Interview mit Behindertenbeauftragtem Dusel
Am Samstag starten in Berlin die Special Olympics World Games, die weltweit größte Sportveranstaltung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. Im Interview erzählt Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, worauf er sich am meisten freut – und warum die Spiele dazu beitragen werden, ein Vorurteil zu widerlegen.
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Herr Dusel, wenn Sie die Special Olympics World Games in Berlin besuchen – worauf freuen Sie sich persönlich am meisten?
Jürgen Dusel: Ich freue mich auf ganz vieles. Natürlich zuerst einmal auf die Athletinnen und Athleten und ganz besonders auf die besondere Stimmung bei den Spielen. Diese wird getragen sein von großer Begeisterung, purer Freude und Empathie.
Gibt es eine der 26 Sportarten, die Sie besonders interessiert?
Dusel: Eigentlich interessieren mich alle sportlichen Disziplinen. Aber ganz besonders Schwimmen und Wassersport insgesamt. Ich bin früher selbst im Verein geschwommen und habe deswegen dazu einen ganz besonderen Bezug.
Die Special Olympics sind die weltweit größte inklusive Sportveranstaltung. Was können die Spiele bewirken?
Dusel: Ich denke, dass die Spiele sehr viel bewirken können in Deutschland. Was die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen in unserem Land insgesamt betrifft und natürlich ganz besonders die Teilhabe von Menschen mit Lernbeeinträchtigungen. Es ist das größte Multi-Sportevent in Deutschland seit den Olympischen Spielen 1972. Es finden sportliche Wettkämpfe statt, aber nicht nur das: Es gibt auch Events in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.
Mehr als 200 Städte in Deutschland beteiligen sich an dem „Host-Town Programm“. Dort sind die internationalen Athletinnen und Athleten zu Gast. Das ist eine große Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen und voneinander zu lernen. Es ist wichtig, die Potenziale von Menschen mit Lernbeeinträchtigungen sichtbar zu machen und zu zeigen, dass gemeinsam Sport machen, Lernen, Arbeiten möglich ist – und zwar nicht nur in „Sonder-Situationen“.
Es werden nicht nur sehr viele Zuschauerinnen und Zuschauer bei den Wettbewerben in Berlin und Umgebung erwartet. Auch das mediale Interesse ist groß.
Dusel: Vor Ort wird mit 300.000 Zuschauerinnen und Zuschauern gerechnet. Gleichzeitig gibt es zum ersten Mal in der Mediengeschichte der Bundesrepublik eine Allianz aus öffentlich-rechtlichem, privatem und Bezahlfernsehen. Eine größere Öffentlichkeit hat es für ein Event von Menschen mit Lernbeeinträchtigungen aus meiner Sicht in Deutschland noch nicht gegeben.
Ich habe die Hoffnung, dass das viele Menschen „aufschließt“ und die Spiele eine nachhaltige Wirkung in verschiedenen Bereichen haben werden. Ich selbst arbeite anlässlich der Spiele mit meinem Team an Teilhabeempfehlungen an die Bundesregierung. Sie werden aufzeigen, was Menschen mit Lernbeeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen brauchen, um besser teilhaben zu können. Zum Beispiel bei Arbeit, Bildung oder Gesundheit.
Mehr Informationen zu den Special Olympics World Games (SOWG) finden Sie in unseren FAQ.
7.000 Sportlerinnen und Sportler mit kognitiven Einschränkungen und mehrfacher Behinderung aus der ganzen Welt kämpfen um die Medaillen. Was bedeuten die Spiele für die Athletinnen und Athleten?
Dusel: Am besten fragen Sie da die Athletinnen und Athleten selbst. Ich kann in erster Linie sagen, was sie mir bedeuten und vermute, dass es einigen anderen Menschen und auch einigen Athletinnen und Athleten genauso geht. Das „Dabeisein“ bei den Special Olympics, die Begegnung und der Austausch mit Menschen unterschiedlichster Nationen, der sportliche Teamgeist. All das steht für mich für eine diverse inklusive Gesellschaft, wie wir sie uns auch außerhalb von sportlichen Großereignissen wünschen.
Diese Gesellschaft im Moment der Spiele zu leben und zu zeigen, dass es geht, ist einfach ein unglaublich beglückendes und empowerndes Gefühl. Das Gefühl, wenn wir das hier schaffen – als Individuum und auch als Gesellschaft – dass wir das dann auch in Zukunft schaffen werden. Das werden alle merken, die sich die Spiele anschauen und daran teilnehmen. Es gibt Kraft – den Athletinnen und Athleten, aber auch uns als Gesellschaft! Und auch mir persönlich wird es Kraft geben, weiter für die Inklusion in Deutschland zu arbeiten.
