziel bei Gründung der Montanunion nach den Weltkriegen war die Friedenssicherung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit. Mit der Zeit wurde immer stärker die Einführung eines gemeinsamen Marktes angestrebt. Spätestens ab der Gründung der Europäischen Union weiteten sich die zuvor vornehmlich wirtschaftlichen Absichten auch auf politische Ziele aus. Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union definiert die aktuellen Ziele unter anderem als die Förderung des Friedens, der Werte der Europäischen Union sowie des Wohlergehens ihrer Völker, aber auch der Grundfreiheiten, insbesondere des Binnenmarkts, und die Bekämpfung von Diskriminierungen. Die Werte der Union sind gemäß Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Achtung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte.
Auf dem Weg zu diesen Zielen hat die Europäische Union immer wieder Krisen überwunden. Während anfangs die Kriegsfolgen eine große Herausforderung darstellten, führten später wirtschaftliche Schwierigkeiten und interne Meinungsverschiedenheiten zu Phasen der Stagnation. Auch die Beitritte neuer Mitgliedstaaten stellten die Union jeweils vor neue Herausforderungen. Aktuell befindet sich die Europäische Union in einer Phase von dicht aufeinanderfolgenden, miteinander verwobenen Krisen: etwa der Finanz-, Migrations-, und Klimakrise, der Pandemie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Zusätzlich gefährden euroskeptische Tendenzen und die Krise der Rechtsstaatlichkeit den Zusammenhalt.
Gut zu wissen – Der Gerichtshof der Europäischen Union
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ist dafür verantwortlich in Fragen von EU-Recht Recht zu sprechen. Der EuGH gewährleistet damit, dass es in allen EU-Ländern auf die gleiche Weise angewendet wird. Außerdem entscheidet er in Rechtsstreiten zwischen nationalen Regierungen und EU-Institutionen.
Die Europäische Union hat heute auch im Inneren Gegner und Widersacher. Woran liegt das und wie könnte man ihnen begegnen?
Juliane Kokott: Da die Integration immer weiter fortschreitet, ist die Union für die genannten Krisen, aber auch für andere gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Herausforderungen mitverantwortlich. Gleichzeitig schrumpfen die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten, diesen Entwicklungen zu begegnen, tatsächlich oder auch nur dem Anschein nach. Und schließlich werden der Union teilweise auch Entwicklungen vorgeworfen, für die letztlich die Mitgliedsstaaten verantwortlich sind. Daher ist es nicht überraschend, dass politische Bewegungen sich (auch) gegen die Union wenden.
Da die Union sich nach Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union insbesondere auf die Werte der Freiheit und Demokratie sowie die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Meinungsfreiheit in einer pluralistischen Gesellschaft gründet, sind solche Bewegungen grundsätzlich legitim. Die politische Führung der Union, das heißt das Parlament, der Rat und die Kommission sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten, muss ihnen in erster Linie im Diskurs begegnen: Durch Zuhören und Berücksichtigung berechtigter Anliegen, durch Aufklärung über bereits getroffene Unionsmaßnahmen sowie Möglichkeiten und Grenzen weiterer Maßnahmen, aber auch durch eine offene Diskussion im Meinungsstreit. In diesem Diskurs, aber auch durch die Ergebnisse ihrer Politik muss die Union die Bürger kontinuierlich davon überzeugen, dass es sich lohnt, ein Teil von ihr zu bleiben. Nur wenn die inneren Gegner der Union rechtliche Grenzen verletzen, etwa durch Gewalt, ist an Sanktionen zu denken. Diese obliegen allerdings vorrangig den Mitgliedstaaten.
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Ist die Europäische Union wehrhaft? Gibt es auch rechtliche Möglichkeiten, um den Fortbestand der Europäischen Union zu sichern?
Juliane Kokott: In letzter Zeit haben insbesondere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten Herausforderungen für den Fortbestand der Europäischen Union als Werteunion geschaffen. Die Europäische Union hat eine Reihe von Möglichkeiten, diesen Verstößen zu begegnen. Wenn ein Mitgliedstaat die Werte der Union verletzt, können alle anderen Mitgliedstaaten gemeinsam das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union zur Anwendung bringen, das sowohl einen Präventions- als auch einen Sanktionsmechanismus enthält. Dieses Verfahren setzt jedoch Einstimmigkeit unter den übrigen Mitgliedstaaten voraus, so dass bereits zwei Mitgliedstaaten ausreichen, um seine Anwendung zu verhindern. Seit 2020 gibt es als weiteres Instrument daher den Konditionalitätsmechanismus, der es bei rechtsstaatlichen Problemen erlaubt, die Unionszahlungen an die betreffenden Mitgliedstaaten einzuschränken. Dessen Anwendungsbereich umfasst aber nur Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit, die unmittelbare Risiken für den Haushalt der Union begründen.
