„Es ist an der Zeit, sich für dieses menschliche Europa einzusetzen"

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Interview mit Clément Beaune „Es ist an der Zeit, sich für dieses menschliche Europa einzusetzen"

Frankreich hat am 1. Januar turnusmäßig für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union übernommen. Sie steht unter dem Motto: „Aufschwung, Stärke, Zugehörigkeit". Frankreichs Staatssekretär für europäische Angelegenheiten Clément Beaune erklärt im Interview zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft, was genau sich Frankreich vorgenommen hat – und warum er sich besonders für deutsche Geschichte interessiert. 

4 Min. Lesedauer

Clément Beaune est Secrétaire d’Etat chargé des Affaires européennes. En même temps, il est Sécrétaire général pour la coopération franco-allemande.

Clément Beaune ist Staatssekretär für europäische Angelegenheiten. Zugleich ist er Beauftragter für die deutsch-französischen Beziehungen. 

Foto: Ministerium für Europa und auswärtige Angelegenheiten

Am 1. Januar übernimmt Frankreich turnusgemäß den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Welche Prioritäten hat sich Frankreich gesetzt?

„Aufschwung, Stärke, Zugehörigkeit“, so lautet das Motto der französischen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union. Diese drei Worte fassen die Prioritäten, die wir uns für die kommenden sechs Monate zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2022 vorgenommen haben, sehr gut zusammen. „Aufschwung“ bedeutet, Europa aus der Krise zu führen, den Wiederaufbau unserer Volkswirtschaften fortzusetzen und zugleich den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu beschleunigen. „Stärke“ bedeutet, Europa stärker zu machen, damit es auf der internationalen Bühne mit dem ihm gebührenden Gewicht  agieren kann. Und „Zugehörigkeit“ steht für unser Anliegen, den Zusammenhalt in Europa zu verbessern, insbesondere im sozialen Bereich mit den Schwerpunkten Jugend und Verteidigung unserer Werte.

Die „europäische Souveränität“ spielt nach wie vor eine wichtige Rolle. Was versteht man darunter?

Wir leben in einer Zeit, die durch den Verlust von Gewissheiten und die Neudefinition internationaler Beziehungen gekennzeichnet ist. Es ist klar, dass Europa über die Zusammenarbeit innerhalb seiner Grenzen hinaus zu einem Europa werden muss, das in der Lage ist, seine Interessen und Überzeugungen nach außen zu verteidigen und dabei absolut souverän, frei in seinen Entscheidungen und in seiner Bestimmung über das eigene Schicksal zu sein. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung, um zum einen die Sicherheit der Europäer und Europäerinnen zu gewährleisten und zum anderen im internationalen Wettbewerb der Systeme bestehen zu können.

Sie wünschen sich ein „Europa mit menschlichem Antlitz“. Was verstehen Sie darunter und wie soll das aussehen?

Europa ist mit einer bestimmten Vorstellung vom Menschen verbunden. Auf unserem Kontinent haben Demokratie, Humanismus, der Geist der Aufklärung und die Menschenrechte ihren Ursprung. Aufgrund dieser besonderen Geschichte ist die Berufung, diese Vorstellung vom Menschen zu verteidigen, tief in uns verwurzelt. Das gilt im Übrigen nicht nur nach außen hin. Auch intern werden die liberalen und sozialen Grundlagen unseres Modells in Frage gestellt. Darauf müssen wir reagieren, indem wir die Singularität unserer Geschichte betonen und ein starkes soziales Europa schaffen, beispielsweise durch die Initiativen für einen europäischen Mindestlohn und für die Lohntransparenz. Es ist an der Zeit, sich für dieses menschliche Europa einzusetzen.

2022 ist das Jahr der Jugend. Welche Schwerpunkte möchte Frankreich während seiner Präsidentschaft in Bezug auf die Jugend setzen?