Was beschäftigt Sie denn bei Ihrer Arbeit momentan besonders?
Dusel: Die Spiele werden uns zeigen, dass die Menschen mit Lernbeeinträchtigungen ihre eigenen Positionen haben und wir diese erfragen und berücksichtigen müssen. Das mache ich mit Blick auf die schon erwähnten Teilhabeempfehlungen. Oder auch was die Bezeichnung von „Menschen mit Lernbeeinträchtigungen“ betrifft. Im Gesetz und in der deutschen Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es „Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen/Behinderungen“. „Mensch zuerst e. V.“, die Selbstvertretung der „Menschen mit Lernschwierigkeiten“, fordert aber den Begriff „Menschen mit Lernschwierigkeiten“. Deshalb habe ich zu Beginn dieses Jahres angefangen, mit Fachleuten in eigener Sache darüber zu sprechen, ob die Bezeichnung „geistige Behinderung“ noch zeitgemäß ist. Sprache prägt unser Denken und schafft Realität.
Aus inklusionspolitischer Sicht: Was muss für Menschen mit Behinderungen in Deutschland unbedingt besser werden und warum?
Dusel: In Deutschland leben 13,5 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen, davon werden nur drei Prozent der Menschen mit einer Beeinträchtigung geboren. Alle anderen Menschen erwerben ihre Beeinträchtigung im Laufe des Lebens, die allermeisten nach der Schulzeit. Natürlich ist das Thema Bildung aus inklusionspolitischer Sicht trotzdem total wichtig, da hier die Basis gelegt wird. Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen lernen miteinander. Und ich behaupte, dass es für die Kinder ohne Beeinträchtigungen noch wichtiger ist, andere Perspektiven mitzubekommen.
Jede neue Perspektive macht uns kreativer und offener. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler wussten, dass jemand, der eine Sehbeeinträchtigung hat, zwar nicht gut im Fußball ist, aber ganz gut Klavier spielen kann – und später Jura studiert hat. So konnten sie sich später als Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber vorstellen, Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen.
Hier können Sie dieses Interview auch in Leichter Sprache lesen.
Der Bundesrat hat im Mai ein Gesetz gebilligt, das den inklusiven Arbeitsmarkt fördert. Wie wichtig ist Ihnen dieses Thema?
Dusel: Teilhabe an Arbeit ist und bleibt aus inklusionspolitischer Sicht ein Schlüsselthema. Jeder Mensch wünscht sich eine erfolgreiche und für ihn/sie befriedigende Erwerbsbiographie. In Deutschland gehen rund 1,3 Millionen Menschen mit Schwerbehinderungen einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach – hier sehe ich noch deutlich Luft nach oben. Auch dürfen Wege ins Erwerbsleben nicht vorgefertigt sein – gerade für Menschen mit Lernbeeinträchtigungen. Rund 270.000 Menschen arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es in allen Branchen keinen einzigen Arbeitsplatz gibt, der nicht auch von einer beeinträchtigten Person besetzt werden könnte. Was es dazu braucht ist, dass man Lösungen findet, falls Barrieren bestehen, und dass die Arbeitsbedingungen auf das Individuum angepasst werden. Man muss es wollen. Deswegen müssen wir unsere Vorurteile über Bord werfen.
Das größte Vorurteil ist: „Menschen mit Beeinträchtigungen sind nicht so leistungsfähig wie Menschen ohne Beeinträchtigungen.“ Das ist Unfug. Ich bin davon überzeugt, dass die Special Olympics World Games auch dazu beitragen werden, dieses Vorurteil zu widerlegen. Die Spiele werden zeigen, zu welchen Leistungen Menschen mit Lernbeeinträchtigungen fähig sind. Und das wird nachhaltig beeindruckend sein.
Zur Person: Jürgen Dusel (58) ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Seine Amtszeit steht unter dem Motto „Demokratie braucht Inklusion“. Die Schwerpunkte in dieser Legislaturperiode sieht Dusel unter anderem in der gleichberechtigten Teilhabe am Arbeitsleben und dem Abbau von Barrieren in den Bereichen Wohnen, Mobilität und Gesundheit. Mehr Informationen finden Sie auf der Website des Bundesbeauftragten für die Belange der Menschen mit Behinderung.