„Wir müssen lernen, kritisch mit Quellen umzugehen“

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Interview zur Desinformation während der Europawahl „Wir müssen lernen, kritisch mit Quellen umzugehen“

Desinformationen erkennen und dagegen vorgehen, ist die Aufgabe von Lutz Güllner und seinem Team beim Europäischen Auswärtigen Dienst. Im Interview erklärt er, welche Rolle Informationsmanipulation vor Wahlen spielt und wie die Gesellschaft sich schützen kann.

4 Min. Lesedauer

Lutz Güllner

Lutz Güllner: „Die Europawahlen sind sicher und wichtig.“

Foto: Lutz Güllner

Lutz Güllner ist der Chef der Abteilung Strategische Kommunikation des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Das macht ihn schon von Amts wegen zu einem der kompetentesten und am besten informierten Beobachter ausländischer Desinformationskampagnen. Kurz vor der Europawahl gibt er seine Einschätzung zu der aktuellen Lage ab.

Herr Güllner, am 9. Juni wird das Europäische Parlament neu gewählt. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr von Desinformation für die diesjährigen Europawahlen ein?

Güllner: Die Gefahr ist real. Gleichzeitig ist es mir sehr wichtig, dass wir nicht in die Falle tappen und sagen, dass diese Wahlen automatisch massiv manipuliert sein werden. Weil wir damit den Desinformationsakteuren in die Hände spielen würden. Sie wollen Demokratie unterminieren und den Eindruck erwecken, dass Prozesse wie Wahlen entweder keinen Wert haben oder nicht richtig durchgeführt werden. Lassen Sie mich daher klar sagen, dass diese Wahlen sicher und wichtig sind. Aber natürlich, es gibt ein Risiko, und unsere Aufgabe ist es, dieses Risiko zu beherrschen.

Sie verfolgen die Entwicklungen im Bereich Desinformation wie beispielsweise Künstliche Intelligenz (KI) und Deepfakes seit vielen Jahren. Welche Szenarien machen Ihnen mit Blick auf die Europawahlen am meisten Sorgen?

Der Einsatz von KI ist ja nicht ganz neu in diesem Bereich. Aber er hat aktuell eine neue Qualität erreicht. Denn KI erleichtert die Produktion, das Verteilen und das Amplifizieren – also das Verstärken – von Informationsmanipulation deutlich. Früher konnte man die Aktivitäten von Bots oder von sogenannten Troll-Farmen relativ einfach aufspüren; es wurden beispielsweise sprachliche Fehler gemacht. Heute ist dies schwieriger. Wir müssen uns erst darauf einstellen, wie wir neue Mittel und Instrumente der Manipulation entdecken können und Wege finden, wie wir dagegen vorgehen. All das ist momentan noch sehr reaktiv. Ich hoffe allerdings, das KI auch Teil der Antwort sein wird, etwa durch die Entwicklung von Möglichkeiten, Desinformation aufzuspüren.

Was raten Sie Menschen, die Angst davor haben, auf Desinformation hereinzufallen?

Gerade vor Wahlen wäre meine Empfehlung, nicht nur auf inhaltliche Elemente zu schauen, sondern grundsätzlich auch die Quelle zu hinterfragen. Insbesondere wenn der Ursprung von bestimmten Meldungen, Fotos oder Videos nicht bekannt ist, sollte sich jeder kritisch fragen: Ist das meine Wahl, dass ich diese Informationen konsumiere? Oder ist da jemand anderes, der möchte, dass ich das sehe, ohne dass ich danach gefragt habe? Dies gilt insbesondere auch, wenn eine erhaltene Information deutlich auf ein Individuum oder eine Gruppe zugeschnitten ist.

Zusätzlich gibt es technische Möglichkeiten, wie sich mithilfe von KI Quellen überprüfen lassen. Mit nur wenigen Klicks lassen sich im Internet beispielsweise Bilder zurückverfolgen. Wichtig ist aber auch, dass diese gesunde Skepsis nicht in eine grundsätzliche Medienskepsis ausartet. Wir müssen einfach lernen, kritisch mit Quellen umzugehen. 

Es heißt immer wieder besonders Russland setze Desinformationskampagnen ein – würden Sie auch weiterhin sagen, dass die Hauptbedrohung von Russland ausgeht?

Aus europäischer Sicht ist Russland bei den staatlichen Akteuren noch immer der Aktivste und stellt wahrscheinlich auch das größte Risiko dar. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht auch andere staatliche Akteure in diesem Bereich gibt. Auch Aktivitäten von chinesischen Akteuren dokumentieren wir immer wieder. Insgesamt lässt sich sagen, dass international die Investitionen im Bereich Desinformation steigen und es durchaus sein kann, dass solche Kampagnen in Zukunft nicht nur von den zwei großen Akteuren Russland und China kommen. Dafür müssen wir uns gut aufstellen.

Es gibt in Europa diverse staatliche und auch zwischenstaatlichen Initiativen für die Bekämpfung von Desinformation. Welche Rolle spielt der Europäische Auswärtige Dienst  in diesem Geflecht?

Der Auswärtige Dienst hat seinen ursprünglichen Auftrag, russische Desinformationskampagnen zu bearbeiten, von den Staats- und Regierungschefs im Jahr 2015 erhalten. Dieses Mandat hat sich seitdem erweitert und wir sehen uns mittlerweile alle ausländischen Akteure der Desinformation und Informationsmanipulation an: ihre Taktiken, ihre Techniken, ihre Instrumente. Konkret bedeutet dies, dass wir Desinformationskampagnen aufdecken, analysieren und durch direkte Kommunikation oder Aufklärung darauf reagieren.

Statt Desinformation spricht der Europäische Auswärtige Dienst von FIMI, also „Foreign Information Manipulation and Interference“. Was ist damit genau gemeint?

Desinformation ist ein großes und vielschichtiges Feld. Wir müssen von der Idee wegkommen, dass sie einzig dadurch zu erkennen ist, ob der Inhalt richtig oder falsch ist. Wenn wir uns das Problem eher als Manipulation vorstellen, können wir damit besser umgehen. Deswegen trifft der Begriff der Informationsmanipulationsbekämpfung den Kern unserer Arbeit besser. Die Frage ist dann gar nicht unbedingt, ob der Inhalt faktisch falsch ist, sondern die Art und Weise, wie die Dinge präsentiert werden. Welche Techniken werden für die Manipulation eingesetzt? Wie wird der Inhalt produziert und verteilt? Das sind dann oft Instrumente und technische Mittel, die sich relativ klar benennen lassen. Denken Sie beispielsweise an Bot-Netzwerke und Ähnliches.

Abgesehen von einer gesunden Skepsis und allgemeiner Medienkompetenz, wie kann die Gesellschaft sich gegen die Gefahr von Desinformation wappnen? 

Zuerst müssen wir als Gesellschaft ein klares Verständnis davon haben, welche Gefahr von der Informationsmanipulation ausgeht und wie diese funktioniert. Hier sind wir schon ziemlich weit. Dann gibt es natürlich auch alte Prinzipien, die nun neu in die digitale Welt übersetzt werden müssen, wie die journalistische Sorgfaltspflicht. Also um die Frage, welchen Quellen die Nutzer aus welchen Gründen vertrauen können. Ganz wichtig ist auch, dass das Thema in den entsprechenden Regierungen ernst genommen wird. Momentan ist es eine Querschnittsaufgabe, für die sich niemand so richtig zuständig fühlt. Dies müssen und können wir ändern, da bin ich zuversichtlich.