2017 hat sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Rede an der Sorbonne für die Ausweitung des Erasmus-Programms auf alle jungen Europäerinnen und Europäer ausgesprochen, denn dieses Programm fördert Offenheit und Aufgeschlossenheit als immens wichtiges Rüstzeug für das Erwachsenenleben. Wir haben es bereits auf die Auszubildenden ausgeweitet und die Zahl der Begünstigten schon verdoppelt. Frankreich schlägt vor, noch weiter zu gehen und über einen europäischen Freiwilligendienst nachzudenken, der allen jungen Menschen unter 25 Jahren sechs Monate lang für einen Universitäts- oder Ausbildungsaustausch, ein Praktikum oder die Mitarbeit in einem Verein offensteht. Am 9. Mai 2021 startete in Frankreich die Online-Befragung „Parole aux jeunes“, bei der sich 50 000 junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren äußern können. Die Ergebnisse werden im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas veröffentlicht, deren Abschluss im Mai 2022 einen Schlüsselmoment der französischen EU-Ratspräsidentschaft darstellen wird.

Welche Schlussfolgerungen hoffen Sie, aus der „Konferenz über die Zukunft Europas“ ziehen zu können?

Die Konferenz über die Zukunft Europas bietet allen Bürgerinnen und Bürgern Europas die einmalige Möglichkeit, direkt ihre Ideen, Wünsche und Kritikpunkte im Hinblick auf Europa zum Ausdruck zu bringen und ihr Bild des Europas von morgen zu zeichnen. Die ersten Arbeitsergebnisse der Regionalkonferenzen in Frankreich zeigen, dass die französischen Bürgerinnen und Bürger engagiert, gut informiert und voller Ideen sind. Ich bin sicher, dass dies in allen Mitgliedstaaten der Fall ist und dass uns die Ergebnisse der Konferenz den nötigen Schwung verleihen werden, um die Europäische Union in den kommenden Jahren tiefgreifend zu reformieren und diesen Kraftakt zu meistern.

Das deutsch-französische Verhältnis war für das europäische Projekt schon immer von großer Bedeutung. Wie charakterisieren Sie dieses Verhältnis heute? Wie kann es die Entwicklung Europas voranbringen?

Rund um das deutsch-französische Tandem ist alles in Veränderung begriffen, auch innerhalb der Europäischen Union, aber es bleibt dabei, dass ein deutsch-französisches Einverständnis unabdingbar ist, um weiter voranzukommen. Um diese Kompromisse zu erzielen, stützen wir uns auf eine Vielzahl deutsch-französischer Institutionen, die aufgrund der unterschiedlichen Ansätze erforderlich sind, und auf eine einzigartige Arbeitsweise in Gestalt regelmäßiger Treffen auf praktisch allen Ebenen der Verwaltung. Was unsere Zusammenarbeit so einzigartig macht ist der Wille, zu einer Einigung zu kommen, aus historisch evidenten Gründen, aber auch aufgrund der Erfahrung, dass dies in unserem jeweils eigenen Interesse und auch im Interesse eines europäischen Gemeinwohls liegt, nämlich in Frieden und Wohlstand. Um es klar zu sagen: Ein deutsch-französisches Einverständnis reicht nicht aus, um auf europäischer Ebene Entscheidungen durchzusetzen, aber umgekehrt ist es so, dass es sich auf die gesamte Union nachteilig auswirkt, wenn der deutsch-französische Motor stottert.

Was verbindet Sie persönlich mit Deutschland?

Als Kind gehörte eine Berlin-Reise mit meinen Eltern kurz nach dem Mauerfall zu den Ereignissen, die mich am meisten beeindruckt haben. Durch diese Reise begann ich, mich intensiv mit Geschichte zu befassen, mit der Geschichte Deutschlands, mit den Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, mit der Geschichte von ganz Europa. Aus dieser Reise rührt mein großes Interesse an Deutschland. Im Laufe der Jahre konnte ich dank der engen Zusammenarbeit mit meinen deutschen Kollegen zahlreiche Freundschaften schließen.