Interview des Kanzlers mit der BILD-Zeitung
Deutschland gehört zu den stärksten Unterstützern der Ukraine weltweit, erklärt Bundeskanzler Scholz im Interview mit der BILD-Zeitung. Er betont, dass der Bruch der Friedensordnung keinen Erfolg haben darf. Deutschland habe entschlossen gehandelt und wird sich auch künftig eng mit seinen Partnern abstimmen. Das Interview in ganzer Länge.
- Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz
- BILD
Herr Bundeskanzler, vor einem Jahr begann Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. Haben Sie wegen des Kriegs geweint?
Bundeskanzler Olaf Scholz: Es zerreißt einem das Herz. Unglaublich viele Menschen sind gestorben. Kinder, Frauen, Männer. Und, was wir nicht vergessen sollten: Soldaten, auf beiden Seiten. Für einen Krieg, den der russische Präsident vom Zaun gebrochen hat, um sich ein großes Stück der Ukraine einzuverleiben.
Wann wurde Ihnen der Horror des Kriegs bewusst?
Scholz: Dass dies ein furchtbarer Krieg wird, war mir vom ersten Tag an klar. Bei meinem Besuch in der Ukraine im Juni habe ich den Horror des Krieges unmittelbar gespürt – als ich Autos mit durchsiebten Scheiben sah. Familien hatten in den Fahrzeugen vor den Kämpfen fliehen wollen und wurden erschossen. Diese Bilder werden mir immer in meinem Kopf bleiben.
Wer ist für Sie da, wenn Sie mit solchen Eindrücken zurückkehren?
Scholz: Meine Frau und ich haben eine sehr enge und lange Beziehung, das trägt mich und hilft. Und ich kann mit meinen Freundinnen und Freunden offen sprechen.
Wie schlafen Sie nachts?
Scholz: Ich schlafe… (Pause) …meistens sowieso nicht lang.
US-Präsident Joe Biden hat erklärt, die Ukraine habe „einen Platz in meinem Herzen“. Wie ist das bei Ihnen?
Scholz: Die Ukraine verdient unsere Unterstützung und unsere Solidarität. Sie hat einen Platz in unseren Herzen – auch in meinem.
Der Eindruck ist ein anderer: Die Bundesregierung stand bei Waffenlieferungen lange auf der Bremse. Warum?
Scholz: Ihr Eindruck ist falsch. Deutschland hat entschlossen gehandelt. Drei Tage nach Kriegsbeginn haben wir mit einem jahrzehntealten Tabu gebrochen und Waffenlieferungen für die Ukraine beschlossen – auf meine Initiative. All unsere Entscheidungen haben wir seither stets gut vorbereitet und eng abgestimmt mit unseren wichtigsten Verbündeten. Deutschland zählt zu den stärksten Unterstützern der Ukraine weltweit. Wir liefern Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer, den Flakpanzer Gepard, das System IRIS-T, die Patriot-Abwehrsysteme sowie Schützen- und Kampfpanzer. Manche Staaten rufen lauter, liefern aber weniger.
Ein Teil der Bevölkerung ist gegen Waffenlieferungen.
Scholz: Denen, die skeptisch sind, sage ich: Man kann ein Land, das brutal angegriffen wird, nicht alleine lassen. Der Bruch unserer Friedensordnung darf keinen Erfolg haben. Aber: Alle können sicher sein, dass wir nicht vorschnell oder allein handeln, sondern uns eng mit unseren Partnern abstimmen.
Haben Sie Angst vor Waldimir Putin?
Scholz: Niemand muss sich fürchten. Wir sind durch eine starke Bundeswehr und starke Verbündete geschützt.
Erreichen Sie Putin in den Telefonaten überhaupt noch?
Scholz: In unseren Gesprächen ist immer deutlich geworden, wie unterschiedlich unsere Sichtweisen sind. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis, sie bedroht niemanden. Russland hatte überhaupt keinen Anlass zur Besorgnis. Der Krieg ist ein Irrsinn. Das erkläre ich Putin immer wieder, zuletzt im Dezember. Und ich werde meine Bemühungen fortsetzen.
Ist Putin zurechnungsfähig?
Scholz: Man sollte immer davon ausgehen, dass Putin will, was er sagt.
Weiß Putin überhaupt, was in der Ukraine wirklich los ist?
Scholz: Weiß ich nicht. In unseren Telefonaten schildere ich ihm, wie sehr die Ukraine zusammenhält und dass sie nicht von ihm erobert werden will. Ich berichte ihm über die Zerstörungen in der Ukraine und die Verluste, die der Krieg auch auf russischer Seite verursacht. Ob er das hören will, steht auf einem anderen Blatt.
Ist Putin ein Kriegsverbrecher?
Scholz: Dieser Krieg ist ein Verbrechen und deshalb ist es gut, dass die internationalen Institutionen, die Ukraine und auch wir die Kriegsverbrechen dokumentieren, damit die Verantwortlichen herangezogen werden können.
