"Solidarität bringt Europa näher zusammen“

 Slowenische Perspektive auf 30 Jahre Deutsche Einheit "Solidarität bringt Europa näher zusammen“

Die Wiedervereinigung Deutschlands habe gezeigt: "Egal, was oder wie unterschiedlich unsere Vergangenheit war, unsere Zukunft wird gemeinsam sein", sagt die slowenische TV-Korrespondentin Polona Fijavž im Interview. Damals wie heute sieht sie Solidarität als Schlüssel: Nur solidarisch könne Europa die Herausforderungen der Corona-Pandemie bewältigen und auch weiter zusammenwachsen.

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Porträt einer jungen Frau.

Polona Fijavž ist seit 2015 in Berlin Korrespondentin von RTV Slowenien, dem öffentlichen slowenischen Fernseh- und Radiosender.

Foto: Screenshot/Bundesregierung

Was ist das Erste, was Ihnen einfällt, wenn Sie an Deutschland denken – verbinden Sie eine persönliche Anekdote mit unserem Land?

Polona Fijavž: Wenn ich an Deutschland denke, ist der erste Gedanke Verantwortung, das Bewusstsein, wie wichtig jeder Einzelne ist und der Respekt für- und voreinander. Ich denke daran, wie pünktlich die Deutschen sind – mit Ausnahme der Züge. Und wie sie wissen, was sie wollen und wie sie darauf hinarbeiten.

Ich finde es allerdings immer noch komisch, wie die Deutschen alles im Voraus planen, Monate, Jahre, sogar Jahrzehnte im Voraus. Aber die Wiedervereinigung konnte auch die Deutschen nicht planen.

Wie erleben Sie das geeinte Deutschland nach 30 Jahren Wiedervereinigung?

Fijavž: Noch heute erlebe ich das geeinigte Deutschland als totales Unicum in der Welt. Es ist immer noch nicht ganz zusammen gewachsen, was zusammen gehört. Doch nur wer tiefe Einblicke hat, kann einen Unterschied erkennen. Ich glaube, dass die ehemaligen Ostdeutschen, die älteren Generationen, noch immer Schwierigkeiten haben, sich einzufügen, da Westdeutschland ihr Land quasi übernommen hat. Es ist trotzdem erstaunlich, wie sie es geschafft haben, sich mit einem völlig anderen System zu synchronisieren.

Und der Schlüssel damals war die Solidarität. Das hat Deutschland erkannt und hat das auf die europäische Ebene verschoben. Dies zeigt zum Beispiel auch die momentane Coronakrise: Nur Solidarität kann Europa näher zusammenbringen. Das finde ich ganz wichtig, weil Deutschland eine wichtige Rolle für Europa hat. Deutsche Politiker sind in der Lage, den Ton zu verändern. Statt nationale Egoismen zu verteidigen, verfolgen sie eine ehrgeizige Politik für Europa. Was im kleineren Maßstab mit Ostdeutschland begann – nämlich, dass zusammen wächst, was zusammen gehört – wächst nun in Europa weiter zusammen.

Welche Wirkung hatte die Wiedervereinigung in Deutschland Ihrer Meinung nach auf Europa?

Fijavž: Die Wiedervereinigung Deutschlands hat uns allen etwas Wichtiges gezeigt: Egal, was oder wie unterschiedlich unsere Vergangenheit war, unsere Zukunft wird gemeinsam sein: Ost- und Westdeutschland mit zwei diametralen entgegengesetzten Systemen konnten zusammenwachsen. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass auch Europa mit seiner unterschiedlichen Geschichte, Perspektiven, auch unterschiedlichen Meinungen, zusammenwachsen kann – mit etwas Solidarität.

Was bedeutet Deutschland konkret für Ihr Heimatland – kennen Sie die Wünsche an Deutschland für die Zukunft?

Fijavž: Ich denke, dass Deutschland in Slowenien für Stabilität steht und in vielen Bereichen immer noch als Vorbild gilt. Wir fragen uns immer wieder: Wie funktioniert das in Deutschland. Wie wird das eigentlich in Deutschland gemacht? Und wir gehen selbstverständlich davon aus, dass es uns gut geht, solange es Deutschland gut geht. Solange Deutschland eine Perspektive, einen Plan hat, solange es Europa als einen Organismus sieht. Deutschland gibt sehr oft anderen Ländern eine Orientierung. Selbst wenn wir auf dem Weg ausrutschen, wir haben Deutschland immer irgendwie am Horizont.

Deutschland ist als so mächtiger Staat Europas ein wichtiger Leuchtturm in der Welt. Dies gilt gerade in Fragen des Sozialstaats, der öffentlichen Gesundheit und des Schulwesens. In Slowenien und auch in den anderen Ländern Europas wünschen wir uns ein mutigeres Deutschland, das manchmal mehr Verantwortung und Führung übernimmt.

Was ist Ihrer Meinung nach die größte Schwäche und die größte Stärke der Deutschen?

Fijavž: Die größte Schwäche ist die Überheblichkeit der Deutschen. Manchmal glauben sie, ihr Weg sei der einzig Richtige. Sie sehen sich selbst als härtere Arbeiter als andere und schauen von oben herab auf Südeuropa. Im restlichen Europa wäre man zutiefst dankbar und glücklich, wenn die Deutschen erkennen würden, dass wir in Europa gerade durch unsere Verschiedenartigkeit großartig sind. Dass es unsere Stärke, unser Glück und unser Zugewinn ist, dass die Dinge anderswo anders funktionieren und dass dies so in Ordnung ist.

Die größte Stärke der Deutschen ist ihr gesunder Menschenverstand und ihr Respekt gegenüber anderen Menschen. Wir brauchen Deutschland, um diesen Respekt vor- und füreinander zu bewahren, und um die anderen in Europa daran zu erinnern, wenn sie ihn verlieren.

Was wünschen Sie den Deutschen abschließend für die nächsten 30 Jahre Einheit?

Fijavž: Ich wünsche den Deutschen, dass sie in den nächsten 30 Jahren die Menschenrechte, die Arbeitnehmerrechte, die Demokratie, die freien Medien, den Sozialstaat und die öffentliche Gesundheit verteidigen – also die Werte, auf denen Europa aufgebaut wurde. Deutschland als stärkste europäische Nation zeigt uns, dass dies jeden einzelnen Tag möglich und machbar ist. Dieses vereinte Deutschland bleibt ein Protagonist für ein vereintes Europa, um demokratisch und verantwortungsbewusst zu bleiben, so wie sie es jetzt sind.

Polona Fijavž ist seit 2015 in Berlin Korrespondentin von RTV Slowenien, dem öffentlichen slowenischen Fernseh- und Radiosender. Sie berichtet nicht nur über Deutschland, sondern auch über Polen, Island und Tschechien. Zuvor war sie 15 Jahre ebenfalls für RTV Slowenien für die Auslandsberichterstattung über den östlichen Mittelmeerraum – Türkei, Zypern, Bulgarien – zuständig. Zudem war Fijavž Redakteurin und Moderatorin der Auslandsnachrichtensendung Globus zur Hauptsendezeit und berichtete regelmäßig für den CNN World Report. Sie studierte Philosophie und Soziologie in Ljubljana.