Wenn diese politischen Verfahren an ihre Grenzen stoßen, ist oft der Europäische Gerichtshof gefordert. Dieser definiert im Rahmen von gerichtlichen Verfahren, wie zum Beispiel Vertragsverletzungsverfahren oder aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen mitgliedstaatlicher Gerichte, teilweise sehr genau, welche Anforderungen an den Rechtsstaat in den verschiedenen Mitgliedsstaaten zu stellen sind.
Grundsätzlich ist der Fortbestand der Union jedoch eine freie politische Entscheidung der Mitgliedstaaten. Wie der BREXIT gezeigt hat, steht es ihnen frei, die Union zu verlassen, wenn sich in ihrem politischen System die Gegner der Union durchsetzen. Das unterstreicht die Bedeutung der politischen Überzeugungsarbeit für den weiteren Bestand der Union.
Gut zu wissen – Was wäre, wenn es die EU nicht gäbe?
70 Jahre Frieden, offene Grenzen und Wohlstand: Die EU ist so allgegenwärtig, dass wir ihre Vorteile oft für selbstverständlich halten. Doch wie sähe unser Leben aus, wenn es die Europäische Union nicht gäbe?
Welche Bedeutung hat Artikel 23 des Grundgestzes für den Fortbestand der Europäischen Union?
Juliane Kokott: Artikel 23 des Grundgesetzes ist die Grundlage der fortdauernden deutschen Beteiligung an der Europäischen Union. Insbesondere verpflichtet dieser Artikel Deutschland für den Fortbestand der Europäischen Union einzutreten. Daher setzt er einem Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union jedenfalls Grenzen. Durch Anforderungen an die Struktur der Union und die Schranken der Integration kann Artikel 23 des Grundgestzes allerdings zumindest theoretisch einer weiteren Mitgliedschaft entgegenstehen, wenn die Union sich in einer Art und Weise entwickeln sollte, die mit Artikel 23 nicht mehr vereinbar ist. Die Mitgliedstaaten, nicht zuletzt Deutschland, haben es allerdings in der Hand, auf die langfristige Wahrung dieser strukturellen Anforderungen hinzu wirken.
Im Übrigen bindet Artikel 23 des Grundgesetzes nur deutsche staatliche Stellen. Der Fortbestand der Europäischen Union hängt daher maßgeblich auch von den anderen Mitgliedsstaaten sowie von ihren Zivilgesellschaften und von der Zivilgesellschaft der Union insgesamt ab.
Gut zu wissen – 75 Jahre Grundgesetz
In diesem Jahr wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Weitere Informationen rund um das Grundgesetz sowie über die in diesem Jahr geplanten Feierlichkeiten finden Sie auf der Themenseite „75 Jahre Grundgesetz“.
Wo sehen Sie die Europäische Union in 30 Jahren?
Juliane Kokott: Die nächsten 30 Jahre werden für die Europäische Union nicht leichter: Auf politischer Ebene sind Konflikte mit Russland und vielleicht auch China zu nennen sowie die im Vergleich mit Europa zunehmende Bedeutung von Staaten wie Indien, Indonesien oder Vietnam und die ungewissen Entwicklungen in den USA. Noch fundamentaler sind die ökologischen Herausforderungen durch den Klimawandel, den Verlust von Biodiversität und die Erschöpfung natürlicher Ressourcen. Das alles geschieht vor dem Hintergrund des demographischen Wandels: Überall in Europa altert und schrumpft die heimische Bevölkerung. Ob Migration dies ausgleichen kann, ist extrem umstritten, und auf längere Sicht auch zweifelhaft, da andernorts ähnliche Entwicklungen erkennbar sind.
Wenn die Europäische Union alle diese Herausforderungen meistern sollte, würde sie in 30 Jahren deutlich gestärkt sein: Sie würde nochmals deutlich mehr Aufgaben übernehmen als heute schon und die Staaten des westlichen Balkans, die Ukraine und Moldawien sowie möglicherweise auch wieder das Vereinigte Königreich integrieren.
Scheitert die Union daran, so ist nicht nur ihr eigener weiterer Bestand zweifelhaft, sondern auch der Wohlstand, die Bedeutung und in manchen Fällen sogar der Fortbestand ihrer Mitgliedstaaten, man denke etwa an die baltischen Staaten im Angesicht Russlands oder das Risiko eines Atomkriegs.
Am wahrscheinlichsten erscheint mir momentan ein Mittelweg: Die Union wird der Zukunft mit hart erarbeiteten Kompromissen begegnen, teilweise auch mit Instrumenten flexibler Integration, an der sich viele, aber nicht alle Mitgliedstaaten beteiligen. Nicht alles wird gelingen. Auch kann Europa die genannten Herausforderungen oftmals gar nicht allein bewältigen, sei es, weil die Entwicklungen bereits zu weit fortgeschritten sind, sei es, weil die Lösungen auch (oder sogar vor allem) von anderen Teilen der Welt abhängen. Ich hoffe dennoch, dass die Anstrengungen ausreichen werden, damit die Union und ihre Mitgliedstaaten auch in 30 Jahren noch in Vielfalt geeint sind.
Prof. Kokott bedankt sich bei Hannah Kuhn für die Unterstützung bei der Beantwortung der Fragen.