Vor Kriegsbeginn haben sich mehrere Sozialdemokraten ziemlich verschätzt, wie die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken, die jubelte, dass dank Ihrer Diplomatie die Russen von der Grenze abziehen würden. Wie konnte das passieren?
Scholz: Ich habe mir keine Illusionen über das Russland unserer Zeit gemacht. Lange vor meiner Zeit als Bundeskanzler habe ich das 2016 in Sankt Petersburg auch klargemacht: Niemand wird durch die Freiheit und die Demokratie Europas bedroht, Russland muss akzeptieren, dass in seiner Nachbarschaft eine Gemeinschaft liberaler Staaten entsteht. Und dass kein Weg an der Zusammenarbeit mit der EU und der NATO vorbeiführt.
Wenn das seit Jahren so klar war, warum hatte Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern engste Drähte nach Russland, warum mussten dort, wie wir heute wissen, heimlich Papiere verbrannt werden? Warum hat die Regierung mit Ihnen als Vizekanzler so lange darauf gedrungen, Nord Stream II weiterzubauen?
Scholz: Kaum jemand hat sich Illusionen über Russland gemacht. Weder nach dem Tschetschenienkrieg, noch nach der Annexion der Krim. Es wurden schon damals zurecht Sanktionen verhängt. Wir hätten früher LNG-Terminals in Norddeutschland bauen sollen, wie ich damals gefordert hatte, um Abhängigkeiten in Energiefragen zu vermeiden. Umso wichtiger war es, dass wir es nun innerhalb weniger Monate geschafft haben, uns unabhängig zu machen von Kohle-, Erdöl- oder Erdgas-Lieferungen aus Russland.
Vor circa fünf Monaten wurde die Pipeline Nordstream 2 gesprengt. Die Täter sind bisher nicht ermittelt. Wer steckt aus Ihrer Sicht dahinter?
Scholz: Bei der Beantwortung dieser Frage sollten wir uns streng an die rechtsstaatlichen Kriterien halten. Es ist Sache des Generalbundesanwalts und der Sicherheitsbehörden, dies sorgfältig aufzuklären.
Brauchen wir für besseren Zusammenhalt in der Gesellschaft eine allgemeine Dienstpflicht?
Scholz: Die Wehrpflicht hat Verteidigungsminister Guttenberg vor zwölf Jahren ausgesetzt. Die Bundeswehr wurde zu einer Berufsarmee umgebaut. Daher gibt die Rückkehr zur Wehrpflicht keinen Sinn. Daran geknüpft ist die Frage der Dienstpflicht.
Würden Sie heute noch einmal den Wehrdienst verweigern?
Scholz: Klare Antwort: Nein. Als Bundestagsabgeordneter habe ich die Bundeswehr in sehr viele Einsätze geschickt – da wäre es unlogisch, wenn ich den Wehrdienst heute noch kritisch sehen würde.
Nach Kriegsbeginn sind die Preise für Strom und Gas an den Märkten explodiert, mittlerweile liegen sie wieder auf Vorkriegsniveau. Wann werden die Verbraucher davon spürbar profitieren?
Scholz: Je mehr wir z.B. unsere LNG-Kapazitäten ausbauen, umso mehr können die Preise sinken. Und ich erwarte, dass die Energie-Unternehmen die Situation jetzt nicht ausnutzen und Sondergewinne machen.
Rund eine Million Ukrainer sind in Deutschland. Sollen die auch nach Kriegsende bleiben oder beim Wiederaufbau ihres Landes helfen?
Scholz: Mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind zu uns gekommen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere. Und ganz viele haben den Wunsch, nach dem Krieg in ihre Heimat zurückzukehren. Doch noch kann niemand voraussagen, wann der Krieg endet und wie es dann in dem Land aussehen wird. In Deutschland brauchen wir dringend Arbeitskräfte und geben allen, die hier bei uns rechtmäßig Schutz finden, eine Beschäftigungsmöglichkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Was halten Sie von Wagenknecht und Schwarzers Manifest?
Scholz: Davon bin ich überhaupt nicht überzeugt. Am Ende des Krieges werden Friedensverhandlungen stehen, wie auch Präsident Selensky immer sagt. Jetzt bloß Verhandlungen zu fordern, macht keinen Sinne. Das blendet aus, dass der russische Präsident weiterhin nur ein Ziel hat: einen Diktatfrieden, der ihm große Teile der Ukraine zuschlägt – dazu darf es nicht kommen.
Wie sehr stört es Sie, dass Frau Baerbock immer wieder vorprescht und Sie wie ein Zauderer dastehen?
Scholz: Mein Kurs hat breite Unterstützung gefunden. Das ist ein Erfolg der gesamten Bundesregierung.
Auf dem Weg zu Ihnen fährt man an zwei russischen Panzern vorbei, Teil eines Mahnmals. Sollen sie in Anbetracht der Lage stehen bleiben?
Scholz: Die Panzer sind für mich Teil eines Gedenkortes, der den Einsatz sowjetischer Truppen im Kampf gegen die Nazis richtigerweise würdigt.